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Bildungsgerechtigkeit

Eine religionspädagogische Herausforderung

AutorBernhard Grümme
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl254 Seiten
ISBN9783170242203
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis30,99 EUR
Dieses Buch begreift Bildungsgerechtigkeit als eine höchst brisante Herausforderung für die Religionspädagogik. Die Darstellung wird strukturiert durch den methodischen Dreischritt von Sehen - Urteilen - Handeln. Sie lässt sich zunächst von Empirie belehren, führt dann aber eine breite Auseinandersetzung mit philosophischen, sozialphilosophischen und theologischen Gerechtigkeitstheorien, die als Anlauf für einen konstruktiven religionspädagogischen Zugang zur Bildungsgerechtigkeit dienen. Bildungsgerechtigkeit ist vor allem auch in materialer Hinsicht Thema religiöser Lern- und Bildungsprozesse, der Religionsunterricht insbesondere ein spezifischer Raum der Bildung zur Gerechtigkeit. Exemplarisch soll dies in einer Unterrichtssequenz und an einem kindertheologischen Zugang zu bildungsfernen Kindern dokumentiert werden.

Prof. Dr. Bernhard Grümme lehrt Religionspädagogik und Katechetik an der Ruhr-Universität Bochum.

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Leseprobe

0 Einleitung


„Nach dem Abitur möchte ich nach Mexiko, San Christobal de las Casas, um dort im Rahmen eines Freiwilligen Sozialen Jahres in einer Kindertagesstätte mit Kindern aus mittellosen indigenen Familien zu arbeiten. Da ich selbst das Glück hatte, ohne Probleme an Bildung zu kommen, möchte ich dieses Privileg weitergeben, um Kindern einen Weg aus der Armut zu ermöglichen. Ich will mich außerdem mit meinen tänzerischen, musikalischen und kreativen Fähigkeiten einbringen und so das Selbstwertgefühl und die sozialen Kompetenzen der Kinder stärken, ihnen die Möglichkeit geben, ihre Fähigkeiten und Talente zu entwickeln, und die Kinder mit Freizeitangeboten begeistern. Die Kindertagesstätte sorgt nicht nur dafür, dass die Kinder zur Schule gehen, sondern fördert nachmittags sowohl das Wissen der Kinder als auch soziale Kompetenzen, Talente und Fähigkeiten. Die Kinder bekommen eine warme Mahlzeit, lernen Körperhygiene, und auch Spiele, Sport und Workshops sind Bestandteil des Programms. Durch meine Arbeit will ich ein Signal setzen, dass es wichtig ist, sich für mehr Frieden und Gerechtigkeit in der Welt zu engagieren“ (Dieterich u. a. 2009, 69).

Was die Schülerin Ronja G. hier über ihre Zukunftspläne zu Papier bringt, führt mitten in eine Diskussion, die in letzter Zeit mit Vehemenz entbrannt ist: Bildung wird aus der Sphäre des Vertrauten, des Überkommenen und beinahe schon Selbstverständlichen heraus genommen und mitten hinein in den Gegensatz von Armut und sozialer Privilegierung gestellt. Bildung ist nicht immer schon als Angebot für alle da. Bildung muss nicht bloß durch die mehr oder weniger Interessierten angeeignet und vollzogen werden. Nein, Bildung rückt in die Sphäre von Gerechtigkeit – und dies in zweierlei Hinsicht. Einerseits kann Bildung mit Vorrechten zu tun haben, mit ungebührlicher Bevorzugung, aber ebenso auch mit Benachteiligung. Und es gibt den Ausschluss von Bildung. Zudem wird Bildung in ihren verschiedenen Facetten und Voraussetzungen als Weg zur Überwindung von Armut diskutiert.

Andererseits gewinnen Ronjas Äußerungen ihre besondere Überzeugungskraft dadurch, dass sie einen rein theoretischen Gerechtigkeitsdiskurs überwindet. Mit ihrem Engagement für die Bildung anderer als Beitrag zu Frieden und Gerechtigkeit bezeugt sie bereits diese Gerechtigkeit und lässt diese performativ Realität werden.

Gleichwohl nimmt Ronja damit etwas in Anspruch, dessen Implikationen jedoch alles andere als selbstverständlich vorausgesetzt werden können. Mag auch manches daran zunächst intuitiv einleuchten, ist insbesondere der Gerechtigkeitsbegriff klärungsbedürftig. Was ist überhaupt gerecht? Über Gerechtigkeit spricht man derzeit in verschiedenen Zusammenhängen mit besonderer Heftigkeit: Gerechtigkeit im zwischenmenschlichen Austausch, was schon im Streit kleiner Kinder um ihr Spielzeug beginnt, Gerechtigkeit zwischen den Nationen, Kulturen und Gesellschaften im Weltmaßstab, Gerechtigkeit im Umgang mit den natürlichen Ressourcen, Gerechtigkeit als Verhalten oder gar Haltung eines Menschen. Eine Frage der Gerechtigkeit entsteht auch bei der Zumessung von Gehältern. So hat im März 2012 die OECD festgestellt, dass bei 34 Mitgliedsstaaten das Gehalt von Männern im Durchschnitt um 16 %, in Deutschland dagegen um 21 % höher ist als das von Frauen (Spiegel-Online 2012).

Doch ist es eine Frage der Gerechtigkeit, wie es den Kindern in der Schule ergeht? Alle haben doch von vornherein während des Unterrichts, so könnte man meinen, die gleichen Chancen. Alle sitzen gemeinsam in der selben Unterrichtsstunde, jeder hat die gleichen von der Schule bereitgestellten Materialien, jeder hat die Möglichkeit, durch Beiträge, durch Projekte sich einzubringen, jeder bekommt doch bei Hausarbeiten oder Klassenarbeiten die gleiche Aufgabe. Sieht man aber genauer hin stellt sich die Sache anders dar. Nach Ausweis der Bildungssoziologie lassen sich die Unterrichtenden mehrheitlich in ihren Selbstkonzepten, ihren Unterrichtsansätzen und ihrem „elaborierten Code“ von dem Bild eines mittelstandsbezogenen Schülers leiten. Sie können sich als Mitglied des bürgerlichen Mittelstands oft kaum vorstellen, dass in vielen Familien, auch von Gymnasialschülern, nicht einmal ein Schreibtisch vorhanden ist (Vorholt 2011, 104). Auch die OECD hat in der PISA-Studie mit erheblicher Vehemenz darauf hingewiesen: Nicht nur in Lebenswelt, in Wirtschaft und Politik, nein auch und gerade in der Bildung gibt es ein massives virulentes Gerechtigkeitsproblem. Dies hat die OECD noch in ihrer neuerlichen Studie „Bildung auf einen Blick“ wiederholt betont (OECD 2012).

Bildungsungerechtigkeit ist nicht allein ein massiver politischer und ökonomischer Skandal. Es handelt sich hier um eine Form der „Kollateralexklusion“ und damit um eine der „strukturellen Gewalt“ (Schönig 2009, 47). Damit ist die Tatsache gemeint, dass die Bildungsungerechtigkeit, unter der Kinder und Jugendliche leiden, Bestandteil und Folge jener Exklusion durch Armut und fehlende gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe ist, die bereits deren Eltern prägt. Die Exklusionsforschung widmet sich jenen Mechanismen, die für den Ausschluss von Teilhabe und von Rechten verantwortlich sind. Exklusion ist „demzufolge als eine Gleichzeitigkeit von Drinnen und Draußen zu verstehen. Es bedeutet, Teil einer Gesellschaft zu sein und dennoch die Erfahrung machen zu müssen, nicht dazuzugehören“ (Callies 2008, 256). Genauer: Man kann aufgrund „bestimmter Kriterien des Ausschlusses, die mit dem Legalitätsstatus, der Sozialkompetenz, dem Bildungsabschluss oder der Kulturaffinität zusammenhängen, gar nicht erst ins Spiel kommen, man kann andererseits aber auch durch bestimmte Umstände der Stigmatisierung, Degradierung und Ignorierung aus dem Spiel fallen“ (Bude 2008, 255).

Solche Ausschlusserfahrungen können in sehr verschiedenen Lebensbereichen erfolgen: Ausschluss aus sozialen und kulturellen Netzen, Ausschluss von einem Mindestsockel an Wohlstand, Ausschluss vom Arbeitsmarkt. Die soziologische Exklusionsforschung hat dementsprechend auch das Bildungsphänomen als Forschungsfeld entdeckt und sich etwa den Exklusionsmechanismen bei „ausbildungsmüden Jugendlichen“ (Bude 2008, 27) zugewandt. Exklusion drängt schon allein wegen der damit nicht selten verbundenen, teilweise traumatischen Beschämungserfahrungen pädagogisch wie religionspädagogisch zu einer näheren Auseinandersetzung (Haas 2013; Mette 2010).

In solchen Exklusionserfahrungen ereignet sich das, was Avishai Margalit ‚Demütigung‘ nennt. Damit sind „alle Verhaltensformen und Verhältnisse“ gemeint, die „einer Person einen rationalen Grund geben, sich in ihrer Selbstachtung verletzt zu sehen“ (Margalit 2012, 21). Demgegenüber ist Margalit um eine Kultur der Achtung, der Würdigung bestrebt. Über rein formale Theorien der Gerechtigkeit, die in seinen Augen lediglich Güter nach Gerechtigkeitsmaßstäben verteilen, profiliert er eine Politik der Achtung. Deren Ziel ist weniger eine gerechte Gesellschaft als eine „anständige Gesellschaft“, die über das mikroethische Zusammenleben der Menschen hinaus sich mit der Organisation einer Gesellschaft im Ganzen beschäftigt, also auch deren Institutionen und Strukturen im Blick hat (Margalit 2012, 13).

Ein wesentliches Moment der Demütigung ist die Armut. Diese freilich allein durch eine, vom Gefühl des Mitleids gespeiste, Wohlfahrt aus der Welt zu schaffen, hält Margalit für zusätzlich entwürdigend. Verbunden mit einem unterschwelligen Überlegenheitsgefühl artikuliert sich eine „Wohlfahrtsgesellschaft als demütigende Gesellschaft“ (Margalit 2012, 228).

In der Armut geht es nicht primär um monetäre Armut, sondern um sozialen Ausschluss. Der Armutsbegriff ist sozial, kulturell und ökonomisch konstruiert, was dessen Definition erheblich erschwert (Huster u. a. 2008, 39–220; Huster u. a. 2009, 48–59; Wilhelms 2010, 161). Schon Thomas von Aquin kommt zu einem weiten Armutsbegriff: „Arm sind Menschen, die immer oder zeitweise in einem Zustand der Schwäche, der Bedürftigkeit, des Mangels leben, wobei es nicht nur um das Fehlen physischer Kraft und materieller Güter (Geld, Nahrung, Kleidung) geht, sondern insgesamt um einen Mangel an sozialer Stärke, die ein Ergebnis ist von sozialem Ansehen und Einfluss, Waffengewandtheit und Rechtspositionen, von Gesichertsein durch soziale Bindungen, aber auch von Wissen und politischer Macht“ (Kuhlmann 2008, 302). Mag auch Waffengewandtheit nicht mehr zu den erstrebenswerten Kompetenzen zählen, so wird doch deutlich, worin vor allem das Problematische von Armut liegt. Es geht um Anerkennungsverweigerung, um nicht vorhandene Teilhabe, es geht vom Capabilityansatz Amartya Sens aus gedacht um einen „Mangel an Verwirklichungschancen“ (Motakef 2007, 101). Bildung und Armut stehen dabei in einem Interdependenzverhältnis (Butterwegge 2009, 17–18).1 Von Bildungsarmut ist die Rede (Allmendinger 1999, 35–50; Sandkötter 2010, 14–17). Kinder in Armutsverhältnissen laufen in einem großen Maße Gefahr, in ihrer Schullaufbahn Benachteiligungen zu erfahren. Umgekehrt mindert geringe Bildung die Chance zu sozialem Aufstieg und gesellschaftlicher Teilhabe (Büchner 2008, 147; Kuhlmann 2008, 301–319). Dies schlägt sich im Schulsystem wie auch im Wissenschaftssystem nieder (Allmendinger 2009, 143–153; Allmendinger 2012).

Neben der Exklusionsfrage und dem...

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