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Bindung, Sexualität und Persönlichkeitsentwicklung

Zum Verständnis sexueller Störungen aus der Sicht interpersonaler Theorien

AutorAndrea Thomas, Barbara Schwark, Bernhard Strauß, Helmut Kirchmann
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl199 Seiten
ISBN9783170227262
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Dieses Buch verbindet drei verschiedene theoretische Felder: die Bindungstheorie, klinische Theorien der sexuellen Entwicklung und die interpersonale Theorie der Persönlichkeit und Persönlichkeitsentwicklung. Neben einer Einführung in diese Theorien werden anhand von zwei Falldarstellungen Möglichkeiten der unterschiedlichen Betrachtungsweisen demonstriert. Speziell im Zusammenhang mit sexuellen Störungen, die immer auch Beziehungsdimensionen betreffen, sind interpersonale und bindungstheoretische Ansätze sinnvoll. Das Buch soll Anstöße geben, die Sexualität aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und zu verstehen.

Prof. Dr. Bernhard M. Strauß ist Professor für Medizinische Psychologie und Psychotherapie sowie Direktor des Instituts für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Dipl. Psych. Helmut Kirchmann und Dipl. Psych. Andrea Thomas sind wissenschaftliche Mitarbeiter(innen) des Instituts. Dipl. Psych. Barbara Schwark war lange Jahre am Institut tätig und ist nun Psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis.

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Leseprobe

1 Einleitung: Sexuelle Entwicklung1


Die Sexualität, von der Freud sagte, sie gehöre zu den „gefährlichsten Betätigungen des Individuums“ (Nunberg & Federn, 1977), kann auf unterschiedliche Weise definiert werden:

  • Sexualität ist eine biologisch verankerte Form des menschlichen Erlebens, die aber nicht notwendigerweise manifest werden muss (Schorsch, 1975).
  • Sexualität ist ein vielschichtiger, zahlreiche Aspekte umfassender Verhaltens- und Erlebensbereich, der durch eine enge Verknüpfung von körperlichen und psychischen Prozessen gekennzeichnet ist (Bancroft, 1986).
  • Beim Menschen hat die Sexualität neben ihrer biologischen Funktion (Fortpflanzung) eine große Bedeutung für die Selbstbestätigung (narzisstischer Aspekt der Sexualität) und eine zentrale interpersonale Funktion (Sexualität als Mittel der Bezogenheit und Beziehungsgestaltung) (Bancroft, 1989).
  • Sexuelles Erleben, sexuelle Erregung und sexuelle Lust sind in starkem Maße subjektiv und beeinflusst durch biologische, psychologische und soziokulturelle Faktoren.

1.1 Linien der sexuellen Entwicklung


Die Entwicklung der Sexualität ist multidimensional und immer in Bezug auf den komplexen soziokulturellen Kontext zu betrachten. Bancroft (1986) schlug ein interaktionelles Modell der sexuellen Entwicklung vor, in dessen Rahmen verschiedene Entwicklungsstränge differenzierbar sind, die sich zwar zunächst relativ unabhängig voneinander entwickeln mögen, dann aber zunehmend miteinander verschränkt bzw. verwoben werden. Die sexuelle Entwicklung kann somit anhand einer Matrix von Entwicklungslinien oder Entwicklungskonstituenten differenziert werden, die zusammengenommen die Phänomenologie des Sexuellen bestimmen. Diese Linien der sexuellen Entwicklung beziehen sich auf biologische Funktionen als Basis für die Entwicklung des Erlebens und Verhaltens, Differenzierungen sexueller Motive und Bedürfnisse, die Entwicklung sexueller Reaktionen und sexueller Reaktionsfähigkeit, die Entwicklung von Bindung bzw. Bindungsfähigkeit und möglicher Funktionen der Sexualität in Beziehungen, die Entwicklung der Geschlechtsidentität und Geschlechtsrolle, sexueller Orientierungen und des manifesten sexuellen Verhaltens (Strauß, 2005).

Die biologische Differenzierung des anatomischen/genitalen Geschlechts ist naturgemäß eine wesentliche Grundlage für die sexuelle Entwicklung. Diese Differenzierung manifestiert sich primär auf chromosomaler Ebene (genetisches Geschlecht, Determinierung), auf der Ebene der gonadalen Entwicklung (Keimdrüsengeschlecht), der Ebene der inneren (gonoduktalen) und äußeren Geschlechtsmerkmale sowie auf der Ebene der geschlechtstypischen Differenzierung des Gehirns (für Details siehe Beier, 2007).

Die Entwicklung sexueller körperlicher Reaktionen setzt in der Regel eine ungestörte Entwicklung der Geschlechtsorgane voraus, die in einem frühen Stadium der pränatalen Entwicklung gebahnt wird (Ausnahmen sind möglich; so wird berichtet, dass einige Menschen mit körperlich-sexuellen Fehlentwicklungen, wie etwa dem Adrenogenitalen Syndrom, durchaus reaktionsfähig sein können, siehe Richter-Appelt, 2004). Ultraschalluntersuchungen machen deutlich, dass männliche Embryonen bereits Erektionen entwickeln. Außerdem sind Hand-Genitalkontakte in utero bei beiderlei Geschlecht beschrieben. Es ist also möglich, dass bereits der Fötus genitalbezogene Lust erlebt (Calderone, 1985). Die Kapazität für genitale Reaktionen besteht bei Jungen und Mädchen wahrscheinlich bereits vor der Geburt. Eine Reihe von Studien belegt, dass Säuglinge beiderlei Geschlechts bereits in den ersten Lebensmonaten mit den Genitalien spielen und sexuelle Reaktionen zeigen. Sexualwissenschaftliche Studien deuten an, dass Jungen Masturbation und Orgasmus häufig durch Kontakte zu Gleichaltrigen erlernen, während Mädchen ihre ersten Orgasmen durch Selbstexploration oder „zufällig“ über indirekte Stimulation erfahren (Beier, 2007). Es ist das Verdienst der Sexualwissenschaftler Masters und Johnson (1966), die sexuelle Reaktion bei Erwachsenen erstmalig systematisch mit psychophysiologischen Methoden erforscht zu haben. Von diesen Wissenschaftlern stammen die prototypischen Darstellungen sexueller Erregungsabläufe bei Frauen und Männern und die Definition von Phasen der sexuellen Reaktion, die allerdings individuell stark variieren können und nicht als normativer Bezug gesehen werden sollten.

Es wird heute nach wie vor davon ausgegangen, dass sich eine Kerngeschlechtsidentität (also die innere „Überzeugung“, männlich oder weiblich zu sein) bereits bis zum Ende des zweiten Lebensjahres gebildet hat, wenngleich im weiteren Entwicklungsverlauf bis ins Erwachsenenalter Veränderungen der Geschlechtsidentität möglich sind (Coates, 2006). Wie oben erwähnt, definiert die anatomische Ausstattung des Neugeborenen maßgeblich, welches Geschlecht ihm zugewiesen wird. Mit der Geschlechtszuweisung ist eine Kaskade differentieller Verhaltensweisen durch die Bezugspersonen gegenüber dem Kleinkind verbunden (resultierend aus einer kulturellen Übereinkunft der Zweigeschlechtlichkeit), die zur Formierung der Kerngeschlechtsidentität beitragen. Geschlechtsspezifisches Verhalten ist deutlich abhängig von den Einflüssen der Umgebung (also sozialen Lernprozessen) und kulturellen bzw. gesellschaftlichen Faktoren. Bereits im Säuglingsalter ist unterschiedliches Verhalten von kleinen Jungen und Mädchen gegenüber Männern und Frauen sichtbar (Maccoby, 2000). Für die Ausformung geschlechtstypischen Verhaltens ist neben sozialen Lernprozessen und neurobiologischen Faktoren, wie etwa dem Einfluss von Androgenen auf das Verhalten, auch die kognitive Entwicklung bedeutsam. Es wird davon ausgegangen, dass sich in den ersten Lebensjahren „sexuelle Schemata“ entwickeln, die zu einer kognitiven Selbstkategorisierung (Zugehörigkeit zu einer Geschlechtergruppe und Geschlechtskonstanz) führen. Diese Kategorisierung ist wiederum die Voraussetzung für die Identifikation mit einer spezifischen Rolle bzw. für die Aneignung von Rollenvorstellungen und -erwartungen. Der Prozess der Rollenaneignung ist bis zum Ende des Vorschulalters vorläufig abgeschlossen und am Verhalten sichtbar: Jungen spielen zu diesem Zeitpunkt beispielsweise lieber mit Jungen, haben typisch männliche Zukunftsvorstellungen etc. In dieser Entwicklungsphase sind die Rollenvorstellungen meist noch rigide und unflexibel, erst ab ca. dem achten Lebensjahr sind die kognitiven Voraussetzungen dafür gegeben, selektiv Eigenschaften von unterschiedlichen (Geschlechts-)Rollenmodellen zu übernehmen. Im Jugendalter, verbunden mit der ausgebildeten Fähigkeit zu abstraktem Denken, erfolgt eine weitere Flexibilisierung der Geschlechtsrollen und eine Neubewertung der Rollenaneignung, die u. a. durch die Qualität der Beziehung zu den Elternfiguren bestimmt wird (Maccoby, 2000). Eine Reihe von empirischen Studien belegen die Schichtspezifität der Rollenvorstellungen, ebenso die Tatsache, dass Geschlechtsrollenbilder starken soziokulturellen Schwankungen unterworfen sind.

Die sexuelle Orientierung (Präferenz, Identität) bezieht sich auf die gesamte Reaktivität einer Person gegenüber Männern und Frauen. Es ist das Verdienst Alfred Kinseys, im Rahmen seiner sexualwissenschaftlichen Umfragen in den späten 40er/frühen 50er Jahren die sexuelle Orientierung in verschiedene Komponenten differenziert zu haben (Kinsey et al., 1948, 1953). Zum einen zeigte Kinsey, dass die sexuelle Orientierung auf einem Kontinuum mit den Extremen einer exklusiven Homo- bzw. Heterosexualität anzusiedeln ist, zum anderen konnte er zeigen, dass sich die sexuelle Orientierung auf verschiedenen Ebenen manifestiert, nämlich der physiologischen Reaktion (auf homo- bzw. heterosexuelle Reize), der Fantasie (Tagträume, Masturbationsfantasien), des Verhaltens (v. a. tatsächliche Interaktion mit gleich- bzw. gegengeschlechtlichen Personen) sowie der Selbsteinordnung (die durch die vorherrschende erotische Anziehung definiert wird). Die vier oben genannten Ebenen müssen diesen Ergebnissen zufolge keineswegs konvergieren. Die ausschließlich homosexuelle oder heterosexuelle Partnerwahl repräsentiert somit nur die Endpunkte einer Verteilungskurve. Transkulturelle Untersuchungen zeigen ebenfalls die Plastizität der sexuellen Orientierung. Die Einstellung gegenüber Homosexualität ist in verschiedenen Kulturen unterschiedlich und beeinflusst das tatsächliche, beobachtbare Verhalten. Soziokulturelle Veränderungen innerhalb einer Gesellschaft schlagen sich dementsprechend auch in den konkreten Erfahrungen nieder. Dies zeigt sich in der Tendenz beispielsweise an regelmäßig durchgeführten Studien zur Studentensexualität in der BRD (Schmidt, 2000), die in der Zeit zwischen 1966 und 1996 deutliche Fluktuationen in der Häufigkeit bisexuellen Verhaltens reflektieren.

Eine grundlegende Bedeutung für die Entwicklung von Theorien zur Differenzierung sexueller Bedürfnisse und Motive kommt der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie zu, der zufolge von Geburt an – im weitesten Sinne – sexuelle (sinnliche) Bedürfnisse zu erkennen sind und die Entwicklung des Sexualtriebes definierte Phasen durchläuft. In der frühen Entwicklung kommt außerdem der Ausbildung des Selbstsystems eine große Bedeutung für die Sexualität zu. Der Narzissmus, also das Ausmaß positiver Gefühle, die mit der Erfahrung des Selbst verbunden sind und die einen wesentlichen Bestandteil späterer Selbstrepräsentanzen darstellen, kann als eine wesentliche Grundvoraussetzung...

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