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E-Book

Brückenschläge

Zwei Generationen, eine Leidenschaft

AutorChristian Lindner, Hans-Dietrich Genscher
VerlagHoffmann und Campe Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783455850697
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Hans-Dietrich Genscher und Christian Lindner im Gespräch: ein Brückenschlag zwischen den Generationen. Zwei Liberale sprechen über ihre Wege in die Politik, ihre Partei, Deutschland und Europa sowie über das, was sie beide antreibt: die Leidenschaft für die Freiheit. Als Christian Lindner 1979 geboren wurde, da war Hans-Dietrich Genscher Bundesvorsitzender der FDP und Außenminister in einer sozialliberalen Koalition. Heute schauen beide mit unterschiedlichen Perspektiven auf die gesellschaftlichen Herausforderungen - der eine als Elder Statesman, der andere in aktueller politischer Verantwortung. Ein politisches Buch, aber auch eine Auseinandersetzung und Verständigung zwischen den Generationen.

Hans-Dietrich Genscher, Jahrgang 1927, war u. a. achtzehn Jahre Außenminister und elf Jahre Parteichef der Liberalen. Er hat die deutsche Einheit und den Weg zu einem geeinten Europa maßgeblich mitgestaltet. Seit 1992 war er FDP-Ehrenvorsitzender und bis zuletzt eine der wichtigsten Stimmen der deutschen Politik. Hans-Dietrich Genscher starb am 31. März 2016 in seinem Wohnort Wachtberg-Pech.

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Leseprobe

»Wir sind beide Kinder unserer Zeit«


LINDNER

Der 8. Mai 1945 gilt als Stunde Null der späteren Bundesrepublik, Richard von Weizsäcker hat ihn in seiner berühmten Rede von 1985 einen »Tag der Befreiung« genannt. Wie haben Sie diesen Tag erlebt, wo waren Sie, was fühlten Sie?

GENSCHER

Für mich war bereits der 7. Mai 1945 meine Stunde Null. Ich war wenige Wochen zuvor erst achtzehn geworden, hatte aber schon mehr als zwei Jahre militärischen Dienst hinter mir, erst als Luftwaffenhelfer, später dann bei der Wehrmacht als Pionier. Ich gehörte zur Armee Wenck, einem General, der in der letzten Kriegsphase den Auftrag hatte, mit seinen Truppen Hitler in Berlin zu befreien. Doch er hielt sich nicht an diesen Befehl, sagte seinen Offizieren: »Ich werde nicht Zehntausende von jungen Soldaten, die mir anvertraut sind, in eine sinnlose Schlacht führen. Ich führe die Armee nach Westen und hoffe, dass wir in amerikanische Gefangenschaft kommen.«

LINDNER

Befreiung durch Gefangenschaft, harte Zukunftsaussichten für einen 18-Jährigen.

GENSCHER

Natürlich fragten wir damals, was nun werden wird. Wir wussten ja, dass der Krieg verloren war und dass er sehr bald zu Ende gehen würde. Meine Mutter hatte mich noch an meinem Geburtstag, am 21. März 1945, da wurde ich 18 Jahre alt, in der Kaserne in Wittenberg besucht. Als ich sie zum Bahnhof brachte, sagte ich zu ihr: »Ich vermute mal, dass wir uns jetzt eine ganze Weile nicht sehen werden. Wir werden jetzt zum Einsatz kommen. Aber ich habe im Gefühl« – damit wollte ich sie beruhigen –, »ich werde es überleben. Eigentlich geht es nur darum, in welche Gefangenschaft ich komme.«

Ja, und dann war es so weit. Die letzte Nacht, vom 6. auf den 7. Mai, übernachteten wir auf einem Gutshof in der Nähe der Elbe bei Tangermünde auf dem Ostufer. Auf diesem Gutshof wurde Bismarck geboren, und wir lagen nun dort in der Scheune. Wir wussten, dass wir am nächsten Tag wohl die Elbe nach Westen überschreiten würden. Seit Tagen schon zog die Armee über die Trümmer einer Brücke. Sie müssen sich vorstellen, wie lange das dauert, wenn achtzigtausend Mann über einen Holzsteg marschieren. Als wir da also abends im Stroh lagen, sagte ich: »Leute, wir werden das jetzt ja packen, wahrscheinlich, dann könnt ihr später euren Kindern und Enkeln sagen, die letzte Nacht des Krieges habt ihr bei Bismarck übernachtet. Ihr müsst ja nicht sagen, dass es in der Scheune war.«

Was wir nicht ahnten: Am nächsten Tag sollte uns noch ein schwerer Kampfeinsatz bevorstehen. Wir mussten den Brückenkopf verteidigen gegen die nachrückenden Russen, die uns diese Fluchtmöglichkeit abschneiden wollten. Wir befanden uns in einem kleinen Ort namens Wust; das ist der Ort, in dem der unglückliche Leutnant von Katte, der Erzieher Friedrichs des Großen, geboren worden war. Seine Familie stammte aus Wust, und er wurde dort auch nach der Hinrichtung in Küstrin beigesetzt.

LINDNER

Waren Sie selbst auch in die Kampfhandlungen verwickelt?

GENSCHER

Ja, sicher, ganz massiv. Das Schwierigste war, sich vom Gegner abzusetzen, ohne dass er es bemerkt. Wir hatten den Auftrag, mit unserem Bataillon den Ort Wust bis 15.30 Uhr am 7. Mai zu verteidigen. Am Ende waren wir nur noch zehn Mann. Dann wurden die Nächsten abgezogen, schließlich waren wir nur noch zu dritt …

LINDNER

Und Sie dabei?

GENSCHER

Ich war einer von den dreien. Am Westrand des Ortes, auf einer kleinen Anhöhe, schossen wir dann in alle Richtungen, um den Russen, die oben aus den Dachfenstern der Häuser rausguckten, vorzutäuschen, dass wir noch viele sind. So wollten wir Luft nach hinten schaffen. Dann wurde einer von uns letzten drei durch ein Explosivgeschoss verwundet, sein Arm hing herunter, sodass ich dem anderen sagte: »Zieh ihn zurück, ich halte die Stellung.« Da lag ich dann, allein, mit dem Gedanken, wenn ich jetzt einen Schuss ins Bein kriege, komme ich hier nicht mehr weg. Aber es ging gut. Ich kam tatsächlich bis an die Elbe. Dort wartete eine große Zahl von deutschen und amerikanischen Sanitätskraftwagen, Krankenschwestern, Sanitätern, Ärzten. »Verwundete rechts raus«, hieß es – und plötzlich war der Krieg von einer Minute auf die andere beendet.

LINDNER

Solche Erfahrungen vergisst man wohl nie.

GENSCHER

Ja, wenngleich das tiefgehendste Erlebnis da schon zwei, drei Wochen zurücklag. Ich war nachts allein auf dem Weg zum Gefechtsstand unseres Bataillons, der sich in einem kleinen Dorf befand. Eine durchgehende Frontlinie gab es schon nicht mehr. Beide Seiten tasteten sich vor allem nachts ab. Als ich im Dunkeln in einem Bauernhof stand und mich zu orientieren suchte, öffnete sich unmittelbar neben mir leise und behutsam die Hoftür neben dem großen Hoftor. Die Maschinenpistole hatte ich schussbereit. Da blickte ich auf eine Entfernung von ein, zwei Metern in das angsterfüllte Kindergesicht, das mit weit aufgerissenen Augen unter dem russischen Stahlhelm hervorblickte. Seine Kalaschnikow hatte er genauso schussbereit wie ich meine Maschinenpistole. Sein Entsetzen war wohl nicht geringer als das meine. Reglos standen wir uns gegenüber. Eine Sekunde oder vielleicht auch drei oder fünf. Ich kann es nicht mehr sagen. Aber keiner von uns war in der Lage, auf den Menschen zu schießen, dem er Auge in Auge gegenüberstand. Es war der Zeitpunkt, da sich zwei junge Menschen, ein Russe und ein Deutscher, gegenseitig das Leben schenkten. Dann machte ich einen Sprung nach vorn und schlug die offen stehende Tür zurück und mit ihr mein Gegenüber. In diesem Moment schon erschienen über dem Hoftor vier, fünf russische Stahlhelme. Der russische Angriff hatte begonnen. Ich schlug Alarm und konnte im Dunkel der Nacht den Schüssen der in den Hof eindringenden Rotarmisten entgehen. Geblieben ist die Erinnerung an den jungen Russen, mit dem ich wenige Sekunden meines Lebens schicksalhaft verbunden war und den ich nun als meinen »Iwan« immer in meinem Bewusstsein haben würde, auch als ständige Mahnung.

LINDNER

Fühlten Sie sich besiegt oder befreit?

GENSCHER

Ich fühlte Dankbarkeit. Dankbarkeit, überlebt zu haben. Dankbarkeit, nicht in russische, sondern in amerikanische Gefangenschaft geraten zu sein. Dankbarkeit, dass Hitler-Deutschland nun vorbei war, insoweit auch befreit. Damals ahnte ich noch nicht, dass es schon wenige Tage später eine sowjetische Besatzungszone geben würde, für die galt: befreit ohne frei zu sein.

LINDNER

In diesem Moment hat für Sie schon ein neues Deutschland begonnen?

GENSCHER

Das haben wir so gespürt, ja. Als wir kurz zuvor südlich von Berlin nach Westen marschierten – immer nur nachts, weil die russischen Jagdbomber am Tage die Straßen beherrschten –, mussten wir plötzlich anhalten. Ein Motorradfahrer kam mit einer Meldung an unseren Kommandeur, das Bataillon – noch etwa 80 Mann – stand um ihn herum. Wir wurden informiert, dass Hitler tot war. Wenck teilte uns das nicht so schwülstig mit wie Dönitz es getan hatte, der vom Führer sprach, der mit der Waffe in der Hand bis zum letzten Atemzug kämpfend gestorben sei. Wencks Tagesbefehl lautete: »Soldaten der 12. Armee: Der Führer ist tot. Ab heute wird die Ehrenbezeigung wieder durch Anlegen der rechten Hand an die Kopfbedeckung erwiesen. Wenck, General der Panzertruppen.«

Man muss dazu wissen, dass nach dem Attentat vom 20. Juli die Wehrmacht mit dem Hitlergruß salutieren musste, was als Demütigung gedacht war. Jetzt werde wieder richtig gegrüßt, das war Wencks einzige Bemerkung zu Hitlers Tod. Das zeigte, was der Mann dachte. Mir hat das einen unglaublichen Vertrauensschub gegeben – einer wie er, der wird es schaffen, uns hier rauszuholen. Trotzdem, die Gefühle waren gemischt, was wird aus uns, was aus unserem Land? Schließlich wussten wir, dass in Deutschland Schreckliches geschehen war.

LINDNER

Richard von Weizsäcker hat in seiner Rede auch gesagt: Wer sich Augen und Ohren nicht zuhielt, wusste, »dass Deportationszüge rollen«. Wussten Sie das auch?

GENSCHER

Sie müssen sich vorstellen, Herr Lindner: Ich hatte damals das Wort Auschwitz noch nicht gehört, aber »Judenverfolgung« reichte ja auch. Es reichte, was wir gesehen hatten: Menschen, die mit einem Stern gebrandmarkt wurden. Menschen, die weggebracht wurden, weil sie Juden waren. Es reichte, was wir hörten: von den Zuständen an der russischen Front, zum Beispiel. Von den Gefangenenlagern, in denen in den ersten Kriegsjahren viele russische Kriegsgefangene verhungerten. Wir hatten selbst die russischen Kriegsgefangenen erlebt, die sich freiwillig zur Flak gemeldet hatten, um dem Hungertod zu entgehen. Was muss die Menschen dazu bewegt haben … Ich habe verstanden, dass so etwas Rachegefühle hervorrufen wird. Aber was würde das konkret bedeuten? Ich konnte mir sicher nicht vorstellen, dass es zu einer Teilung Deutschlands führen würde. Für mich war das ein Land.

Wir gehörten nicht zur Kategorie der Verantwortlichen im Dritten Reich, aber wir fühlten uns in der Verantwortung unseres Volkes stehend – im Guten, aber auch im Schlechten, in dem unendlich Schlechten. Und uns erfasste die Gewissheit, dass unser Land jetzt zur Rechenschaft...

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