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Auf brüchigem Boden Land gewinnen

Biografische Antworten auf Krankheit und Krisen

AutorAnnelie Keil
VerlagKösel
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641061081
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Unser Leben ist ein fortwährender Prozess der Wandlung, unvorhersagbar und voller Überraschungen. Zwischen Chaos und Ordnung, Anpassung und Widerstand, Freiheit und Abhängigkeit sind wir ohne Navigator in der Fremde unterwegs und herausgefordert, eine einzigartige biografische Welt zu gestalten, die unseren Namen trägt.

Lust und Lust, Glück und Pech, Angst und Mut, Hoffnung, Abschied, Verzweiflung, Gelingen und Scheitern stehen wie Gesundheit und Krankheit auf der Tagesordnung, die wir nicht ändern, aber begreifen und lernen können. Wer leben will, muss älter werden, Erfahrungen sammeln und Land gewinnen!

Das Buch erzählt von geglückten und gescheiterten Versuchen, inmitten der konkreten Lebenswelt die eigene Person und ihre Biografie zu erfinden. Und wie es gelingen kann, sich trotz Bruchstellen und Krisen immer wieder neu mit dem Leben zu verabreden, sich selbst auf die Spur zu kommen und der eigenen Kraft, Lebenskompetenz und Fantasie zu vertrauen.

  • Dem eigenen Leben auf die Spur kommen
  • Vom Umgang mit schweren Lebenssituationen
  • Eine Reise durch biografische Landschaften


Prof. Dr. Annelie Keil, Sozial- und Gesundheitswissenschaftlerin, ist seit 2004 emeritierte Professorin und ehemalige Dekanin an der Universität Bremen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gesundheitswissenschaft und psychosomatische Krankenforschung, Biografie- und Lebenswelt-forschung sowie die Arbeit mit Menschen in Lebenskrisen. Umfangreiche Vortragstätigkeit, Radio- und Fernsehsendungen, ehrenamtliche Mitarbeit in unterschiedlichen psychosozialen und Bildungsprojekten im In- und Ausland; Mitbegründerin des wiss. Weiterbildungsstudiums Palliative Care an der Universität Bremen; Initiatorin, Sponsorin und Mitarbeiterin der internationalen Suppenküche 'Gastmahl bei Freundinnen aus aller Welt'; Mitglied im Vorstand der privaten Herz-Kreislauf-Klinik Lauterbacher Mühle; 2004 Bundesverdienstkreuz.

Die Autorin hat bereits mehrere Bücher verfasst.

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Leseprobe

Einleitung – Lebensreise: Auf brüchigem Boden Land gewinnen, und die Horizonte wandern mit

»Unser Baby kann noch nicht laufen, aber Füße hat es schon«, schreibt ein kleines Mädchen staunend in sein Schulheft und trifft ins Schwarze. Wir bekommen die Voraussetzungen zum Laufen, bevor es so weit ist. Erst wenn wir die Füße einsetzen und laufen lernen, wissen wir, wozu wir sie haben. Wohin und wie lange uns unsere Füße tragen, ob wir auf die Welt zugehen oder eher weglaufen wollen, müssen wir allerdings erst herausfinden. Kleine Menschen werden als Neuankömmlinge geboren. Ungefragt sind sie in der Gegenwart gelandet und betreten mit blindem Vertrauen die Weltbühne. Sie erblicken das Licht der Welt, spüren Schatten wie Hindernisse und treten nackt und hilflos die Reise an, die Leben heißt. Schritt für Schritt geht es dabei darum, festen Boden unter die Füße zu bekommen und auf der Suche nach Gleichgewicht das Schwanken zu üben.

Leben ist das Abenteuer, das nie endet, aber jeden Morgen neu beginnt und überrascht. Ausgestattet mit Füßen und Händen, Herz und Verstand, mit mindestens fünf Sinnen hoffen Menschen auf den sechsten und siebten Sinn, um herauszufinden, wie sie atmen, liegen, sitzen, stehen und gehen, greifen und begreifen, essen, hören, riechen, sehen, berühren, denken, fühlen, handeln und verstehen lernen, was ihr Leben braucht und von ihnen erwartet. Über uns tanzen die Sterne in die Unendlichkeit hinaus, und unter unseren Füßen bietet »Mutter Erde« mit ihrer Anziehungskraft und Schwerkraft sicheren Halt, um unberechenbar wie das Leben selbst im nächsten Augenblick zu beben und die Wasser über die Ufer treten zu lassen. Aufgerichtet zwischen Himmel und Erde übt der Mensch den aufrechten Gang. Der kleinste Kieselstein ist Millionen von Jahren älter als wir, und eine universale Ordnung hofft auf Widerhall in uns und wir in ihr.

Des Menschen Lebensreise ist ein fortwährender Prozess der Wandlung im Wechsel von Chaos und Ordnung. Zwischen Anpassung und Widerstand ist sie vor allem ein Weg durch die Fremde ohne Landkarte und Navigator, über Berg und Tal, mit Gipfelstürmen und Abstürzen, auf Autobahnen mit rasendem Tempo und Umwegen im Schneckentempo, auf Trampelpfaden, Seitenwegen und durch Einbahnstraßen und Sackgassen. Bewegung, Aufbruch, Einbruch, Zusammenbruch, Wartezeiten und pausenloses Unterwegssein verlangt dieser Weg. Niemand kann sich dieser Aufgabe entziehen, und jeder Mensch ist herausgefordert, schon im Augenblick seiner Zeugung mit der Arbeit an jener Aufgabe zu beginnen, aus der unsichtbaren Ordnung, die in ihm steckt, eine einzigartige biografische Welt zu gestalten, die unter seinem Namen zu seinem Lebenswerk heranwächst. »Das Glück besteht darin, zu leben wie alle Welt und doch wie kein anderer zu sein«, mahnt Simone de Beauvoir.

Zwischen Geburt und Tod wandern wir an der Hand unserer Bedürfnisse und Lebenswünsche von Horizont zu Horizont, die sich vor unseren Augen auftun. Wir bewegen uns dabei zielorientiert auf etwas zu, das nicht starr ist, sondern sich gleichzeitig mit uns bewegt, unsere Ankunft verzögert, Ziele verändert oder gar unmöglich macht. Wir kennen diese Erfahrung seit Kindertagen. Hinter jedem Horizont taucht bei einer Wanderung ein anderer auf, hinter jeder Wegkrümmung und nach jedem Berggipfel geht es mit einer anderen Aussicht weiter. Je länger wir wandern, je müder wir werden und je mehr Krisen uns aufhalten, desto ungeduldiger hoffen wir, dass hinter der nächsten Linie am Horizont das Ziel erreicht wird. »Wie weit ist es denn noch?«, fragen wir als Kinder mit gequält hoffender Stimme.

Die Linie, die wir Horizont nennen, ist wie eine Verheißung, die man immer wieder neu aushandeln muss, wenn man im Leben unterwegs ist. Da, wo sich Himmel und Erde, Licht und Dunkelheit berühren und zu einer Linie vereinen, muss das Ende der gegenwärtigen Welt sein und das Universum mit seiner Ewigkeit und einem anderen Licht beginnen. Und so hoffen wir entsprechend in schwierigen Lebenssituationen und in Krisen, dass sich die Linie jenes Horizonts zeigt, hinter der ein langer Streit, ein Liebeskummer, die belastende Pubertät, die Wechseljahre, eine Trennung, Arbeitslosigkeit, Krankheit oder andere Lebensschmerzen zu Ende sind und etwas anderes in Aussicht gestellt wird. Menschen sprechen vom Licht am Ende des Tunnels, auf das sie sehnsüchtig warten.

Wer sich daran erinnert, wie wir als Kinder auf Schienen, Mauern oder Schwebebalken zu balancieren versuchten, hat die entsprechende Erfahrung dazu. Beim Balancieren muss man den Blick auf einen Punkt am fernen Horizont richten, um nicht zu stolpern. Wer in Sorge vor dem nächsten Schritt ängstlich nach unten auf die Füße schaut, kommt leichter aus dem Gleichgewicht. Eine Lebensübung im besten Sinne.

Wo ein Anfang ist, wird irgendwann ein Ende kommen. Wo ein Ende ist, erscheint der nächste Anfang. Aber was jeweils anfangen oder enden wird, bleibt das Geheimnis unserer Lebensreise und ihrer wechselnden Horizonte, die zusammen mit uns durch die Lebensphasen hindurch auf Wanderschaft sind. Wege gabeln sich, weisen in verschiedene Richtungen, die zu wählen sind, und an diesen Gabelungen und Scheidepunkten treffen Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart aufeinander. »Der gesamte Kosmos, das ganze Universum ist im Hier und Jetzt vereint: das unendlich lang Vergangene ebenso wie das unendlich weit in der Zukunft Liegende. Die Ewigkeit findet man im Hier und Jetzt.«1

Um das Licht der Welt zu erblicken, wurden wir aus dem Uterus ausgestoßen, durch einen beängstigend engen Kanal gepresst und dem Unbegreifbaren und Unbegreiflichen des Lebens ausgesetzt. Losgelöst von seinem Ursprung, herausgerissen aus allem, was vertraut war, ohne die Sicherheit, dass Nahrung und Sauerstoff durch die Nabelschnur gewährleistet sind, soll der kleine Mensch plötzlich aus sich selbst heraus existieren. Unabänderlich, es gibt kein Zurück! Leben ist irreversibel, lernen wir später in der Physik. Die Zeit des bedingungslosen Asyls in Mutters Schoß ist vorbei. Dem ungeborenen Kind muss die Geburt wie das Ende des Lebens erscheinen, weil dessen erneuter Anfang noch unbekannt ist und nichts von der bevorstehenden Zukunft verrät. Im Prozess der Geburt bleibt unklar, wie es weitergeht, bei aller Freude bleibt ein Risiko. Ohne es zu wissen, begegnet der kleine Mensch schon am Anfang seines Lebens zwischen Zeugung und Geburt neben vielen anderen Gefahren auch dem möglichen Ende seines Lebens. Der Tod wird zum unsichtbaren Gefährten, der ihn von nun an mit unterschiedlichen Gesichtern auf seinem Lebensweg begleiten und herausfordern wird. Verlust, Abschied, Schwäche, Krankheit, Schmerz sind die Botschaften dieses Gefährten, die den Menschen zwar an seine Grenzen, Verletzlichkeit und Endlichkeit führen, aber vor allem auch an seine Lebenslust, Widerstandsfähigkeit, schöpferische Kraft und seinen Lebenswillen erinnern, zur Entwicklung antreiben und wachsen lassen.

Mit diesem Ur-Gefährten des Lebens, dem Tod, gilt es Freundschaft zu schließen, denn als Wurzel aller Angst, dass wir verlieren und verfehlen könnten, was wir sind, schenkt er uns gleich zu Beginn eine der wichtigsten Lebenserfahrungen: Leben ist nur eine Möglichkeit, die einzige, wunderbare und gleichzeitig immer auch eine Art letzte Gelegenheit. Unsere Geburt ist die erste große biografische Krise, in der wir auf brüchigem Boden Land gewinnen müssen. Sie lehrt uns bereits am Anfang des Lebens, dass die menschliche Existenz eine Krisenexistenz ist, eine, die der Mensch grundsätzlich meistern kann, wenn er sich dem Reichtum der Möglichkeiten zuwendet, die in ihm stecken, und nach Unterstützung sucht, wenn er sie braucht.

»Der Menschen Gegenwart ist ein schöpferisches, stürmisches Sakrament, ein sichtbares Zeichen unsichtbarer Gnade. Nirgends sonst wird ein solch inniger und erschreckender Zugang zum Mysterium gewährt. Freundschaft ist jene schöne Gnade, die uns die Freiheit schenkt, dieses Abenteuer anzugehen, anzuerkennen und anzunehmen«, schreibt John O’Donohue.2

Um diese Freundschaft zum Leben und zu uns selbst geht es in diesem Buch. Wir sind frei, den unbekannten Auftrag zum Leben anzunehmen und unsere Biografie zu erfinden. Leben enthält zwar immer ein konkretes Angebot, aber wird als entwerfende, auf Zukunft gerichtete Geste immer erst dann real, wenn wir aus der Möglichkeit zu leben unser konkret reales Leben machen. »Ohne mich« geht nicht, wenn es um das eigene Leben geht. Die alte Weisheit der Sufis, dass Hoffnung »Honig des Lebens« sei oder, wie der Philosoph Ernst Bloch schreibt, »ins Gelingen verliebt« ist, haben die meisten Menschen mit der Muttermilch eingesogen, auch wenn sie es später manchmal vergessen Leben will leben, nicht mehr und nicht weniger. Der Satz »Die Hoffnung stirbt zuletzt« hängt wie eine wehende Gebetsfahne über dem Leben vieler Menschen, die durch Krisen, Krankheit und Verzweiflung wandern müssen, und wird zu oft zum dahergesagten Trostspruch bei denen, die gerade nichts zu befürchten haben. Hoffnung ist nichts, was man einfach hat oder nicht hat, sondern ist wie die Liebe eine Kraft, die der Mensch im Zusammenleben mit anderen Menschen entwickeln und erfahren muss.

Mit großer Energie und Zuversicht haben wir einst als kleine Menschen hoffnungsvoll das unbekannte Leben gewagt. In uns wirkt die universale Welt mit ihrer naturgesetzlichen wie spirituellen Ordnung, die auf nachhaltige Entwicklung und unsere individuelle Mitarbeit setzt. Nur wenn wir neugierig bleiben und weiter fragen lernen, wie Leben lebt und welche Bündnisse und Netzwerke die Innenwelten von Körper, Geist und Seele mit der Außen- und Umwelt unter unserem Einfluss eingehen, sind wir in der...

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