Sie sind hier
E-Book

Chancen und Risiken der Sozialraumbudgetierung in der Kinder- und Jugendhilfe

AutorThomas Mai
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl151 Seiten
ISBN9783640274376
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2002 im Fachbereich Pädagogik - Sonstiges, Note: 1,0, Universität Trier, 93 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Beschreibung und Analyse ausgewählter Modelle zur Sozialraumbudgetierung in den Erziehungshilfen. Die Absicht ist dabei nicht eine umfassende, detaillierte Projektbeschreibung; vielmehr liegt der Fokus auf den prinzipiellen Merkmalen und - darauf aufbauend - auf der Frage nach Folgen, Auswirkungen, offenen Fragen und Widersprüchlichkeiten für die an sozialen Dienstleistungen beteiligten Akteure und das System der Erziehungshilfen als Ganzem.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

2 Wurzeln und Hintergründe


 

2.1 Fachliche Wurzeln der Sozialraumorientierung


 

Die Begriffsvielfalt der letzten Jahre[4], insbesondere im Bereich der Erziehungshilfen, erscheint auf den ersten Blick verwirrend und unübersichtlich. Mit ausgelöst durch die Einführung des KJHG, aber auch schon vorher vorhanden, fand und findet eine kontroverse Diskussion um „den richtigen Weg“ zur Organisation der Hilfen für Kinder, Jugendliche und ihre Familien statt. Verstärkt rückt dabei die Dimension des sozialen Raums in den Vordergrund.

 

Die Sozialraumorientierung[5] stellt dabei kein eigenständiges Konzept dar, sondern steht in einem instrumentellen Verhältnis zu theoretischen Grundlegungen (vgl. Bürger 2001). Von den verschiedenen Autoren, die sich im Kontext von Sozialraumorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe zu Wort melden, werden unterschiedliche theoretische Begründungslinien und fachliche Diskussionsbezüge zum Konzept einer sozialräumlich(en) (organisierten) Sozialen Arbeit hergestellt. Diese Begründungslinien werden im folgenden dargestellt.

 

2.1.1 Die Wurzel der Gemeinwesenarbeit


 

Eine Begründungslinie wird in der Tradition der Gemeinwesenarbeit gesehen (vgl. bspw. Olk in JSB 2000, S. 12 f, Wolff in EREV 2000, S. 7 f) und verweist damit auf die Entstehungsgeschichte der Sozialen Arbeit. Ende des 19. Jahrhunderts entstanden in den armen Arbeitervierteln in England die settlements[6]. Ausgangspunkt der settlements war die soziale Notlage breiter Bevölkerungsschichten, die durch die Industrialisierung im 19. Jahrhundert entstanden war. Ziel der settlements, die v.a. von Kirchen und Intellektuellen getragen wurden, war dementsprechend, einerseits materielle und immaterielle Hilfsleistungen zu organisieren, andererseits aber auch Einfluß auf die entstehende Sozialgesetzgebung zu nehmen, um die Notlagen der Armen und Arbeiter nachhaltig zu verbessern (vgl. Wolff 2000, S. 7). Im Kontext von Sozialraumorientierung ist die Bewegung der settlements insofern bemerkenswert, als sie für eine Richtung innerhalb der Sozialen Arbeit steht, die den Hauptfokus nicht primär auf die Hilfe im Einzelfall legt, sondern in der durch bürgerschaftliches Engagement, Bildung und Einmischung in die Sozialpolitik, Reformen und sozialer Wandel im Sinne besserer Lebensverhältnisse erreicht werden sollte (vgl. Wendt 1995, S. 150 ff)[7]. Dabei ging es der Bewegung auch um eine ethische Erneuerung im Sinne einer „moralischen Ökonomie“ und ausgleichender Gerechtigkeit entgegen dem Egoismus einer schrankenlosen Wirtschaftsfreiheit und ihrer sozialen Folgen. Ein zentrales Merkmal der Konzeption ist im Kooperationsgedanken zu sehen: Kooperation bzw. die Erziehung zur Kooperation wurde als zentrales Prinzip des Ausgleichs innerhalb einer als gespalten erlebten Gesellschaft gesehen[8]. Kulturelle Veranstaltungen, in denen Geselligkeit die zentrale Rolle spielte, wurden innerhalb der Armenviertel initiiert. Daneben wurden eine Vielzahl verschiedener Aktivitäten gestartet, bspw. eine Gesellschaft für gefallene Mädchen gegründet, Spielplätze gebaut, Erholungsverschickungen initiiert, Jugendtreffs und eine Rechtsberatungsstelle eingerichtet. All diese Beispiele belegen den Ansatzpunkt der settlements, in der soziale Arbeit als Arbeit an einer sozialen und kulturellen Infrastruktur zu verstehen sei, die v.a. die Lebensverhältnisse und nicht ausschließlich den einzelnen Fall in den Blick nimmt. Dabei spielte auch die Gestaltung der äußeren Umwelt (Erhalt und Neuschaffung von Parkanlagen und Spielplätzen) eine wichtige Rolle. All diese Aktivitäten waren auf den Stadtteil begrenzt, in dem das jeweilige settlement angesiedelt war[9]. Im Verlauf ihrer Aktivitäten machten die settlements u.a. die Erfahrung, daß nachhaltige Veränderungen nur durch eine Einmischung in die lokale Politik zu erreichen waren.

 

So modern diese Beschreibung der frühen settlement-Bewegung aus dem Blickwinkel der Diskussion um Sozialraumorientierung heute scheinen mag, stimmen zwei (Rand-)Bemerkungen von Wendt (1995, S. 154 und S.156) nachdenklich: Zum einen stellt er fest, daß die settlements, trotz intensiver Bemühungen, sich auf die Bewohner der Slums einzustellen, nur einen begrenzten Zugang zu den Umgangsformen gefunden haben. Dies wirft die Frage auf, ob die „Künstlichkeit“ der Hilfeformen Sozialer Arbeit in der Lage ist, einen erhofften engen Bezug zu den Lebenswelten der Adressaten zu ermöglichen, bzw. ob dieser enge Bezug von den Adressaten gewollt und als hilfreich bewertet wird.

 

Zum anderen beschreibt Wendt, daß viele Aktivitäten innerhalb der settlements wieder einschliefen, nachdem die Energie der Gründergeneration verloren war. Aus Sicht von Modellen der Sozialraumbudgetierung könnte man argumentieren, daß eine geeignete organisatorische Absicherung der settlement-Bewegung fehlte. Andererseits könnte man argumentieren, daß reformatorische Bewegungen generell an dem Vorhandensein charismatischer Persönlichkeiten hängen, die für eine bestimmte Zeit eine inhaltliche Richtung forcieren, aber nur geringe Umsetzungschancen in der Breite eines Hilfssystems haben.

 

Die settlement-Bewegung in England hatte in der Folge auch Einfluß auf die Entwicklung in anderen Staaten. Vor allem in den USA entwickelte sich auf der Grundlage einer umfangreichen Vereinstätigkeit (auch mit politischen Bezügen) die settlement-Bewegung auf einer breiteren Basis. In den USA ist die Bewegung v.a. mit dem Namen Jane Addams und dem „Hull House“ verbunden. Die Orientierung auf den gesamten Organismus eines Gemeinwesens in Abgrenzung zur einzelfallorientierten Strategie des COS wird in folgendem Zitat deutlich:

 

It has been the aim of the residents to respond to all sides of the neighborhood life: not to the poor people alone, nor to the well-to-do, nor to the young in contradiction to the old, but the neigborhood as a whole. (Jane Addams zit. nach Wendt 1995, S. 158)

 

Entsprechend dem grundlegenden Erklärungsansatz der settlements, soziale Notlagen im Zusammenhang mit den jeweiligen Lebensverhältnissen innerhalb eines sozialen Nahraums zu sehen und zu bearbeiten, spielte insbesondere in den USA die systematische Untersuchung dieser Verhältnisse (Arbeitslosigkeit, Unterbezahlung, Bildung, hygienische Verhältnisse und Gesundheit usw.) mit Methoden der empirischen Sozialforschung eine wichtige Rolle. Einerseits sollten diese Untersuchungen belegen, daß nicht die „sittliche Verwahrlosung“ des Einzelnen und deren Bearbeitung Ansatzpunkt sozialer Arbeit sein könne, zum anderen dienten die Ergebnisse der Untersuchungen als Grundlage der Auseinandersetzung innerhalb der kommunalpolitischen Einmischung der settlements. Dieser Aspekt einer systematischen Untersuchung von Belastungsfaktoren innerhalb verschiedener sozialer Räume spielt auch in den Konzepten zur Sozialraumbudgetierung als rationale Ressourcensteuerung und am Bedarf des sozialen Raums orientierter Infrastrukturentwicklung eine Rolle[10].

 

Die kontroverse Diskussion um die Muster sozialer Arbeit als Einzelfallhilfe versus sozialraumorientierter „Gemeinwesenarbeit“ zeigt, daß das Anfang des 19. Jahrhundert entstandene Spannungsverhältnis noch nicht gelöst ist.

 

Im Zuge der Professionalisierung sozialer Arbeit entwickelte sich – zunächst in den USA der 20er und 30er Jahre – neben dem case work und dem group work die community work als eigener methodischer Ansatz in der sozialen Arbeit. In Auseinandersetzung mit dem Regime des Nationalsozialismus in Deutschland geriet das Konzept Gemeinwesenarbeit allerdings in Verruf. Es wurde als „harmonistisches“ Konzept kritisiert, in dem die Gemeinschaft an sich als zentraler Wert und unabhängig von den gesellschaftlichen Umständen angenommen wird und sich somit für politische und ideologische Zielsetzungen mißbrauchen ließe[11].

 

In Europa spielte die Methode der Gemeinwesenarbeit erst nach 1950 wieder eine wichtige Rolle. Vor allem in den Niederlanden, transportiert durch ein gesellschaftspolitisches Interesse, wurden Programme zur planmäßigen regionalen Entwicklung initiiert, in denen insbesondere die Beteiligung der Bürger eine wichtige Rolle spielte. Als Aufgaben dieser Programme wurden Nachbarschaftsarbeit, Mitwirkung der Sozialarbeit bei der Slumbeseitigung und Sanierung von Stadtvierteln sowie Schaffung von Gremien für Kooperation und Koordination beschrieben (vgl. Wendt 1995, S. 263 f).

 

In der gesellschaftlichen Aufbruchstimmung Ende der 60er Jahre wuchs das Interesse und das Ansehen der Gemeinwesenarbeit erheblich. In dieser Phase genügte der bislang unpolitische, integrative Anspruch der Methode nicht mehr. Mit dem Begriff der „konfliktorientierten Gemeinwesenarbeit“, der durch den amerikanischen Gewerkschaftler Saul Alinsky geprägt wurde, ging es um das aktive und radikale Eintreten für soziale Gerechtigkeit. Professionelle sollten gezielt für unterprivilegierte Gruppen Partei ergreifen, diese mobilisieren und dadurch eine Bürgeropposition gegen das etablierte Machtsystem aufbauen. Das Arbeitsprinzip Gemeinwesenarbeit wurde für politische Zielsetzungen funktionalisiert (vgl. Wendt 1995, S. 265).

 

Mitte bis Ende der 70er Jahre, im Zuge der teilweisen Rücknahme...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Pädagogik - Erziehungswissenschaft

Weitere Zeitschriften

FESTIVAL Christmas

FESTIVAL Christmas

Fachzeitschriften für Weihnachtsartikel, Geschenke, Floristik, Papeterie und vieles mehr! FESTIVAL Christmas: Die erste und einzige internationale Weihnachts-Fachzeitschrift seit 1994 auf dem ...

Ärzte Zeitung

Ärzte Zeitung

Zielgruppe:  Niedergelassene Allgemeinmediziner, Praktiker und Internisten. Charakteristik:  Die Ärzte Zeitung liefert 3 x pro Woche bundesweit an niedergelassene Mediziner ...

Bibel für heute

Bibel für heute

BIBEL FÜR HEUTE ist die Bibellese für alle, die die tägliche Routine durchbrechen wollen: Um sich intensiver mit einem Bibeltext zu beschäftigen. Um beim Bibel lesen Einblicke in Gottes ...

DER PRAKTIKER

DER PRAKTIKER

Technische Fachzeitschrift aus der Praxis für die Praxis in allen Bereichen des Handwerks und der Industrie. “der praktiker“ ist die Fachzeitschrift für alle Bereiche der fügetechnischen ...

Die Versicherungspraxis

Die Versicherungspraxis

Behandlung versicherungsrelevanter Themen. Erfahren Sie mehr über den DVS. Der DVS Deutscher Versicherungs-Schutzverband e.V, Bonn, ist der Interessenvertreter der versicherungsnehmenden Wirtschaft. ...

e-commerce magazin

e-commerce magazin

PFLICHTLEKTÜRE – Seit zwei Jahrzehnten begleitet das e-commerce magazin das sich ständig ändernde Geschäftsfeld des Online- handels. Um den Durchblick zu behalten, teilen hier renommierte ...

FileMaker Magazin

FileMaker Magazin

Das unabhängige Magazin für Anwender und Entwickler, die mit dem Datenbankprogramm Claris FileMaker Pro arbeiten. In jeder Ausgabe finden Sie von kompletten Lösungsschritten bis zu ...