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E-Book

Blackbox Abschiebung

Geschichte, Theorie und Praxis der deutschen Asylpolitik.

AutorMiltiadis Oulios
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl500 Seiten
ISBN9783518744048
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Noch im Juli 2015 erklärte Angela Merkel einer jungen Palästinenserin, manche Flüchtlinge müssten »auch wieder zurückgehen«. Der Satz erinnert daran, dass die »Willkommenskultur « nur eine Seite der Medaille ist. Die andere, das Wegschicken und Ausweisen, findet meist im Verborgenen statt. Miltiadis Oulios bringt Licht in die »Blackbox Abschiebung «. Er skizziert die Geschichte der deutschen Asylpolitik und zeigt anhand der Lebensläufe von Abgeschobenen, welch brutale Konsequenzen solche Maßnahmen haben. In einer Welt der Flüchtlingsströme und der oft auch erwünschten Mobilität plädiert er für eine kosmopolitische Haltung und die Schaffung legaler Migrationsmöglichkeiten. Abschiebung, so der Autor, könne die Beantwortung brennender Fragen der Gegenwart nur aufschieben - lösen werde sie sie nicht.

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<p>Miltiadis Oulios, geboren 1973, arbeitet als Autor, Reporter und Radiomoderator in Köln und Düsseldorf. Er befaßt sich mit Themen der Einwanderungsgesellschaft und den dort stattfindenden Kämpfen um Anerkennung und Rechte.</p>

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Leseprobe

Vorwort


Wie erklären wir einem neunjährigen Mädchen, weshalb es abgeschoben wird? Nadire versucht ihre Abschiebung damit zu begründen, dass sie in der Schule gefehlt hat.1 Aus ihrem Satz spricht nicht einfach kindliche Naivität. Unbewusst hält sie uns mit ihrer scheinbar absurden Begründung einen Spiegel vor. Man kann einer Neunjährigen nämlich ihre Abschiebung nicht erklären. Soll man ihr die Wahrheit sagen? »Hör mal, Nadire, die Wahrheit ist: Du bist ein Zigeunermädchen. Außerdem seid ihr arme Schlucker. Viele Leute mögen euch nicht. Deswegen stören sich die meisten auch nicht daran, wenn euch unsere Behörden rausschmeißen.« Kann man das einem Kind sagen? Nein, das kann man nicht.

Reden wir nicht um den heißen Brei herum. Wir wissen alle nur zu genau: Nadire hätte die besten Chancen, in Deutschland leben zu können, wenn ihre Eltern reich und hellhäutig wären, aber wir würden es nicht aussprechen. Es wäre nicht politisch korrekt. Außerdem würde es allem widersprechen, was wir unseren Kindern in der Schule über den Umgang mit anderen Menschen beibringen.

Stattdessen reden wir vom Aufenthaltsrecht, davon, dass ihrer Familie die Erlaubnis fehle, weiter in Deutschland zu leben. Vielleicht will Nadire gar nicht »zurück«, weil sie sich in Deutschland heimisch fühlt? Na, jedenfalls ist ihre Abschiebung rechtens. Mit dieser Begründung sind wir auf der sicheren Seite, niemand kann uns angreifen, unser Gewissen ist beruhigt, falls es je unruhig war. Erklärt haben wir damit noch gar nichts. Denn selbst wenn die Argumente juristisch wasserdicht sind, versteht kein Mädchen der Welt, weshalb es mit ihrer Familie abgeschoben wird, während ihre Schulfreundinnen – auch die mit ausländischen Namen – in Deutschland bleiben dürfen. Nadires Erklärung – »in der Schule gefehlt« – ist daher nicht weniger rational oder absurd wie unsere. Denn welchen Sinn hat es überhaupt, Menschen abzuschieben?

Wir leben in einer Welt der erwünschten Mobilität: Indische Informatiker programmieren im Silicon Valley, Frauen aus Osteuropa arbeiten hierzulande im Pflegesektor, Studenten verbringen Auslandssemester in aller Welt. Und doch müssen manche Menschen, die in den reichen Staaten des Westens ihr Glück oder einfach Schutz suchen, mit der ständigen Bedrohung der Abschiebung leben. Das ist die Schattenseite der Mobilität, über die man gewöhnlich nicht oder höchstens ungern spricht. Die Bundesregierung propagiert mittlerweile die »Integration« – dennoch schiebt sie weiterhin Menschen ab.

Dieses Buch will Licht in die »Blackbox Abschiebung« bringen. Es fragt nach den Ursprüngen sowie der Zukunft von Abschiebung. Wie stichhaltig sind unsere Begründungen dafür, dass Menschen unter Zwang fortgeschafft werden? Welchen Zweck haben Abschiebungen in einer globalisierten Weltgesellschaft? Woher nimmt sich der Staat das Recht, das Recht der Menschen zu beschneiden, sich frei zu bewegen und an einem Ort zu Hause zu sein? Was kostet Abschiebung? Wie gehen Migrantinnen und Migranten, die abgeschoben wurden oder werden sollen, mit dieser Erfahrung um? Welche Strategien des Widerstands gegen Abschiebungen haben sich entwickelt?

Auf den folgenden Seiten treten Menschen aus dem Schatten, die abgeschoben wurden. In ihren Geschichten geht es auch um das Leid, das sie erfahren haben. Sie handeln von Entwurzelung, Eingesperrtsein und Diskriminierung. Sie erzählen aber auch davon, wie die Menschen nach der Abschiebung versuchen, sich zurechtzufinden. Einige vermitteln, dass sie sich als Deutsche fühlen und wie unwirklich ihnen ihre Situation erscheint. Andere geben Einblicke in die Migrationsrealität am Anfang des 21. Jahrhunderts, die nicht zuletzt davon geprägt ist, dass Menschen die Migrationskontrollen unterlaufen, ihren Alltag am Aufenthaltsrecht vorbei organisieren, um sich ihr Recht auf Bewegungsfreiheit zu nehmen.

Auch eine Theorie der Abschiebung muss von dieser Realität ausgehen. Sie kann nicht bei einer moralischen Entrüstung über die – für manche »unvermeidlichen« – Opfer der Ausländerpolitik stehen bleiben. Sie muss fragen, welchen Zwecken Abschiebungen in unserer Gesellschaft dienen. Sind sie überhaupt zweckmäßig? Vor allem: Was sagen sie über unsere Gesellschaft aus? Ich verfolge hierbei die Theorie-Ansätze der Autonomie der Migration und der Analyse des Neo-Rassismus als modernem Herrschaftsmechanismus. Der heutige Rassismus äußert sich nur selten biologistisch. Er ist ein Rassismus, der die westliche Kolonialherrschaft und den Nazi-Terror überlebt und sich verändert hat. Nach Étienne Balibar argumentiert dieser Rassismus vor allem über kulturelle und sozioökonomische Differenzen, um die Unterordnung sowie die Ungleichbehandlung der »Anderen« – und das sind meist die Einwanderer – zu begründen.2

Rassismus ist nicht als bloßes »Vorurteil« oder ausschließlich rechtsextreme Ideologie zu verstehen, sondern als soziales Macht-Kräfteverhältnis, das die Gesellschaft durchzieht, sich beständig verändert und unterschiedliche Ausdrucksformen besitzt bzw. Konjunkturen unterworfen ist. Ein Verhältnis, das einem Tauziehen gleicht, in dem es darum geht, wem welche Rechte zugestanden werden. »Konjunkturen des Rassismus bestimmen, organisieren und reorganisieren sich in Kämpfen«, beschreibt die Gesellschaftswissenschaftlerin Manuela Bojadžijev die Grundannahme einer relationalen Theorie des Rassismus, »das heißt in sozialen und politischen Auseinandersetzungen, die ihre Opponenten (die vielfältige sein können) erst in ihrer Identität und Formation hervorbringen, reproduzieren und transformieren«.3 Bei Abschiebungen kulminiert dieser Konflikt in besonders drastischer Weise.

Denn Migrationsbewegungen lassen sich nicht wie mit einem Wasserhahn regulieren, den man nach Belieben auf- und wieder zudrehen kann. Sie finden trotz staatlicher Kontrollversuche statt. Weil Menschen, wie der Ökonom Yann Moulier-Boutang betont, »keine beliebig formbare Masse« sind, sei die »Materialität und der Widerstand derer, die regiert werden«, eine wichtige Komponente der Autonomie der Migration. Daher müsse man nicht nur nach den Kontrollen fragen, sondern auch danach, wie der Migrant oder die Migrantin mit einer möglichen Ausweisung umgeht und welche Politik das produziert.4

Bei der Entwicklung einer Theorie der Abschiebung besteht deshalb, die Gedanken des politischen Philosophen Sandro Mezzadra aufgreifend, die größte Herausforderung darin, einen »Sicherheitsabstand zu ästhetisierenden Apologien des Nomadismus« zu wahren, aber gleichzeitig die Realität von Abschiebungen mit Hilfe eines Verständnisses von Migration zu beschreiben, in dem Migration eine Form von »Demokratie als Bewegung« darstellt, die über die Grenzen der bestehenden demokratischen Institutionen hinausweist.5 Ausgehend von den genannten Prämissen, werde ich das Phänomen »Abschiebung« aus verschiedenen Perspektiven beleuchten, mich ihm aus unterschiedlichen Richtungen nähern – ob es mir dabei gelungen ist, die oben aufgeworfenen Fragen zufriedenstellend zu beantworten, müssen die Leserinnen und Leser entscheiden.

Mir ist außerdem bewusst, dass die beim Thema Abschiebung verwendeten Begriffe nicht unpolitisch sind. Daher spreche ich zum Beispiel von »illegalisierter« statt von »illegaler« Migration, weil die Migration schon vor den Gesetzen existierte, die dann bestimmte Wanderungsbewegungen als illegal erscheinen lassen. Doch terminologische Vereinfachungen lassen sich nie ganz vermeiden. Schon die Rede von »den« Deutschen oder »den« Migranten ist so eine Vereinfachung. Ich habe versucht, dem entgegenzuwirken, indem ich zum Beispiel mal von Einwanderern, dann von Migranten und dann von Flüchtlingen spreche, obwohl klar ist, dass Menschen oft alles zugleich und noch viel mehr sind.

Auch die Menschen, die in diesem Buch präsentiert werden, kommen nicht einfach als Opfer widriger Umstände zu Wort, sondern eben als echte Menschen – mit Schwächen, Stärken und Strategien. Am Anfang dieses Buches stand nicht der Anspruch, widerspruchsfreie Individuen vorzustellen, sondern einen realitätsnahen Einblick in das System Abschiebung zu liefern und zu fragen, was das Ganze soll. Dazu gehört nicht nur die Abschiebung von Jugendlichen, die in Deutschland geboren sind und sich deutsch fühlen. Dazu gehört auch, dass Deutsche aus den USA, die gar kein Deutsch mehr sprechen, abgeschoben werden, was vielen Menschen in Deutschland kaum bekannt ist. Zwar steht die Abschiebepolitik Deutschlands im Mittelpunkt, das Buch blickt aber ebenso auf die Praktiken anderer Staaten und nimmt internationale Aspekte von Abschiebepolitik ins Visier. Auch wenn mir klar ist, dass Vollständigkeit nicht erreicht werden kann, habe ich mich um einen umfassenden Einblick und die Entwicklung einer Theorie der Abschiebung bemüht.

Dass dieses Buch entstehen konnte, habe ich meinen Freunden und Kollegen Ralf Jesse und Mark Terkessidis zu verdanken. Die vorliegende Veröffentlichung ist nämlich Teil des gleichnamigen Projekts »Blackbox Abschiebung« von Ralf Jesse und dem Institute for Studies in Visual Culture e. V. (ISVC), das im Rahmen der »Kulturhauptstadt Europas: RUHR.2010« realisiert und vom Fonds Soziokultur gefördert wurde.

Nachdem Ralf Jesse bereits einen Dokumentarfilm über jugendliche Flüchtlinge in Deutschland – Die Geduldeten – gedreht hatte, begann er im Rahmen dieses Projekts Menschen zu porträtieren, deren Abschiebung bevorstand oder die schon abgeschoben worden waren. Sie haben mit Digitalkameras ihr Leben in der alten, neuen Heimat dokumentiert,...

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