Die Neurowissenschaften haben innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte einen bedeutenden Zuwachs erfahren, was insbesondere auf die Entwicklung moderner bildgebender Verfahren zurückzuführen ist. Dadurch wurden in diesem Zeitraum vielfältige Ergebnisse generiert, welche das Verständnis über die Wirkungsweise des menschlichen Verstandes fundamental erweitert haben.[75] In diesem Kapitel soll zunächst eine Begriffsbestimmung und disziplinäre Einordnung erfolgen, sowie die soeben genannten bildgebenden Verfahren kurz vorgestellt werden. Zum Einstieg in die Thematik und zur Schaffung eines grundlegenden Verständnisses ist es weiterhin hilfreich, den Aufbau und die Funktionsweise des menschlichen Gehirns in Grundzügen darzustellen.
Im Fokus der inhaltlichen Auseinandersetzung stellt sich nachfolgend die Frage, wie Menschen (ökonomische) Entscheidungen treffen und welche Vorgänge dabei im Gehirn ablaufen. Diese Darstellung erfolgt zweigeteilt, bezüglich intrapersoneller und interpersoneller Aspekte. Aufgrund der in Kapitel 2. ‚Change Management‘ identifizierten Bedeutung von Emotionen, wird dieser Gesichtspunkt in die meisten Teilelemente dieses Abschnittes mit einfließen.
Der Begriff der ‚Neurowissenschaft’ ist in der wissenschaftlichen Literatur nicht eindeutig definiert, was zum einen auf die besonders ausgeprägte Interdisziplinarität des Forschungsfeldes und zum anderen auf die jeweiligen Auffassungen bezüglich der Anforderungen an eine Begriffsbestimmung innerhalb dieser einzelnen Disziplinen zurückzuführen ist. So existiert beispielsweise die besonders verallgemeinerte Ansicht, dass unter Neurowissenschaften alle Fachdisziplinen zu fassen sind, welche „[…] sich mit Nervenzellen und den aus ihnen aufgebauten Strukturen beschäftigen […]“[76]. Eine eher funktionale Herangehensweise verfolgt beispielsweise Kandel (1995), indem er Neurowissenschaften über deren Zielsetzung, Verhaltensweisen anhand von Gehirnaktivitäten zu erklären, definiert. Dies umschließt das Verständnis darüber, wie Nervenzellen im Gehirn zusammenwirken, Verhalten erzeugen und dabei durch die Umwelt sowie das Verhalten anderer Menschen determiniert werden.[77] Zusammengefasst lässt sich demnach aussagen, dass Neurowissenschaft eine besonders interdisziplinär[78] aufgestellte Forschungsrichtung beschreibt, deren Erkenntnisinteresse der Aufbau und die Funktion des menschlichen Nervensystems ist.
Im Betrachtungsrahmen dieser Arbeit ist besonders die Wissenschaftsrichtung der Neuroökonomie von Interesse. Dieser Forschungszweig beschäftigt sich mit der Erklärung menschlichen Verhaltens in ökonomischen Entscheidungssituationen unter der Anwendung neurowissenschaftlicher Methoden. In einem neueren, erweiterten Verständnis schließt dies nahezu alle Bereiche der Betriebswirtschaftslehre mit ein, woraus sich weitere Teildisziplinen wie beispielsweise ‚Neuromarketing‘ und ‚Neurofinance‘, aber auch ‚Neuroleadership‘ ergeben.[79]
Die Hoffnung der Neuroökonomen liegt darin, die spekulativ-deduktive entscheidungstheoretische Grundlage der traditionellen Ökonomie um eine empirisch beobachtbare Komponente über die Funktionsweise des Gehirns zu erweitern. Dabei stößt die implizite Annahme, dass Denken und Handeln allein das Resultat kausaler Vorgänge auf neuronaler Ebene sei, besonders in den Geisteswissenschaften auf Kritik.[80] Dennoch kann bereits heute die eine wesentliche Erkenntnis der Neuroökonomie als wegweisender Erfolg gewertet werden: die Erweiterung der ökonomischen Handlungstheorien um die emotionale Komponente. Wie genau Emotionen jedoch rationale Prozesse beeinflussen, ist noch nicht hinreichend erklärbar und deswegen ein zentraler Aspekt neuroökonomischer Forschung.[81]
Die Forschungsergebnisse der neueren Hirnforschung basieren im Wesentlichen auf vier bildgebenden Verfahren zur Untersuchungen des aktiven menschlichen Gehirns. Diese lassen sich unterteilen in Messmethoden, welche die elektrische Aktivität neuronaler Prozesse sichtbar machen – Elektroenzephalografie (EEG) und Magnetenzephalografie (MEG) – und jene, die neuronale Stoffwechselprozesse – Positronen-Emissions-Tomografie (PET) und funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) – erfassen. Diese Verfahren werden nun kurz vorgestellt.
Die EEG ist eine der ältesten Methoden der Hirnforschung und beruht auf dem Umstand, dass bei der Kommunikation zwischen Nervenzellen elektrische Impulse übertragen werden. Mithilfe großflächig an der Außenseite des Kopfes angebrachter Elektroden können diese Spannungsschwankungen gemessen und grafisch dargestellt werden.[82]
Bei der MEG handelt es sich um eine Weiterentwicklung der EEG, die auf der Messung der durch die elektrischen Impulse entlang der Nervenbahnen erzeugten Magnetfelder basiert. Dadurch wird, im Unterschied zur EEG, eine dreidimensionale Auswertung der Hirnstruktur möglich.[83]
Das Messverfahren der PET erfolgt durch die Sichtbarmachung besonders aktiver Hirnregionen aufgrund des dort höher ausfallenden Glukosestoffwechsels. Dazu wird dem Probanden eine leicht radioaktiv versetzte Glukoselösung injiziert, die sich dann in Bereichen mit hohem Energiebedarf besonders vermehrt anlagert. Unter Zuhilfenahme von Sensoren, welche den radioaktiven Zerfall des beigefügten Isotops erfassen können, wird ein computergeneriertes, dreidimensionales Abbild des Gehirns erzeugt, worin sich die aktiven Regionen durch farbliche Markierung zeigen.[84]
Eine der am häufigsten angewandten Methoden ist die fMRT, welche sich den Umstand zunutze macht, dass Sauerstoff die magnetischen Eigenschaften des Blutes verändern. Durch gezielte Magnetfelder sowie das Einwirken von Radiowellen kann diese Besonderheit sichtbar gemacht werden, die auch als BOLD-Effekt[85] bezeichnet wird. Das Verfahren misst dabei nicht die neuronale Aktivierung selbst, sondern nur den damit in Verbindung stehenden Anstieg an Sauerstoff in der betreffenden Region.[86]
Die Verfahren zur Darstellung elektrischer Aktivität zeichnen sich zwar durch eine sehr feine zeitliche Auflösung der Aktivitäten im Millisekundenbereich aus, jedoch ist deren räumliche Auflösung höchstens zentimetergenau. Im Rahmen aktueller Studien ist diese Genauigkeit jedoch nicht mehr oder kaum noch zweckdienlich, weswegen diese Messmethoden immer seltener zum Einsatz kommen. Die PET löst zwar räumlich sehr gut auf, ist jedoch aufgrund der radioaktiven Belastung des Probanden besonders bei Wiederholungsstudien gesundheitlich bedenklich. Des Weiteren sind die Ergebnisse zeitlich verzögert, was einerseits die grafische Darstellung, andererseits auch die Auswertung erschwert. Die fMRT löst grundsätzlich all diese Probleme, da sie weder auf radioaktiven Substanzen basiert, noch zeitlich oder räumlich zu ungenaue Ortung ermöglicht.[87] Dennoch unterliegt auch dieses Messverfahren dem Umstand, dass nicht die neuronalen Prozesse selbst, sondern lediglich deren Begleiterscheinungen sichtbar gemacht werden. Der Blick in die eigentlichen Gedanken des Probanden wird dadurch nicht möglich. Jedoch bieten die Ergebnisse darüber, welche Hirnregionen für welche Funktionen verantwortlich sind, bereits tiefe Einblicke in die Funktionsweise des Gehirns, wodurch das Verständnis über die Abläufe kognitiver Prozesse bereits richtungsweisend erweitert werden konnte.[88]
Das Gehirn ist aufgrund seiner Funktion als Verarbeitungszentrale aller komplexen Informationen, denen der Organismus aus der Innen- und Außenwelt ausgesetzt ist, das zentrale Forschungsobjekt der Neurowissenschaften. Es ist der Ort des Bewusstseins, des Gedächtnisses sowie aller geistigen Leistungen. Seine besondere Bedeutung innerhalb des Körpers wird allein durch die Tatsache verdeutlicht, dass es – trotz seines relativ geringen Anteils an der Gesamtkörpermasse von nur circa zwei Prozent – fast ein Viertel der Gesamtenergie in Anspruch nimmt. [89]
Die Komplexität der im Gehirn ablaufenden Prozesse spiegelt sich auch in dessen Struktur wieder, wobei wissenschaftliche Annahmen und Modelle über den konkreten Aufbau und das Zusammenwirken einzelner Hirnregionen unter dem Einfluss neuerer Erkenntnisse aus der Hirnforschung häufig erweitert oder revidiert werden. Einen im Rahmen dieser Arbeit hinreichenden Einstieg in die Thematik liefert das Schichtmodell nach McLean (1990, vgl. Abbildung 4, aus: Peters/Ghadiri, 2011, S.26.) welches drei Hauptbestandteile des Gehirns benennt. Obwohl insbesondere die hinter diesem Modell stehende Annahme, dass jene drei Bereiche vergleichsweise unabhängig voneinander funktionieren, bereits hinreichend widerlegt ist[90], so bietet diese Darstellung doch ein einführendes Verständnis über die Hauptbestandteile und...