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Chancen zur Enthospitalisierung und De-Institutionalisierung für Menschen mit geistigen Behinderungen?

Entflechtung der psychiatrischen Landeskrankenhäuser und deren Folgen für die Behindertenhilfe im Land Sachsen-Anhalt

AutorBrigitte McManama
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl515 Seiten
ISBN9783640732630
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Doktorarbeit / Dissertation aus dem Jahr 2010 im Fachbereich Pädagogik - Sonstiges, Note: summa cum laude, Universität Bremen, Veranstaltung: Behindertenpädagogik, Sprache: Deutsch, Abstract: Diese Arbeit ist ein Beitrag zur Dokumentation der Sozialgeschichte des neuen Bundeslandes Sachsen-Anhalt von seiner Gründung 1991 bis 2006, in deren Mittelpunkt ehemalige DDR-BürgerInnen mit geistigen Behinderungen und das sie pflegende und betreuende Personal in den psychiatrischen Landeskrankenhäusern nach der Wende stehen. Es handelt sich um eine Epoche der Einführung des westdeutschen Sozialhilfesystems in Ablösung des DDR-Gesellschaftssystems, in der eigentlich die seit den 1960er Jahren propagierten Paradigmen der Behindertenhilfe umgesetzt werden sollten. Hierzu zählten vor allem individuelle und strukturelle Entpsychiatrisierungs-, De-Institutionalisierungs- und Enthospitalisierungsmaßnahmen, die zur Verwirklichung der Normalisierungsprinzipien und zur Integration behinderter Menschen beitragen sollten. Es werden Faktoren beschrieben, die diesen Landesprozess - und den im LKH Uchtspringe im besonderen - beeinflusst und verhindert und welche Auswirkungen diese auf die betroffenen behinderten Menschen haben. Neben einer Gegenstandsrelevanten Gegenüberstellung der historischen Momente zur Situation von Menschen mit geistigen Behinderungen in der DDR und der BRD, der Beleuchtung des Subsidiaritätsprinzips im Zusammenhang mit Reformen in der Behindertenhilfe und weiteren grundlegenden sozialwissenschaftlichen Grundlagen handelt sich um eine sehr differenzierte Dokumentation des Aufbaus der Sozialverwaltung mit dem Schwerpunkt der Behindertenhilfe in dem neuen Bundesland, der Auseinandersetzung mit der Psychiatriereform im Landtag und anderen politischen Gremien sowie des Verhaltens der Träger der Freien Wohlfahrtspflege. Letzteres wird explizit in der Beschreibung der Rolle der Diakonie in den dann letztlich gescheiterten Verhandlungen zur Übernahme des Heimbereiches am LKH Uchtspringe deutlich. Neben einer Analyse des Prozesses erfolgt ein Ausblick auf die Konsequenzen der bisherigen Behindertenpolitik für die kommenden Jahre, in denen nun - zur Erfüllung der UN-Konvention für Menschen mit Behinderungen - erneut Reformen eingeleitet werden müssen, die man bereits vor 20 Jahren hätte berücksichtigen müssen. Das Buch beinhaltet wichtige Hinweise, die für diese anstehenden Aufgaben dienlich sein können. Es handelt sich um ein einzigartiges Werk zu dem Thema 'Enthospitalisierung' und 'De-Institutionalisierung', da von einer Autorin geschrieben, die sich seit Jahrzehnten wissenschaftlich und praktisch mit diesem Anliegen befasst.

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Leseprobe

Anstatt sich erst mit Hilfe ideologischer Begriffe

ein versöhnliches Bild der sozialen Wirklichkeit zurechtzustilisieren

und sich dann mit den Verhältnissen, wie sie sind, getröstet abzufinden,

muß Wissenschaft die Härte dessen, was ist, zum Bewusstsein erheben.

 - Theodor W. Adorno 1979 -

 

I. Gegenstand und theoretischer Rahmen


 

Hauptgegenstand der Arbeit ist die Betrachtung der ersten 15 Jahre Behindertenhilfe in dem 1990 gegründe­ten neuen Bundesland Sachsen-Anhalt, mit geschichtlichem Bedeutungsfokus auf die unterschiedlichen sozi­alpolitischen Entwicklungen in der DDR und der BRD vor der Vereinigung und auf die damit einhergehen­den Paradigmenwechsel im Zusammenhang mit dem Prozess der Umsetzung des sogenannten „Enthospitali­sierungsauftrages“ bei der Entflechtung der psychiatrischen Landeskrankenhäuser, mit dem Schwerpunkt der Auswirkungen für Menschen mit geistigen Behinderungen.

 

Der Entflechtungs- und Enthospitalisierungsauftrag

 

Die Lebens-/Versorgungssituation der Menschen mit geistigen Behinderungen und die der chronisch psy­chisch Kranken ähnelte 1990 in Sachsen-Anhalt in ihren menschenunwürdigen Verhältnissen denen der BRD zu der Zeit als die Psychiatrie-Enquête (1973-1975) erarbeitet wurde: In Großanstalten und Landeskranken­häusern, sowie in anderen so genannten „Mischeinrichtungen“ in marodem baulichen Zustand, waren akut psychisch Kranke, chronisch psychisch Kranke, geistig behinderte Menschen mit sehr unterschiedlichen Be­hinderungsarten und -graden, Suchtkranke und altersdemente Menschen untergebracht, zusammengefasst in Großgruppen, in Massenschlafsälen, vorwiegend ohne Beschäftigung / Förderung oder als Hilfskräfte ohne Vergütung eingesetzt, viele von ihnen hochgradig sediert, andere – bzw. zum Teil die gleichen Personen – hinter verschlossenen Türen oder gar fixiert.

 

 

Der Auftrag zur „Entflechtung“ mit dem inhaltlichen Ziel der „Enthospitalisierung“ leitet sich ab von der „Psychiatrie-Enquête“, die 1975 in der BRD von einer durch den deutschen Bundestag beauftragten Exper­ten-Kommission als Empfehlung zur Psychiatriereform erarbeitet wurde und von da an einen wesentlichen, teilweise verpflichtenden Leitfaden für behinderten-/sozial-/gesundheitspolitische Gesetze und Maßnahmen darstellte und bis heute, mit notwendigen Ergänzungen, sozialpolitische Gültigkeit hat.

 

Artikel 1,(1) des von der DDR und der BRD geschlossenen Einigungsvertrages vom 31. August 1990 de­klariert den „Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland“ am 3. Ok­tober 1990 und beschreibt im folgenden die Anwendung des bundesdeutschen Rechtes für die fünf „Beitritts­länder“. Diese Überleitung implizierte u.a. das bundesdeutsche Sozialrecht. In diesem Zusammenhang wird auch die Übertragung der Empfehlungen durch die Psychiatrie-Enquête gesehen. Sie gilt – neben bundesge­setzlichen Vorgaben (z.B. GG, BGB, BSHG – abgelöst durch die Sozialgesetzbücher (SGB) XII und IX) - als Leitfaden für die davon abgeleiteten „Enthospitalisierungsprozesse“, die in den Zuständigkeitsbereich der einzelnen Bundesländer fällt. Sie werden in der Regel von den Landesministerien für Gesundheit und Sozia­les verantwortet.

 

 

Gründung des neuen Landes Sachsen-Anhalt 1990

 

Das Land Sachsen-Anhalt wurde 1990 aus den ehemaligen Bezirken Halle und Magdeburg zu einem deut­schen Bundesland deklariert (Gesetz über die Einführung von Ländern in der DDR). Es handelt sich also um ein neu konstituiertes föderalistisches Land, das 40 Jahre lang zu einem zentralistisch organisierten Staat ge­hörte, der - fußend auf einer kommunistischen Staatsphilosophie mit sozialistischen Gesellschaftsstrukturen und einer Planwirtschaftlichen Ordnung - politisch wie ökonomisch in extremem Maße abhängig von der so­wjetischen Besatzungsmacht und Teil des von ihr dominierten Ostblocks war. Innerhalb dieser rigiden Ein­bindung spielte die DDR im Jahrzehnte dauernden „Kalten Krieg“ zwischen den immer mehr aufrüstenden Ost- und Westblöcken eine wesentliche Rolle. Ziel war es – in Konkurrenz zur kapitalistischen BRD – ein sozialistisches Deutschland als Gegenmodell aufzubauen. Die staatliche zielgerichtete Lenkung war doktri­när und wirkte in alle Lebensbereiche der BürgerInnen. Wenngleich viele von ihnen sich des Einflusses und den Reizen des „kapitalistischen Westens“ nicht erwehren wollten oder konnten, so fand doch unter den in der DDR verbliebenen Menschen über die Persönlichkeits- und Gemeinschaftsprägende Sozialisation durch soziale Einbindungen in verschiedene Kollektive von der Krippe über Kindergarten, Schule, FDJ, Ausbil­dung oder Studium, Arbeit, Gewerkschaft, Partei… bis hin zu Rentneraktivitäten bei der Volkssolidarität - ein nationaler Identifizierungsprozess statt, einschließlich der Internalisierung von Normen und Werten und vor allem von Kommunikationsstrukturen.

 

Bei der Zusammenlegung der beiden deutschen Staaten wurden die gewohnten staatlichen Regularien au­ßer Kraft gesetzt und die westdeutschen in rasantem Tempo eingeführt. Auf staatlicher Ebene erfolgte die „Aufbauhilfe Ost“ durch westdeutsche Beamte und mehr oder weniger qualifizierte Fachkräfte. Es fand eine Art von neokolonialem Prozess statt, der die Frage aufwerfen lässt, inwieweit die „neuen Mächte“ mit ihren Gesetzen tatsächlich die BürgerInnen erreichen und an der Entwicklung einer neuen Identität partizipieren ließen.

 

 

Hierzu scheint es unerlässlich, die themenrelevanten Entwicklungen der DDR-Geschichte im Sinne der Re­historisierung vor Betrachtung der Enthospitalisierungsprozesse darzustellen. Dieses geschieht im ersten Teil der Arbeit.

 

Da am Anfang der Gründung eines Landes nicht nur die gesetzlichen Weichen gestellt, sondern auch die (so­zial-)politischen Grundsatzentscheidungen gefällt werden, erfolgt an dieser Stelle eine Kurzdarstellung rele­vanter Daten:

 

Die erste Regierung des Landes Sachsen-Anhalt wurde von einer CDU- (39%) und FDP- (13,5%) Koaliti­on gestellt. Die SPD hatte bei den ersten Wahlen 26%, die PDS 12% und Bündnis 90/die Grünen 5,3% erhal­ten. Am 28.10.1990 konstituierte sich der Landtag mit 99 Mitgliedern. In der ersten Legislaturperiode wech­selten sich, vorwiegend aufgrund von Gehaltsaffären, drei Ministerpräsidenten der CDU ab: 1990 – 1991: G.Gies, 1991 -1993: W.Münch und 1993 -1994: C.Bergner. Sozialminister waren von 1991 bis 1993 der aus dem Saarland stammende Sozialarbeiter Schreiber und bis 1994 der aus Sachsen-Anhalt stammende Gynä­kologie-Professorund heutige Ministerpräsident Böhmer, beide CDU.

 

Am 16.07.1992 erhielt das Land eine Verfassung, die „neben einem umfangreichen Grundrechtskatalog auch soziale Grundrechte (z.B. Recht auf Wohnung und Arbeit) und einige Staatszielbestimmungen“[1] bein­halteten, und als erstes Bundesland wurde – später - ein Antidiskriminierungsgesetz beschlossen, in dem be­hinderte Menschen explizit genannt werden.

 

Der erste gegenstandsrelevante Beschluss des Landtages nahm eine Bearbeitungszeit von ca. einem Jahr in Anspruch und wurde zweieinhalb Jahre nach Gründung des Landes gefasst:

 

- Am 15.05.1991 stellte die (oppositionelle) SPD-Fraktion des am 28.10.1990 gegründeten Landtages des Landes Sachsen-Anhalt (LSA) den Antrag, die Landesregierung möge „bis Ende Sept. 1991 eine Konzepti­on zur kurz-, mittel- u. langfristigen Entwicklung der ambulanten und stationären Psychiatrie in LSA ent­sprechend den Festlegungen der Psychiatrie-Enquête-Kommission des Bundestages von 1975 und den Empfehlungen der Expertenkommission der Bundesregierung von November 1988 sowie der diesbezügli­chen Stellungnahme der Bundesregierung vom Oktober 1990 dem Landtag vorlegen“[2]

 

- Am 10.04.1992 fasste der Landtag den Beschluss: „Die Regierung ist beauftragt, bis zum 30.06.1992 einen Psychiatrieplan LSA vorzulegen.“[3]

 

- Im Juli 1992 übergab die Regierung den Landtagsfraktionen ihren ersten „Psychiatrieplan“, der sich im we­sentlichen Punkten auf die Empfehlungen der Psychiatrie-Enquête bezog.

 

- Der landesspezifische Auftrag wurde im November 1995 von der SPD-Ministerin Gerlinde Kuppe in den bis heute als einzige Grundlage festgeschriebenen „Leitlinien zur Entflechtung und Enthospitalisierung“ er­lassen.

 

Die Länder geben sich verfassungsgemäß ein landeseigenes Psychiatriekrankengesetz – so auch in Sach­sen-Anhalt: Psych.KG - LSA. Man ist der Empfehlung gefolgt, als Kontrollorgan einen dem Landtag zuge­ordneten Ausschuss für Angelegenheiten der psychiatrischen Krankenversorgung Sachsen-Anhalt (als „Psychiatrie-Kommission“ im Sprachgebrauch bekannt) zu bilden, dessen Geschäftsstelle 1993 in Halle/Saa­le eröffnet wurde und die Entwicklungen in der psychiatrischen Versorgung der Bevölkerung...

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