Die Welt ist in Bewegung.
Globalisierung ist sicherlich eines der am meisten verwendeten sozialwissenschaftlichen Modewörter zur Beschreibung des Strukturwandels gegenwärtiger Gesellschaften. Wie schon die Globalisierung in den 90er-Jahren sind auch Begriffe wie internationale Migrationsbewegung oder Transnationalisierung heute unter dem Oberbegriff der Megatrends[1] bekannt. Sie verändern Gesellschaften und beeinflussen Menschen rund um den Globus. Der Megatrend Mobilität prägt das gegenwärtige Leben in einer globalisierten Gesellschaft so nachhaltig wie kaum ein anderer, denn Mobilität ist die Basis unseres Lebens und Wirtschaftens. Sie bedeutet Beweglichkeit, Wandlungsfähigkeit und Veränderung – sowohl gesellschaftlich als auch individuell. Der weltweite Austausch von Informationen und Waren sowie die Möglichkeit, unabhängig von Jahreszeiten im Supermarkt Produkte aus aller Welt kaufen zu können, werden von den meisten Menschen als vollkommen selbstverständlich empfunden. Die kulturelle Globalisierung stellt gegenwärtig hohe Mobilitätsanforderungen an die Menschen und veranlasst sie häufiger als jemals zuvor, ihr Heimatland zu verlassen um in einem anderen Land ein neues Leben zu beginnen. Ähnlich verhält es sich mit der Internationalisierung menschlicher Lebenszusammenhänge, einer der vielleicht größten Veränderungen des 21. Jahrhunderts. Was auf der einen Seite Risiken und Unsicherheit impliziert, bietet auf der anderen Seite neue Chancen, eine größere Optionenvielfalt und die Möglichkeit, Neues zu entdecken und zu erfahren. Internationale Migrationsbewegungen sind kein neues Phänomen der Geschichte, in Zeiten von Globalisierung verändert sich allerdings ihr Charakter. Durch die zunehmende Durchlässigkeit nationalstaatlicher Grenzen können räumliche Distanzen leichter denn je überwunden werden und neue Kommunikations- sowie Transporttechnologien erhöhen die Geschwindigkeit dieses Trends. Das gegenwärtige Ausmaß und die Muster dieser Mobilität verweisen auf ein Novum.
Auch in Deutschland findet hinsichtlich der Bevölkerungsanteile von Inländern, Ausländern, Eingebürgerten, Zu- und Fortgezogenen ein demografischer Wandel statt. Denn anders als bislang öffentlich wahrgenommen ist auch Deutschland schon lange ein Einwanderungsland (vgl. OECD, Berlin Centre, 2013). Im ersten Halbjahr des Jahres 2014 sind nach vorläufigen Ergebnissen des Statistischen Bundesamtes ca. 667.000 Menschen nach Deutschland zugezogen, etwa 112.000 mehr als im ersten Halbjahr des Vorjahres. Von allen im ersten Halbjahr 2014 zugewanderten Menschen besaßen rund 611.000 eine ausländische Staatsangehörigkeit. Dies waren ca. 110.000 Personen und somit 22 % mehr als im ersten Halbjahr des Jahres 2013 (vgl. Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Februar 2015a, 1). Währenddessen zogen im ersten Halbjahr 2014 rund 427.000 Menschen aus Deutschland fort. Insgesamt hat sich somit der Wanderungssaldo von 206.000 im Vorjahr auf rund 240.000 Personen erhöht (vgl. Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Februar 2015a, 1). Mit einem steigenden Wanderungssaldo gewinnt auch der Themenkomplex Familie und Migration zunehmend an Bedeutung. Für viele dieser Menschen führt die Migration zu einem geplanten oder auch ungeplanten dauerhaften Landeswechsel, was nicht nur für die jeweiligen Einzelbiografien, sondern auch für die dazugehörigen Familien prägend ist, denn Migration ist, anders als häufig dargestellt, in den meisten Fällen keine Individualentscheidung. In aller Regel werden Migrationsentscheidungen in familiären Netzwerkstrukturen häufig vor dem Hintergrund beruflicher Perspektiven gemeinsam gefällt, organisiert und auch umgesetzt (vgl. Pries 2010, 37).
Galt die Familie zu Beginn der 1950er-Jahre noch als „eine auf Dauer angelegte Beziehung zwischen Mann und Frau mit einem gemeinsamen Kind und einer gemeinsamen Haushaltsführung […]“ (Endruweit, Trommsdorff und Burzan 2014, 120), so hat sich die Sicht auf sie im Zeitalter globaler Megatrends spürbar verändert. Familie wird in ihrer Form und Funktion nicht nur durch den Wandel vom nationalstaatlichen Industrialismus zu einer globalisierten und internationalisierten Informationsgesellschaft geprägt, auch die interdisziplinär oft beschriebenen Neuzeit-Phänomene der Pluralisierung, Individualisierung und Differenzierung von Lebensentwürfen stellen das konventionelle Bild einer „Normalfamilie“[2] infrage. Wirtschaftliche, technische und auch kulturelle Veränderungen markieren seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert eine deutliche Intensivierung der Transnationalisierungsprozesse (vgl. Pries 2008, 20). Als Entwicklung jenseits von Globalisierung und Nationalstaat gewinnen grenzüberschreitende Beziehungen unweigerlich an Bedeutung, so auch bei Familienmitgliedern in der internationalen Migration. Durch eine Vielzahl an Motivationen zur Migration und dem damit verbundenen Verlassen des Heimatlandes entstehen grenzüberschreitende Kontakte, Beziehungen und soziale Netzwerke. Menschen in der Migration halten über große Distanzen hinweg engen Kontakt zu Freunden und Familienangehörigen aus ihrer Herkunftsregion (vgl. Pries 2008, 15). Unweigerlich unterliegt in diesem Zusammenhang auch das Familienleben tiefgreifenden Veränderungen. Vor dem Hintergrund von Mobilität und Transnationalisierung ergeben sich für die Familie im 21. Jahrhundert neue Chance aber auch neue Herausforderungen. Lässt sich ein Mensch in einem anderen Land nieder, so hat dies eine wiederholte oder gar dauerhafte Trennung von seinen Familienangehörigen zur Folge. Dort, wo weltweite Mobilität möglich ist und sich die internationale Migration verstärkt, entwickeln sich transnationale Familienverbünde. Der Begriff transnationale Familien wird dabei für jene Familien verwendet, die ihr Leben zumindest zeitweise zwischen verschiedenen geografischen Räumen organisieren, beispielsweise dann, wenn Teile der Familie regelmäßig den Wohnort wechseln oder einzelne Familienmitglieder auf Dauer, bestimmte oder unbestimmte Zeit getrennt von Angehörigen in einem anderen Land leben. Vor allem durch grenzüberschreitende Arbeitsmigration werden transnationale Beziehungen, die verschiedene Orte der Welt miteinander verbinden, täglich neu geschaffen (vgl. Pries, 2008, 18). Die Transnationalisierung von Familien kann hierbei sowohl Herausforderung als auch Chance sein.
Im Allgemeinen soll in der vorliegenden Arbeit auf die Folgen der zunehmenden Transnationalisierungstendenzen für die Lebensform Familie im 21. Jahrhundert eingegangen werden, um zu zeigen, dass sich für transnationale Familienverbünde aus der räumlichen Trennung sowohl Chancen als auch Grenzen ergeben. Im Besonderen soll analysiert werden, in welcher Form internationale Migration Einfluss auf den familiären Zusammenhalt haben kann und wie die alltägliche Lebenswelt transnationaler Familienverbünde dadurch beeinflusst wird. Im Mittelpunkt stehen dabei insbesondere jene transnationalen Familienverbünde, die ihr gemeinsames Leben nach dem Migrationsakt eines oder mehrerer Familienmitglieder über Ländergrenzen hinweg organisieren, sowie deren Bedürfnisse und Bewältigungsstrategien zur Aufrechterhaltung der familiären Einheit. Aus einer transnationalen Perspektive soll gezeigt werden, wie sich die Erfahrungen internationaler Migration auf Familienbeziehungen auswirken und in welcher Form sie Einfluss auf Kommunikationsstrukturen und -strategien sowie Zugehörigkeitsgefühle und Alltagsgestaltung nehmen.
Das 2. Kapitel dieser Arbeit, Familie in der soziologischen Forschung, setzt sich als theoretische Grundlage mit dem Forschungsfeld der Familiensoziologie auseinander, auf dessen Basis anschließend eine Annäherung an die Definition von Familie erfolgt. Im Anschluss daran werden vier historisch-soziologische Familienmodelle erläutert, um darauf aufbauend zu diskutieren, ob das gegenwartsnahe Familienmodell Hans Bertrams noch eine zeitgemäße Darstellung der Lebensform Familie im 21. Jahrhundert widerspiegelt oder ob es um den Aspekt der transnationalen Familienbeziehungen zu erweitern ist.
Unter der Überschrift Transnationalisierung: Begriffsdefinition, Konzept, Abgrenzung werden zuerst im Allgemeinen die Schlüsselvokabeln Transnationalisierung und Globalisierung thematisiert, um sie insbesondere vom Konzept des methodologischen Nationalismus abzugrenzen. Das verbindendende theoretische Element und den konzeptionellen Rahmen zwischen den Themenfeldern Familie und Transnationalisierung bildet dabei die Frage ihres Zusammenwirkens und die sich daraus ergebenden Chancen und Herausforderungen für transnationale Familienverbünde. Kapitel 4 erläutert das Konzept der grenzüberschreitenden Vergesellschaftung. Dazu werden fünf spezifische Typen familiärer Migration vorgestellt, um nachfolgend in Kapitel 5 darzulegen, inwiefern transnationale soziale Beziehungen, -Netzwerke und -Räume als Ausgangspunkt und Basis für familiären Zusammenhalt über nationalstaatliche Grenzen hinweg fungieren können.
In Kapitel 6, Transnationale alltägliche Lebenswelten, schließt sich ein Einblick in die alltägliche Lebenswelt transnationaler Familien im Allgemeinen und die Darstellung konkreter Familiensituationen anhand von Beispielen im Besonderen an. Dazu werden die empirischen Studien Barbara Puschs, „Transnationale Familienkontexte von MigrantInnen in der Türkei“, und Katharina Zolls, „Stabile Gemeinschaften. Transnationale Familien in der...