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E-Book

C.G. Jung

Eine sehr kurze Einführung

AutorAnthony Stevens
VerlagHogrefe AG
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl273 Seiten
ISBN9783456753263
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
In diese konzisen Einführung führt Anthony Stevens in alle wichtigen Konzepte der jungschen Psychologie ein: das kollektive Unbewusste, Archetypen, die psychologische Typologie und die Traumsymbolik. Der Autor, Psychiater und jungscher Psychoanalytiker, untersucht Jungs Blick auf so unterschiedliche Themen wie Mythen, Religion, Alchemie, Synchronizität und die Psychologie der Geschlechter. Stevens zeigt zudem, dass Jungs visionäre Gedanken und Schriften vielen Menschen geholfen haben, ein neues Wertesystem zu finden, das sich vom vorherrschenden Materialismus deutlich unterscheidet.

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Leseprobe

Kapitel 2


Archetypen und das kollektive Unbewusste


Im Jahr 1909 wurden Jung und Freud zu Vorlesungen an der Clark University in Worchester im amerikanischen Bundesstaat Massachusetts eingeladen. Sieben Wochen lang waren die beiden unterwegs und analysierten während der Reise ihre Träume. Von allen erörterten Träumen waren zwei entscheidend für den weiteren Verlauf ihrer Freundschaft. Der erste war ein Traum Freuds, den Jung auf Grundlage einiger weniger Assoziationen Freuds zu interpretieren versuchte. Als Jung den Älteren zu weiteren Assoziationen drängte, blickte ihn dieser misstrauisch an und lehnte schließlich mit den Worten ab: «Ich kann doch meine Autorität nicht riskieren!» Doch in diesem Augenblick, so Jung, «hatte er sie verloren. Dieser Satz hat sich mir ins Gedächtnis gegraben. In ihm lag für mich das Ende unserer Beziehung bereits beschlossen. Freud stellte persönliche Autorität über Wahrheit» (Erinnerungen, Träume, Gedanken, S. 162).

Der zweite war ein Traum Jungs. Er träumte, er befinde sich im Obergeschoss eines alten Hauses mit schönen Möbeln und kostbaren Gemälden. Er staunte, dass dies sein Haus sein sollte, und dachte, nicht übel! Dann fiel ihm auf, dass er den Rest des Hauses noch nicht kannte, und ging die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Dort war alles älter, die Einrichtung wirkte mittelalterlich und dunkel. Darauf dachte er, jetzt muss ich das Haus doch ganz explorieren! Er fand zuerst eine schwere Tür, die in ein Kellergewölbe aus römischen Backsteinen führte, und bei der Untersuchung des Bodens entdeckte er in einer der Steinplatten einen Ring. An dem zog er, die Platte hob sich, und darunter führte eine weitere schmale Treppe hinunter in die Tiefe. Am unteren Ende der Treppe befand sich eine in den Felsen gehauene Höhle. Im Staub lagen Knochen und zerbrochene Gefäße, die an die Überreste einer primitiven Kultur erinnerten. Außerdem sah er zwei uralte und schon halb zerfallene menschliche Schädel. Dann erwachte er.

Das Einzige, was Freud an den Träumen interessierte, war die Herkunft der beiden Schädel. Er wollte von Jung hören, wem sie gehörten, denn es schien ihm offensichtlich zu sein, dass er gegen die Besitzer einen Todeswunsch hegte. Jung hatte den Eindruck, dass diese Interpretation völlig an der Bedeutung des Traums vorbeiging, doch er hatte es sich inzwischen angewöhnt, seine Zweifel für sich zu behalten. Für Jung war das Haus ein Bild der Psyche. Das Obergeschoss repräsentierte die bewusste Persönlichkeit. Das Erdgeschoss war die erste Ebene des Unbewussten, die er als «persönliches Unbewusstes» bezeichnen sollte. Die Höhle unter dem Kellergewölbe war dagegen das «kollektive Unbewusste». Dort entdeckte er die Welt des primitiven Menschen selbst. Die Schädel hatten nichts mit einem Todeswunsch zu tun: Sie gehörten unseren menschlichen Vorfahren, die unser gemeinsames psychisches Erbe geprägt haben.

Als er schließlich den Mut aufbrachte, von einem kollektiven Unbewussten zu sprechen, markierte dies den ersten klaren Unterschied zu Freud und seinen vermutlich bedeutendsten Beitrag zur Psychologie. Freud räumte zwar en passant die Existenz «archaischer Reste» in der Psyche ein, doch ihm widerstrebten die weitreichenden Konsequenzen, die Jungs mutiger und revolutionärer Gedanke hatte.

Jungs Konzept war nicht mehr und nicht weniger als ein neues Fundament der Psychologie, das potenziell dieselbe Bedeutung hatte wie die Entdeckung der Quantenmechanik in der Physik. So wie Physiker Teilchen und Wellen untersuchen und Biologen Gene, so sollten die Psychologen nach Ansicht von Jung das kollektive Unbewusste und seine Grundbausteine untersuchen – die Archetypen, wie er sie später nennen sollte. Archetypen sind «universale, identische Strukturen der Psyche» (Wandlungen und Symbole der Libido, GW 5, S. 200) und die «in allen Menschen gleichen Reste uralten Menschtums» (ebda, S. 224). Im Grunde waren sie nichts anderes als in Gehirn und Psyche angelegte Strukturen, die für die Einleitung, Kontrolle und Vermittlung bestimmter für alle Menschen typischer Verhaltensweisen und Erfahrungen verantwortlich sind. In bestimmten Situationen bewirken Archetypen daher in verschiedenen Menschen ähnliche Gedanken, Bilder, Mythologeme und Gefühle, ganz unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit, ihrer ethnischen und geografischen Herkunft oder der historischen Epoche. Die archetypische Ausstattung eines Menschen ist das kollektive Unbewusste, seine Autorität und Macht ruht in einem zentralen Kern, der für die Integration der gesamten Persönlichkeit verantwortlich ist und den Jung «Selbst» nannte.

Jung widersprach Freud nicht, dass die persönliche Erfahrung von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung jedes Menschen ist, doch er bestritt, dass diese Entwicklung in einer unstrukturierten Persönlichkeit stattfand. Für Jung diente die persönliche Erfahrung vielmehr dazu, das bereits Vorhandene zu entwickeln, also das im Selbst angelegte archetypische Potenzial zu verwirklichen. Unsere Psyche ist keineswegs das ausschließliche Produkt unserer Erfahrung, genauso wenig wie unser Körper das ausschließliche Produkt der Nahrung ist, die wir zu uns nehmen.

Dies verdeutlicht die schematische Darstellung von Jungs Modell der Psyche in Abbildung 15. Wir sollten uns das Modell als dreidimensionale Kugel vorstellen, wie eine Zwiebel mit drei Schichten. Im Zentrum befindet sich das Selbst, das auf das gesamte System wirkt. Die innerste der drei Hüllen steht für das kollektive Unbewusste, das sich aus Archetypen zusammensetzt. Die äußere Hülle ist das Bewusstsein mit seinem Ich, das das System umkreist wie ein Planet die Sonne. Dazwischen befindet sich das persönliche Unbewusste, das aus Komplexen besteht, die wiederum zu Archetypen in Beziehung stehen. Komplexe sind Personifizierungen der Archetypen, also das Medium, über das sich die Archetypen in der persönlichen Psyche manifestieren.

Jungs Archetypen haben gewisse Ähnlichkeit mit Platons Ideen. Der griechische Philosoph stellte sich Ideen als rein geistige Formen vor, die schon vor der Entstehung des menschlichen Lebens in den Gedanken der Götter existierten und daher jenseits der Welt der Phänomene existieren. Sie sind kollektiv, da sie die allgemeinen Eigenschaften eines Objekts verkörperten, doch sie sind auch implizit in seiner jeweils spezifischen Manifestation. Der menschliche Fingerabdruck ist beispielsweise aufgrund seiner unverkennbaren Konturen und Wirbel sofort als Idee des Fingerabdrucks erkennbar. Doch jeder Fingerabdruck hat seine ganz einmalige Form, weshalb Diebe Handschuhe tragen sollten, wenn sie beim Einbruch nicht erwischt werden wollen. Auch Archetypen verbinden das Universelle mit dem Individuellen und das Allgemeine mit dem Besonderen, denn sie sind allen Menschen gleich und äußern sich doch in jedem Menschen auf ganz einmalige Weise.

Abbildung 15: Schematische Darstellung von Jungs Modell der Psyche

Die Vielfalt der Archetypen


Der wichtigste Archetypus, der sich in der persönlichen Psyche des Kindes verwirklicht, ist der Archetypus der Mutter. Die Aktivierung eines Archetypus (Jung spricht auch von «Manifestation» oder «Konstellation») erfolgt offenbar nach den Gesetzen der Assoziation, wie sie die Psychologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt hatte. Zwei dieser Gesetze sind besonders zutreffend: das Gesetz der Ähnlichkeit und das Gesetz der Nähe. Beispielsweise wird der Archetypus «Mutter» in der Psyche des Kindes aktiviert, weil sie dem Kind nah ist und weil ihr Verhalten und ihre persönlichen Eigenschaften der angeborenen Struktur des Archetypus so nahe kommen, dass das Kind sie als Mutter erkennt und erlebt. Im weiteren Verlauf der Beziehung wird der Archetypus in Form eines Mutterkomplexes in der kindlichen Psyche aktiviert. Gleichzeitig wird in der Mutter durch Ähnlichkeit und Nähe der Archetypus «Kind» aktiviert. Jeder Partner dieses Paars schafft ein Wahrnehmungsfeld, das den Archetypus des jeweils anderen aktiviert.

Zu Jungs Lebzeiten nahmen die meisten Psychologen an, Kinder seien nichts als passive Empfänger der mütterlichen Fürsorge und entwickelten eine Bindung zur Mutter, weil sie von dieser gefüttert werden. Jung war dagegen der Auffassung, dass Kinder aktiv am Aufbau sämtlicher Beziehungen zur Welt beteiligt sind, und meinte, es sei «ein großer Irrtum, anzunehmen, die Seele des neugeborenen Kindes sei in dem Sinne, als ob überhaupt nichts drin sei» («Über den Archetypus mit besonderer Berücksichtigung des Animabegriffes», GW 9/I, S. 81). Vielmehr bringen wir eine angeborene psychische Struktur mit, die uns in die Lage versetzt, typisch menschliche Erfahrungen zu machen.

So setzt das ganze Wesen des Mannes die Frau voraus, körperlich sowohl wie geistig. Sein System ist apriori auf die Frau eingestellt, ebenso wie es auf eine ganz bestimmte Welt, wo es Wasser, Licht, Luft, Salz, Kohlenhydrate und so weiter gibt, vorbereitet ist. Die Form der Welt, in die er geboren wird, ist ihm bereits als virtuelles Bild eingeboren. Und so sind ihm Eltern, Frau, Kinder, Geburt und Tod als virtuelle Bilder, als psychische Bereitschaften eingeboren. Diese apriorischen Kategorien sind natürlich kollektiver Natur, es sind Bilder von Eltern, Frau und Kindern im Allgemeinen und wohl keine individuellen Prädestinationen. Sie sind in gewissem Sinne die Niederschläge aller Erfahrungen der Ahnenreihe, aber nicht diese Erfahrungen selbst (Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten, GW 7, S. 199).

All jene Faktoren also, welche unseren nahen und fernen Vorfahren wesentlich waren, werden auch uns wesentlich sein, denn sie entsprechen dem...

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