Alias
»Bob Dylan«: das ist der Name einer Kunstfigur, die der am 24. Mai 1941 in Duluth, Minnesota (»in the north country fair«) als erstes Kind einer jüdischen Mittelklassefamilie geborene, in Hibbing, Minnesota aufgewachsene Robert Allan Zimmerman um 1959 erfunden, deren Namen er 1962 offiziell angenommen und mit der er sich zeitweise identifiziert hat. »I’m Bob Dylan only if I have to«, hat er in einem Interview in den 1980er Jahren erklärt. Wer aber ist er, wenn er nicht Bob Dylan ist? Anstelle einer Antwort findet sich eine Kette von Namen, die teils aufeinander, teils auf diverse kulturelle Traditionen Amerikas verweisen. Seine Eltern gaben ihm den hebräischen Namen »Shabtai Zisel ben Avraham«. Als begleitender Mundharmonikaspieler im Tonstudio nennt sich der junge Dylan, nach dem Modell der bewunderten Bluesmusiker, »Blind Boy Grunt«; als versierter Produzent der späten Alben und Songs, die von jeder Art von Wärmeverlust handeln, figuriert ein kühler »Jack Frost«. Der Sänger und Studiomusiker tritt wie John Lee Hooker unter fortwährend neuen Pseudonymen auf: als »Elston Gunn« und »Elmer Johnson«, als »Bob Landy«, »Tedham Porterhouse« oder (eine selbstironische Verbeugung vor Dylan Thomas, dem Verfasser von Under Milk Wood) »Robert Milkwood Thomas«. Dass Dylan unter dem Namen »Lucky Wilbury« auf dem ersten Album der All-Star-Band The Traveling Wilburys (1988) zu hören war, ist Grund genug, auf dem zweiten Album das Pseudonym zu ändern; nun heißt der entsprechende Wilbury-Musiker (anspielend auf Dylans ausgebuhte Konzerte von 1966): »Boo«. Auch die Namen, unter denen er in seinen mehr oder weniger biographisch akzentuierten Filmen aufgetreten ist, lassen sich in dieser Linie sehen: Als allegorischen »Jack Fate« (›Hans Fatum‹) porträtiert sich der Untergangsprophet selbst in Masked and Anonymous, dessen Drehbuch er wiederum – zusammen mit dem Regisseur – verfasst hat, diesmal jedoch unter dem Pseudonym »Sergei Petrov«. In seinem monumentalen und monströsen Filmepos Renaldo and Clara tritt der wandernde Minstrel als »Renaldo« auf – dafür erscheint dann im Abspann der Rocksänger Ronnie Hawkins als Darsteller einer Figur namens »Bob Dylan«.
Dylans früher Weggefährte Liam Clancy vergleicht ihn in Martin Scorseses Filmporträt No Direction Home mit einer Gestalt der irischen Mythologie: »He was a shape shifter. It wasn’t necessary for him to be a definitive person.« Gerade so aber ist er der True Dylan, den der Dramatiker Sam Shepard in seinem gleichnamigen Einakter gezeigt hat (zuerst unter dem Titel A Short Life of Trouble, 1987). Die Kurzform und Grundformel dieser zwischen Pathos und Parodie changierenden Rollenspiele liefert der Name, unter dem Dylan als zweideutiger Gefährte des tragischen Helden in Peckinpahs Westernklassiker Pat Garrett and Billy the Kid auftritt. Er lautet »Alias«.
»Ich ist ein anderer«, hatte Arthur Rimbaud proklamiert, einer von Dylans literarischen Helden seit den 1960er Jahren. Dylan spielt in mehreren Texten auf diesen Satz an; in den Kommentaren zu Biograph und seinem autobiographischen Bericht Chronicles zitiert er ihn wörtlich. Wer in Dylans Werk nach einem Ich sucht, findet immer einen anderen: einen potenzierten Alias in fortwährender Metamorphose (»shedding off one more layer of skin«), einen Zwilling und Doppelgänger, der immer eins und doppelt ist (»I fought with my twin / the enemy within«), und einen bedrohlichen Verfolger seiner selbst (»keeping one step ahead from the persecutor within«), der sich in immer neue Namen flüchtet (»I needa new name … & break out of this place«, so auf einem Notizblatt in Writings and Drawings) und dessen wahrer Name niemals verraten wird. Denn was hier immer neu umschrieben wird, das ist eine »wahre Identität«: »was I a fool or not to protect / your real identity«. Der wahre Name bleibt das letzte Geheimnis des Menschen. Es ist das Mysterium der Person, das sich in Dylans biblisch getönter Sprachwelt auf genau dieselbe Weise der Sagbarkeit entzieht wie der Name Gottes: »I and I / One says to the other: No man sees my face and lives«, singt Dylan in ›I and I‹ 1983 (und zitiert damit das Buch Exodus, Kapitel 33, Vers 20).
Auch wenn sich hier ab etwa 2000 markante Änderungen abzeichnen – die Namensspiele liefern die Außenansicht eines Verfahrens, das Dylans Werk doch wohl im Innersten bestimmt und antreibt. Noch in scheinbar intimen Selbstenthüllungen hat der Alias immer etwas von einem ironischen Poseur, dessen Geradlinigkeit darin besteht, fortwährend Haken zu schlagen. Darum ist auch seinen Selbstdarstellungen und Selbstkommentaren in Interviews so wenig zu trauen wie seinen Chronicles, die eher einen kunstvoll aus eigenem und fremdem Textmaterial montierten Roman ergeben als eine Autobiographie. Selbst wo er für bildkünstlerische Arbeiten wie die Asia Series (2011) reklamierte, er habe sie nach eigenen Reiseeindrücken gemalt, konnten Kenner sehr bald und sehr leicht die Bildvorlagen aus dem Archiv des Photographen Henri Cartier-Bresson identifizieren. Wo Dylan sich als Person inszeniert, da agiert er zuweilen als Hochstapler und Hasardeur; da lügt er, wenn er will, das Blaue vom Himmel herunter – um dann wieder mit ungeschützter Aufrichtigkeit von seiner Kunst zu sprechen. Das bizarre Interview, das er dem Rolling Stone im September 2012 zum Erscheinen seines Albums Tempest gab, und das nüchterne und differenzierte Gespräch mit der Zeitschrift AARP zum Erscheinen des folgenden Albums Shadows in the Night zweieinhalb Jahre später geben einen Eindruck von der Spannweite dieser Gegensätze. Wenn Dylan in einem Interview vom April 1975 (mit der Folksängerin Mary Travers von dem Folktrio »Peter, Paul & Mary«) erklärt: »My stuff … has to do more with feeling than thinking. … When I get to thinking, I’m usually in some kind of trouble«, dann trifft das durchaus das Verhältnis zwischen den Ausdrucksformen seiner Kunst auf der einen und den manchmal verwirrenden Selbstkommentaren ganz gut. ›Never trust the artist, trust the tale.‹
In jedem Augenblick kann er so zum Renegaten werden. Wann immer die Nachfolgenden ihn erreicht zu haben glauben, ist er schon anderswo; wann immer er identifiziert zu sein scheint, ist er schon ein anderer. Als das sozialkritische Folk-Movement in den frühen 1960er Jahren zum Movement geworden war, trieb der junge Dylan Rockmusik; als endlich alle das mitbekommen hatten und an Dylans Wohnort das bis dahin größte Rock-’n’-Roll-Spektakel inszenierten, da hatte er selbst Woodstock längst verlassen (das er einen »neuen Markt für gebatikte T-Shirts« nannte) und spielte, unbegreiflich und unerhört, Country Music mit symbolistischen Texten. Sobald aber dieser Rückzug ihn mit einer mythischen Gloriole zu umleuchten drohte, sprang er vom Zug ab und präsentierte sich herausfordernd kommerziell wie Elvis in Las Vegas; eine Pose, in die er vorübergehend geschlüpft war, um die kubistischen Collagen seines Albums Blood on the Tracks zu komponieren, von wo aus er alsbald, sekundiert von Sam Shepard und Allen Ginsberg, zur »Rolling Thunder Tour« aufbrach, ein Minstrel der Post-Hippie-Ära mit Federn am Hut, elektrischer Gitarre und einer Bob-Dylan-Maske vor dem Gesicht. Als sich herumgesprochen hatte, dass er vom christlichen Fundamentalismus wieder Abstand genommen habe, konzertierte er beim Eucharistischen Weltkongress in Bologna vor Papst Johannes Paul II. (1997). Als ihn die Kulturkritik zur Ikone einer anti-kommerziellen Dekonstruktion erhob, sang er zu Frank Sinatras achtzigstem Geburtstag ›Restless Farewell‹. Als sein Spätwerk Time Out of Mind für seine vermeintlich todessüchtige Düsterkeit gerühmt wurde, überließ er den ersten Song des Albums als Werbe-Soundtrack einer Firma für luxuriöse Damenunterwäsche und trat in dem Spot selbst als dunkel-romantischer Liebhaber auf. Kurz darauf zeigte er sich auf »Love and Theft« abwechselnd als archaischer Bluessänger und swingverliebter Crooner. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts unternahm er ausgiebige archivarische Streifzüge durch die amerikanische Musik- und Kulturgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts – in seiner »Theme Time Radio Hour«, die selbst den Stil der 1940er Jahre adaptierte, und auf den Alben Modern Times (2006) und Together Through Life (2009). Drei Jahre, nachdem er sich mit seinem verspielten Weihnachtsalbum Christmas in the Heart (ebenfalls 2009), dessen Erlös den amerikanischen Obdachlosen zugedacht war, als fröhlich-frommer Menschenfreund gezeigt hatte, ließ er mit Tempest (2012) das blutrünstigste Album seiner Laufbahn folgen; auf seinem nächsten Album sang er dann zarte Sinatra-Lovesongs. Und so fort; und hinter jeder neuen Kehre gab es neue Schätze der Poesie und Musik zu entdecken. »He not busy being born is busy dying«, lautet die oft zitierte Devise aus seinem Song ›It’s All Right, Ma‹. »When asked to give your real name«, so ist in dem frühen Gedicht ›Advice for Geraldine‹ zu lesen, »never give it.« Es ist Dylans Version des Grundsatzes, nach dem ein weit entfernter trickster und shape shifter der modernen Weltliteratur sein Leben geführt...