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Charles Fourier in Wissenschaft und Praxis

Ebenen der Rezeption

AutorAlexander Becker
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl87 Seiten
ISBN9783640221929
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis36,99 EUR
Masterarbeit aus dem Jahr 2008 im Fachbereich Geschichte Europas - Neuzeit, Absolutismus, Industrialisierung, Note: 1,7, Ruhr-Universität Bochum, Sprache: Deutsch, Abstract: Im Rahmen dieser Arbeit soll der Versuch unternommen werden, zu prüfen, ob die Möglichkeit einer Neubewertung der ideengeschichtlichen Position Fouriers (F) besteht. Dass die Beschäftigung mit der Rezeption und Wirkung Fs dabei von zentraler Bedeutung sein muss, liegt auf der Hand und ist einer der Gründe für den epochenübergreifenden Charakter der Arbeit. Zudem ist die Fourierologie ein interdisziplinäres Forschungsfeld. [...] Um alle diese Aspekte bearbeiten zu können, soll zunächst die Person Fs vorgestellt werden. Biographische Besonderheiten können hier zum Verständnis seiner Theorien von Bedeutung sein, weshalb erste Analyseansätze schon im zweiten Kapitel zu Fs Biographie erscheinen werden. Im dritten Kapitel sollen dann seine Theorien in Bezug zur Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts gesetzt werden, wobei einerseits die ökonomische und andererseits die politische bzw. öffentlich-rechtliche Dimension und lebensweltliche Faktoren berücksichtigt werden sollen. Wie angedeutet verweist dieser Themenkreis bereits auf die Rezeptionsgeschichte und auf wissenschaftstheoretische Zusammenhänge. Während die verschiedenen Bezüge zu den Zeitumständen Fs im Rahmen des ideengeschichtlichen Teils in gesonderten Teilkapiteln untersucht werden, wird der Rezeption der Ideen Fs das vierte Kapitel gewidmet. Es ist dabei in fünf Unterkapitel eingeteilt, die jeweils die unterschiedlichen Ebenen seiner Theorie repräsentieren: Erstens die politische Ökonomie, zweitens ökologische Aspekte, drittens Fs Kulturkritik, viertens wissenschafts-theoretische Fragen und schließlich die Ebene der Rezeption in der Bevölkerung, also die praktische Ebene. Die allgemeinen Rahmenbedingungen des Lebens Fs, also die politischen, kulturellen und sozioökonomischen Zustände in Frankreich um 1800 verweisen wiederum auf die Rezeptionsgeschichte, da in diesem Zusammenhang auch die 'soziale Frage' und mit ihr die französische Arbeiterschaft genauer untersucht werden muss. Schließlich hat F sich mit diesen Umständen seiner Zeit intensiv auseinandergesetzt. Die somit auf den Prüfstand zu stellende Rezeption Fs in Wissenschaft und Praxis bildet dann auch die Grundlage für die Schlussbetrachtung, in der die Frage beantwortet werden soll, wie man zu einer neuen ideengeschichtlichen Einordnung Fs im Sinne der oben gestellten Einzelfragen gelangen kann, sofern dies noch nicht durch die Analyse sichtbar gemacht werden konnte. Ihre Antworten werden im fünften und letzten Kapitel zusammenfassend dargestellt.

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Leseprobe

2. Biographische Besonderheiten und frühe Sozialisation Fouriers:


 

Bereits die Beschäftigung mit der Biographie Fouriers macht die Umstrittenheit seiner Person sichtbar. Besonders die frühen Jahre bis 1789 sind schwierig zu rekonstruieren.[32] Günter Behrens, der sich im deutschsprachigen Raum als letzter intensiv mit der Biographie Fouriers auseinandergesetzt hat (obwohl er es gar nicht vorgehabt hatte), weist auf einen großen Mangel in der Fourier-Rezeption hin, dass nämlich auch schon bei biographischen Details deutlich wird, wie, je nach Intention der Autoren, Informationen zu Fouriers Biographie entweder unkritisch von der ihm freundlich oder der ihm feindlich gesinnten Seite übernommen werden.[33] Da es mindestens diese beiden Seiten mit ihren Extrempositionen gibt, ist es nicht einfach eine Position herauszuarbeiten, die man vertreten kann. Das fängt eben schon bei Fouriers Biographie an. Gesichert ist, dass er am 7. April 1772 als Sohn eines wohlhabenden und angesehenen Tuchhändlers aus Besancon als Francois-Marie-Charles Fourrier geboren wurde. Warum er seinen Namen später ändern ließ (etwa um 1803/1804), ist umstritten. Vergez behauptete etwa, dass er eine Verwandtschaft zu dem gleichnamigen Jean-Pierre Fourier de Metaincourt suggerieren wollte. Ob das so abwegig ist, wie Günter Behrens in seiner Dissertation von 1977[34] behauptete, ist fraglich, wäre aber wenn überhaupt nur argumentativ zu belegen, nicht quellenmäßig. Diese Frage soll aber an anderer Stelle näher behandelt werden. Festzuhalten bleibt indes, dass es noch einen weiteren berühmt bzw. bekannt gewordenen Fourier gegeben hat, der sich ebenfalls mit Harmonie und Serien auseinandergesetzt hat, nämlich den Mathematiker und Zeitgenossen Baron Jean-Baptiste Joseph de Fourier (1768-1830).[35] Natürlich hat dieser sich im Rahmen seiner mathematischen Untersuchungen mit diesen beiden Themen auseinandergesetzt und bisher hat auch noch niemand versucht einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Fouriers herzustellen.

 

Es wäre auch zumindest theoretisch möglich, dass sich Charles Fourier, nur weil er sich von seiner übrigen Familie absetzen wollte (sein Vater hieß ebenfalls Charles, welcher beider Rufname gewesen ist), umbenennen ließ, aber das alles weiß man nicht. Was man weiß ist, erstens dass sich der Vater um einen Nachweis bemühte, der ihn als Nachfahre des Baron de Metaincourt ausweisen sollte, und dass es zweitens tatsächlich Spannungen zwischen Fourier und seiner Familie gab. Als jüngster Sohn unter drei älteren Schwestern lastete besonderer Druck auf ihn, weil der Vater für ihn die Weiterführung der familiären Kaufmannstradition vorgesehen hatte. Und schließlich wurde die Bedingung, den Kaufmannsberuf zu erlernen, an die Auszahlung des Anteils des väterlichen Erbes geknüpft. Fouriers Mutter, ebenfalls aus dem gehobenen Bürgertum stammend, zeigte sich mindestens ebenso unnachgiebig in der Frage seiner Berufswahl wie sein Vater zu Lebzeiten. Als er starb war Fourier nämlich erst neun Jahre alt, so dass er bis 1789 von seiner Mutter erzogen wurde. Zudem gilt die Charakterisierung seiner Mutter durch Fouriers Zeitgenossen als ungebildet, bigott und geizig als unumstritten. Zumindest wird es von allen Autoren so übernommen und auch Behrens behauptet hier nichts Gegenteiliges. Fouriers Bezeichnung seines Elternhauses als merkantilen Schafstall scheint jedenfalls nach allem Erfahrbaren nicht ganz unberechtigt zu sein, auch in dem Sinne, als dass er diese Bezeichnung nicht einfach aus Boshaftigkeit oder Provokation wählte, sondern dass bei der Erziehung Fouriers tatsächlich übermäßiger Zwang im Spiel gewesen ist und dass sein Unmut darüber verständlich ist.[36] Dieser Befund wurde etwa bei Beecher relativiert insofern, als dass eher seine Mutter für Zwangsmaßnahmen verantwortlich gewesen zu sein scheint als sein Vater. Obwohl dieser ihn in seinem Kaufmannsladen anlernte, scheint er mehr Milde gegenüber Fouriers exzentrischen Zügen bewiesen zu haben als später die Mutter.[37]

 

Solcherart biographische Details sind nicht nur deshalb wichtig, weil sie umstritten sind, sondern auch weil sie immer wieder herangezogen worden sind, um zu erklären, warum Fourier seine Theorien so entwarf, wie er sie entwarf. Es handelte sich dabei jeweils, um das vorwegzunehmen, häufig um den Versuch die Ernsthaftigkeit und die wissenschaftliche Qualität seiner Theorien zu relativieren. Der Rückgriff auf biographische Daten wurde dann insbesondere von liberaler und konservativer Seite dazu benutzt, um behaupten zu können Fouriers Sozialisation sei „Schuld“ an seinen eigenartigen Ansichten, während von marxistischer Seite häufig behauptet wurde, dass die frühkapitalistischen (unterentwickelten) ökonomischen Verhältnisse für Eigenarten seiner Theorie verantwortlich seien. Von ersterer Seite wurde schließlich sogar behauptet, Fourier sei schlicht verrückt gewesen.[38] Ein konkretes Beispiel für eine solche verkürzte Darstellung wäre etwa Fouriers Polemiken gegen den Katholizismus ausschließlich damit zu begründen, dass er während seiner Schulausbildung (von 1783-1789) auf dem örtlichen Jesuiten-Kolleg in Besancon schlechte Erfahrungen gemacht hat. Dabei hat Fourier dort nicht nur schlechte Erfahrungen gemacht, auch wenn er sich unterfordert und auf den falschen Gebieten gefordert fühlte, wurde er doch als außergewöhnlich fähiger Schüler mehrmals mit Preisen des Kollegs ausgezeichnet.[39] Zudem wäre seine Kritik an der institutionalisierten Kirche aus wesentlich anderen Gründen und auch aus mehreren Gründen erklärbar, wie noch im dritten Kapitel zu sehen sein wird.  

 

Auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll Fouriers Biographie als Teil seiner Sozialisation verstanden werden und so gewinnbringende Ergebnisse liefern. Doch erstens sollen verkürzte Urteile über die Herkunft der Kritik Fouriers an den bestehenden Verhältnissen vermieden werden und zweitens soll besonders der ideengeschichtliche Teil andere Erklärungen liefern, die auch über den bloßen Verweis auf den Frühkapitalismus und Fouriers „klassenmäßiger“ Herkunft hinausgehen. Die Schwierigkeit, insbesondere die frühen Jahre der Biographie Fouriers bis 1789 und im Grunde genommen darüber hinaus bis zu seiner Entlassung aus dem Militärdienst 1796, zu rekonstruieren, wurde bereits angesprochen. Vieles wurde von seinem viel zitierten Biographen Charles Pellarin überliefert, muss aber als legendenartig qualifiziert werden. Dennoch lässt sich der Versuch unternehmen, sein Leben zwischen 1772 und 1796 in groben Zügen nachzuzeichnen.

 

Wie Fourier später selbst berichtete, schwor er schon im Alter von sieben Jahren dem Handel ewigen Hass.[40] Im Rahmen seines privaten Elementarunterrichts und später seiner schulischen Ausbildung im Jesuiten-Kolleg sollte er die katholische Moralphilosophie verinnerlichen. Zudem wurde er mit scholastischen Texten konfrontiert, deren Inhalte seinen Neigungen ebenso wenig entsprachen wie die Erziehungsinhalte seiner Eltern. Es handelte sich dabei vielfach um Inhalte, die er im Zusammenhang mit dem für ihn vorgezeichneten Lebensweg als Kaufmann verinnerlichen sollte. Darüber hinaus kann man davon ausgehen, dass beide Inhalte nicht nur seinen Neigungen entgegengesetzt waren, sondern dass sie darüber hinaus auch unter massivem Einsatz von Zwangsgewalt vermittelt wurden. Selbst wenn man den eigenen Aussagen Fouriers bezüglich seiner Erziehung nicht trauen sollte und zusätzlich davon ausgeht, dass ein Jesuiten-Kolleg in dieser Zeit verglichen mit anderen Erziehungseinrichtungen als relativ fortschrittlich gelten kann, lässt sich angesichts der läufigen Erziehungsmethoden des ausgehenden 18. Jahrhunderts, sowohl was die häusliche als auch die Erziehung in Erziehungseinrichtungen des ancien regime betrifft, ein grundsätzlich anderes Bild seiner Erziehung wohl kaum zeichnen.[41] Als er im Alter von nur sechs Jahren von seinem Vater in die „Kunst des Handels“ eingeführt wurde (die Verkaufsräume befanden sich im Erdgeschoss des Elternhauses)[42], wurden ihm (nach eigener Auskunft) die eklatanten Widersprüche zwischen christlicher Morallehre und den Gesetzen des Handels bewusst, denn die Lüge und die Kunst diese zu beherrschen, wurden ihm offenbar als integraler Bestandteil und Grundregel des Handels präsentiert.[43] 

 

Wie bereits erwähnt, starb sein Vater zwei Jahre nachdem Fourier seinen legendären Schwur leistete und hinterließ eine Summe von 200.000 Livres (=Francs). Eine große Summe, die zwar insbesondere durch die Inflation von 1798 schwer in den heutigen Wert umzurechnen ist, aber sich im damaligen Gegenwert ausdrücken lässt. 200.000 Livres entsprachen einen damaligen Gegenwert von etwa einer Tonne reinem Silber.[44] Fouriers Erbanteil betrug 80.000 Livres, die er aber nur unter der Bedingung erhalten sollte, dass er bis zu seinem 20. Lebensjahr eine kaufmännische Ausbildung absolviert haben sollte, allerdings zunächst nur die Hälfte. Ohne die Erfüllung dieser Bedingung hätte er bis zu seinem 30. Lebensjahr ganz auf seinen Anteil verzichten müssen. Diese Erpressung verstärkte womöglich seine Aversion dem Handel gegenüber, wie etwa Günter Behrens betont.[45] Wiederum wird aber auch hier, was also diesen Aspekt seiner Sozialisierung betrifft, darauf hingewiesen, dass sich seine Aversion gegenüber dem Handel auch aus wesentlich anderen Quellen gespeist haben...

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