Achtsamkeit kommt innerhalb der buddhistischen Lehre eine Schlüsselrolle zu. Sie ist das dominante Element des zur Erleuchtung führenden achtfachen Pfades, also das entscheidende praktische Mittel zur Umsetzung der buddhistischen Theorie der Leidenserlöschung. Sie erfasst alle ihr vorrausgehend aufgeführten Lehren als Methode.
Ausgehend von dieser Erkenntnis werde ich die buddhistische Achtsamkeit aus wissenschaftlicher Perspektive betrachten. Hierzu werde ich zuerst psychotherapeutische Anwendungen von Achtsamkeit untersuchen. Dazu stelle ich eine Evaluation der Achtsamkeit bezüglich ihrer Auswirkungen anhand von Studien zur Achtsamkeitsbasierten Stressreduktion nach Jon Kabat-Zinn dar. Deutlich wird dort außerdem eine praktische Umsetzung von Achtsamkeitsvermittlung und –schulung dem Klienten gegenüber deutlich. Der Schwerpunkt liegt hier auf der Vermittlung von formeller, d.h. durch Meditation geübter Achtsamkeit.
Die Dialektisch-Behavoriale Therapie der Borderlinestörung ist ein ebenfalls evaluiertes Beispiel für die Vermittlung informeller Achtsamkeit, d.h. Achtsamkeitspraxis im Alltag und ohne Meditationsübungen. Gegenstand dieser Therapie ist die Linderung destruktiver, emotionaler Prozesse. Die Klientenzentrierte Psychotherapie nach Carl Rogers beinhaltet schließlich eine auch in der Sozialarbeit praktizierte achtsame Gesprächsführung des Therapeuten/Beraters. Hier wird also die Anwendung der Achtsamkeit durch den Therapeuten/Berater deutlich.
Die pädagogische Anwendung von Achtsamkeit wird zunächst anhand von Studien zur Achtsamkeitsvermittlung an Kinder und Jugendliche dargestellt. Dann betrachte ich ein pädagogisches Konzept, nämlich den Offenen Dialog nach David Bohm als Möglichkeit, Achtsamkeit zu vermitteln, zu nutzen und anzuwenden.
Ein Überblick
Innerhalb psychotherapeutischer Behandlungsformen hat das Konzept der buddhistischen Achtsamkeit eine weite Verbreitung und Wirkung gefunden.[168] Als Pioniere sind hier Kabat-Zinn, Linehan und Hayes zu bezeichnen. Kabat-Zinn hat die Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (Mindfulness-Based Stress Reduction: MBSR ) als Methode zur Stressreduktion bzw. Steigerung der Lebensqualität entwickelt. Linehan konzipierte eine Therapie der Borderlinestörung (Dialektische-Behavoriale Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung: DBT) unter Verwendung von Achtsamkeitsprinzipien. Die von Hayes entwickelte Therapieform, die Akzeptanz- und Commitment Therapie (ACT), beinhaltet Achtsamkeit ebenfalls als ein Hauptelement. Gegenstand der Therapie ist der Abbau von Vermeidungsverhalten und der Aufbau von engagiertem Handeln.
Eine weitere, von Kabat-Zinns MBSR-Methode inspirierte Therapie, die achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie (Mindfulness-Based Cognitive Therapie: MBCT) von Segal, Williams und Teasdale hat die Reduktion von Rückfällen bei bereits mehrfach depressiv Erkrankten zum Ziel. Auch die Rückfallgefahr von Drogenabhängigen ist Gegenstand einer achtsamkeitsbasierten Intervention geworden. [169] Diskutiert wird der Einsatz von Achtsamkeit in Zusammenhang vielfältiger Erkrankungen, wie Essstörungenen, Angstzuständen, Posttraumatische Belastungsstörungen und Zwangserkrankungen.[170]
Deutlich wird also eine bereits erhebliche Bandbreite, sowohl bei bereits durchgeführten und zum größeren Teil auch empirisch überprüften Therapieformen als auch von diskutierten Formen, die das Konzept der Achtsamkeit beinhalten.
Die Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion kurz MBSR ist als Prototyp der achtsamkeitsbasierten und -beeinflussten Therapieverfahren zu bezeichnen. Beinahe alle publizierten Studien zu achtsamkeitsbasierten Interventionen beziehen sich auf diese Therapieform.[171] MBSR wurde auf der ganzen Welt von ca. 200 Programmen übernommen.[172]
Entstanden ist sie bereits in 1979 durch Kabat-Zinn, der in einer medizinischen Klinik ein Zentrum für Patienten mit nach konventioneller Sichtweise unheilbaren, chronischen Krankheiten wie Rückenschmerzen oder Schuppenflechte einrichtete.[173] Hier entwickelte er die MBSR um Menschen in solchen Situationen Linderung und möglicherweise auch Genesung zu verschaffen. Sein Ausgangspunkt war dabei die buddhistische Achtsamkeitsmeditation, die im Theravada begründet liegt, in der Annahme, in dieser ein universelles Heilmittel zu finden.[174] Buddhistisch-religiöse Themen werden hierbei nicht thematisiert.
Das Programm dauert 8 Wochen und besteht aus wöchentlichen 2,5-stündigen Gruppentreffen. In diesen werden die Achtsamkeitsübungen und –prinzipien dargestellt, außerdem wird der Umgang mit angenehmen/unangenehmen Erlebnissen/Gefühlen, Stress, zwischenmenschlicher Kommunikation und Ernährung thematisiert. Die Teilnehmer sollen täglich 45 Minuten lang Achtsamkeitsübungen praktizieren. Hinzukommt ein „Tag der Achtsamkeit“ an dem 6-8 Stunden am Stück Achtsamkeit praktiziert wird.
1.1.1. Zielgruppe der MBSR
Die Zielgruppe besteht zuerst aus Menschen mit akuten oder chronischen körperlichen oder psychischen Beschwerden oder Stresssymptomen, wie z.B. chronischen Schmerzzuständen, häufige Infektanfälligkeit, Ängsten oder Panikattacken, Hauterkrankungen, Schlafstörungen oder Burn-Out-Syndrom. Ebenfalls in Betracht kommen Patienten mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung.
Neben dieser patogenetisch orientierten Anwendungen, werden Kurse auch für weitgehend unbelastete Partnerschaften und für verschiedene Berufsgruppen angeboten. Dies geschieht im Rahmen von Management Trainings und Unternehmungsberatungen sowie für helfende Berufe und solche die innerhalb Gesundheits-, Bildungs-, oder Sozialwesen tätig sind.[175]
MBSR soll keine Therapie ersetzen, sondern zur Verbesserung der Stressbewältigungskompetenz und Entspannungsfähigkeit oder Lebensstiländerung beitragen.
1.1.2. Achtsamkeit in der MBSR
Kabat-Zinn definiert Achtsamkeit als „das Bewusstsein, das entsteht, indem man der sich entfaltenden Erfahrungen von einem Moment zum anderen bewusst seine Aufmerksamkeit widmet, und zwar im gegenwärtigen Augenblick und ohne dabei ein Urteil zu fällen.“[176]
Damit zeigt er die Aspekte bewusste Aufmerksamkeit, Jetzt-Sein und Nicht-Bewerten. Weiterhin weißt aber auch auf das Prinzip der Vergänglichkeit (anicca) hin, das alle Phänomene, auch die des Geistes, bestimmt und das durch Achtsamkeit erfahrbar wird. Er bezieht sich aber auch auf den Begriff des Nicht-Selbst, anatta: „Je weniger man sich mit dem Inhalt der Gedanken identifiziert, das heißt, sie einfach nur registriert, die Wirkung die sie auf uns haben, zur Kenntnis nimmt, und sie sofort wieder loslässt, um so stabiler wird der Zustand der inneren Ruhe und Konzentration.“[177]
Kabat-Zinn beschreibt hier die Folge der Nicht-Identifikation mit den eigenen Gedanken als eine Zunahme von Verständnis und Akzeptanz seiner selbst, die hier im Gegensatz zum Wunsch nach einem besseren Zustand, dem man gerne entsprechen würde, steht.[178]
Die Grundhaltungen der MBSR beschreiben die Haltung, die die Teilnehmer innerhalb der Achtsamkeitsübungen verwirklichen sollen. Diese sind Nicht-Beurteilen, Geduld, den Geist eines Anfängers bewahren, Vertrauen, Nicht-Greifen, Akzeptanz und Loslassen.
Nicht-Beurteilen entspricht dem Nicht-Bewerten. Auch Bewertungen selber werden wahrgenommen ohne sie ihrerseits zu bewerten. Nicht-Greifen bedeutet, dass weder von der Achtsamkeitspraxis etwas erwartet wird, noch dass innerhalb der Praxis Gedanken oder Gefühle „ergriffen“ werden, indem man ihnen nachgeht, sich von ihnen ergreifen lässt oder sie weiterführt und so den Zustand des reinen Beobachtens verlässt. Das Loslassen bezieht sich auf Bewusstseinsinhalte, die bereits ergriffen worden sind und die Aufmerksamkeit vom „Jetzt-Sein“ ablenken, z.B. vergangene Ereignisse.
Akzeptanz meint die Annahme der gegenwärtigen Situation und Person wie sie ist.
Der Geist des Anfängers beschreibt die Unvoreingenommenheit und Offenheit angesichts des Wahrgenommenen. Dinge werden keinen Konzepten untergeordnet, sondern immer wieder neu und auf unmittelbare Weise betrachtet. Dadurch, dass jeder Augenblick als ein neuer betrachtet wird, entsteht die Erkenntnis der Vergänglichkeit und ihrer Möglichkeiten.
Vertrauen und Geduld dienen in erster Linie der Aufrechterhaltung der Praxis, nämlich durch Vertrauen auf die Sinnhaftigkeit der Übungen und der Geduld angesichts von erwarteten Fortschritten und vorkommenden Hindernissen. Das Vertrauen richtet sich außerdem noch auf...