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China an seinen Grenzen

Erkundungen am Rand eines Weltreichs

AutorHsin-Mei Chuang, Matthias Messmer
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl319 Seiten
ISBN9783159614342
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Wer China verstehen will, muss mehr kennen als die Ostküste und die großen Metropolen, muss vordringen in die Peripherie. Matthias Messmer, der als Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung 10 Jahre in China lebte, und seine Kollegin Hsin-Mei Chuang haben sich deshalb auf eine ungewöhnliche Reise an die Ränder dieses riesigen Landes begeben: an die Grenzen zu Nordkorea und Russland, zur Mongolei, zu Indien, Nepal und Bhutan, zu den zentralasiatischen Ländern an der Seidenstraße, zu Myanmar, Vietnam, Laos und zu Staaten im Südchinesischen Meer. Sie haben mit Menschen gesprochen, Erinnerungsorte besucht, geschichtliche Hintergründe aufgearbeitet und nicht zuletzt Stimmungen mit der Kamera eingefangen. Entstanden ist ein einzigartiges Bild Chinas abseits der großen Metropolen, das eine ganz neue Sicht auf dieses so vielseitige wie schwer fassbare Land ermöglicht. Ein ungewöhnliches, atmosphärisches Reisebuch und zugleich eine unbestechliche politisch-historische Analyse.

Matthias Messmer, geb. 1967, lebt in der Schweiz und schreibt u. a. für die Neue Zürcher Zeitung. Zuletzt erschien sein Buch China: Schauplätze west-östlicher Begegnungen. Hsin-Mei Chuang stammt aus Taiwan und ist Kulturwissenschaftlerin sowie Journalistin.

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Leseprobe

Reisen für Neugierige


Von Chabarowsk nach Hengdaohezi: lange Schatten in lichten Wäldern


Der Gedanke, dass eine sehr feine Linie definiert, wo die europäische Kultur endet und die asiatische beginnt, ist uns nie seltsam vorgekommen. Und schon gar nicht, dass eine solche Grenze tatsächlich physisch existieren könnte. Für uns war sie ein abstraktes Konzept, etwas Unfassbares oder zumindest etwas, worauf normale Menschen wie wir keinen Zugriff haben.

Unsere als selbstverständlich angenommene Meinung gerät ins Wanken, als wir an einem kühlen Nachmittag im Spätfrühling auf der Promenade entlang des breiten Amur spazieren gehen. Die Tatsache, dass dieser sanfte Fluss vor uns de facto diese unsichtbare Linie bildet, die zwei alte, große kulturelle und politische Sphären voneinander trennt, scheint so absurd und naiv, als hätten sich Kinder das alles ausgedacht. 1858 musste das Reich der Mitte die Stadt Chabarowsk, die damals von den Chinesen noch Boli genannt wurde, gemäß dem Vertrag von Aigun an den Zaren abtreten. Im früheren Fischereihafen und seiner Umgebung lebten damals indigene Völker wie die Nanai [Hezhe] und Mandschus sowie Han-Migranten aus Nordchina. Inzwischen ist Chabarowsk die zweitgrößte Stadt im russischen Fernen Osten. Mehr als 6000 Kilometer Fluglinie und acht Zeitzonen trennen sie von Moskau. Die Stadt ist unbestreitbar eine europäische Stadt – sauber, entspannt und grün, die Bewohner sind zu mehr als 90 Prozent ethnische Russen. Einige wunderschöne Kirchen und ein paar revolutionäre oder im Sowjetstil errichtete Gebäude prägen das Stadtbild. In den öden, schmutzigen Vororten, die an eine sich bis zum Horizont erstreckende, endlose Wildnis grenzen, schlägt die gemütliche Atmosphäre des Stadtzentrums aber schnell um in Trostlosigkeit. Jenseits des Flusses liegen, für uns freilich im Moment unsichtbar, vergleichsweise dicht bewohnte, blühende chinesische Siedlungen, die umgeben sind von intensiv bebauten Feldern.

Tatsächlich sind an den beiden Ufern zwei ganz verschiedene Welten entstanden. Die sowjetische Regierung radierte im russischen Fernen Osten sorgfältig alle Spuren einer chinesischen Präsenz aus, als sie in den 1970er Jahren Hunderte von Örtlichkeiten umbenannte. Aber die Schatten der Vergangenheit sind nach wie vor präsent, und was eine ganz gewöhnliche, nicht weiter bemerkenswerte Entwicklung auf chinesischer Seite zu sein scheint, wird in Russlands dünn besiedeltem Fernen Osten voller Besorgnis wahrgenommen. Die Flüsse Amur und Ussuri bilden das unberechenbare östlichste Dreieck des chinesischen Territoriums, eine Region, die oft als »Hahnenschnabel« bezeichnet wird. Sie sind eine imposante, aber krisenanfällige Grenze, an der Russland und China ineinandergreifen und manchmal auch zusammenprallen.

Vielleicht gingen im Herbst 1945 Pu Yi ähnliche Gedanken durch den Kopf. Pu Yi, der zuerst Kaiser der Qing-Dynastie und danach des japanischen Marionettenstaates Mandschuko war, wurde gegen seinen Willen mit einem von einer Dampflokomotive bewegten Zug von Tschita nach Chabarowsk gebracht. Er war aufrichtig froh, dass ihn die Sowjetarmee kurz zuvor in Shenyang gefangen genommen und auf russisches Territorium gebracht hatte, nachdem sich Kaiser Hirohito bedingungslos ergeben hatte. Dass die russischen Kommunisten ihren eigenen Zaren erst kurz zuvor ermordet hatten, war die geringste seiner Sorgen. Die Orte jenseits des Amur, die er während seiner Gefangenschaft in Chabarowsk so oft vom Fenster einer Villa im nahegelegenen Dorf Krasnaja Retschka (›Rotes Flüsschen‹) aus beobachtet hatte, waren für ihn nicht mehr das vermisste Vaterland. Was ihn dort erwarten würde, versetzte ihn so sehr in Angst und Schrecken, dass er immer wieder um dauerhaftes Asyl in der Sowjetunion ersuchte.

Aber vergebens. Man sagte Pu Yi an einem angenehm warmen Sommertag des Jahres 1950, er solle sich im Zug ausruhen. Die Fahrt von Chabarowsk bis zur chinesischen Grenzstadt Suifenhe führte durch üppige Wälder, unberührte Sumpflandschaften und manchmal auch durch einfache, aber idyllische russische Dörfer in weiten, grünen Tälern. Die Reise hätte sehr angenehm sein können, wäre da nicht die Angst vor dem gewesen, was ihn in China erwarten würde, wie er später in seiner Autobiografie erzählte:

Nachdem ich den Zug in Chabarowsk bestiegen hatte, war ich […] in einem Abteil zusammen mit sowjetischen Offizieren untergebracht worden. Sie stellten Bier und Süßigkeiten für mich bereit und versuchten, mich unterwegs mit lustigen Geschichten aufzuheitern; aber all dies half mir nicht über die Furcht hinweg, daß sie mich nun in den Tod schickten. Ich war überzeugt, daß mein Leben von dem Augenblick an verwirkt sei, an dem ich meinen Fuß auf chinesischen Boden setzte.

Während ich aus der gegenüberliegenden Schlafkoje die regelmäßigen Atemzüge von Major Asenis hörte, hielt mich die Todesfurcht wach. Ich setzte mich auf […], als ich die Schritte von Soldaten hörte, die sich dem Bahnsteig näherten. […] Einige verdächtig aufblitzende Lichter waren alles, was ich ausmachen konnte. […] Während ich mir all die Schrecken ausmalte, die auf mich zukamen, durchwachte ich die Nacht.

Unsere Nacht in einem der drei Gästezimmer im zweiten Stock über dem Warteraum des Bahnhofs in Bikin, einer unbedeutenden Haltestelle der Transsibirischen Eisenbahn, ist weniger beängstigend. Wir sind die einzigen Gäste, und der Stationsvorsteher ist unser »Gastgeber«. Am darauffolgenden Morgen fährt uns ein Einheimischer zum nächstgelegenen Grenzposten für Ausländer, fast 500 Kilometer weiter südlich. Wir werden ein bisschen nervös, als wir sehen, dass er einen Revolver im Handschuhfach seines Toyota Land Cruiser verstaut. »Das braucht man hier aus Sicherheitsgründen«, meint Sascha beiläufig, als hätte er unsere Gedanken erraten. Der Regen, der den Sommerbeginn ankündigt, lässt nicht nach, während wir durch eine grüne Hügellandschaft fahren – auf den Spuren von Pu Yi nach Suifenhe, in jene Grenzstadt, in der er den chinesischen kommunistischen Behörden übergeben wurde. Suifenhe ist auch der östliche Endpunkt der Ostchinesischen Eisenbahn, die als Abkürzung für die Verbindung von Tschita nach Wladiwostok, zwei Städte auf der Strecke der Transsibirischen Eisenbahn, gebaut wurde. Ungefähr 200 Kilometer weiter im Westen befindet sich ein scheinbar unbedeutendes Städtchen, das man auf Landkarten leicht übersieht. Vor einigen Jahren entdeckten wir ein paar vergilbte Fotos, die eine winzige Synagoge und einen netten russischen Ort zeigten, der irgendwo im ländlichen Umfeld dieser Eisenbahnlinie inmitten von Birkenhainen liegen musste. Die Russen, die sich in Chinas Nordosten für den Eisenbahnbau niedergelassen hatten oder den Unruhen in ihrer Heimat hatten entkommen wollen, sind längst weggezogen. Aber das Andenken an sie und ihr Erbe ist nach wie vor spürbar, nicht nur in den großen Städten wie Harbin oder Manzhouli, sondern auch in dem lange schon vergessenen Städtchen Hengdaohezi.

Hengdaohezi liegt in einem einst entlegenen Tal, in dem auch Tiger und Bären lebten. Mit der Ankunft der Russen avancierte es zu einem strategisch wichtigen regionalen Eisenbahnknotenpunkt. Ein alter Bahnhof mit zwei roten Türmen, eine nicht mehr genutzte orthodoxe Holzkirche, ein großer verfallender Güterbahnhof und heruntergekommene russische Wohnhäuser haben sich trotz der turbulenten Geschichte der Mandschurei – von der russischen Invasion bis zur japanischen Besatzung und Maos Herrschaft – nur wenig verändert. Aber vom früheren Wohlstand ist nicht viel geblieben. Ein Teil des alten Bahnhofs wird heute von einfachen Verkaufsständen belegt, die Spieße mit Schweine- oder Lammfleisch und Teigtaschen mit Eselfleischfüllung anbieten. Nur ein Dutzend Regionalzüge pro Tag machen in diesem verschlafenen Nest halt. In einer engen Gasse sitzen ein paar Frauen auf Stühlen, wärmen sich an den sanften Sonnenstrahlen und sortieren frisches Gemüse, während sie sich fröhlich unterhalten. Grünabfälle türmen sich auf dem Boden. Das Abflusswasser läuft zu kleinen Pfützen zusammen, in denen sich Plastiktüten und Müll sammeln. Der für ein chinesisches Städtchen typische Lebensstil findet hier seine Fortsetzung vor einer russischen Kulisse. Seine exotische Vergangenheit ist nicht bloß Teil einer anderen Zeit, sondern einer anderen Welt.

Das ehemalige Wohnheim für Angestellte der Ostchinesischen Eisenbahn in Hengdaohezi ist für seine heutigen Bewohner nicht mehr ganz so komfortabel und gepflegt, wie es das Anfang des 20. Jahrhunderts war. Aber seine starke, prunkvolle Fassade verleiht diesem nördlichen Städtchen immer noch einen nostalgischen Zauber.

Etwas südlich von Hengdaohezi liegt eine noch weniger bekannte Ortschaft, Romanowka. Dort lebten an die 150 russische Altgläubige, die sich gegen Stalins Kollektivierung von Ackerland gestellt hatten und Mitte der 1930er Jahre dorthin geflohen waren. Da diese Religionsgemeinschaft die im 17. Jahrhundert durchgeführten Reformen der russisch-orthodoxen Kirche abgelehnt hatte, versuchte sie der Verfolgung oder Schikanierung zu entgehen, indem sie sich in Grenzgebieten niederließ. So wurden die Altgläubigen zu unfreiwilligen Pionieren in der russischen Provinz. Mit Geduld und hartem Arbeitseinsatz halfen sie gewissermaßen mit, die Macht des expandierenden Reiches zu festigen. Aber nach der Gründung der Sowjetunion schien ihnen sogar das ferne Sibirien oder Russlands Ferner Osten zu gefährlich. Damals wurden fromme...

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