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E-Book

Christiane und Goethe

Eine Recherche

AutorSigrid Damm
VerlagInsel Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl531 Seiten
ISBN9783458740247
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Sigrid Damms Recherche Christiane und Goethe ist die erste authentische Lebensgeschichte Christianes und ihrer Partnerschaft mit Goethe, die über achtundzwanzig Jahre währte - »spannend wie ein Roman und doch in allen Einzelheiten verbürgt« (Andreas Nentwich, Neue Zürcher Zeitung).

<p>Sigrid Damm, in Gotha/Thüringen geboren, lebt als freie Schriftstellerin in Berlin und Mecklenburg. Die Autorin ist Mitglied des P.E.N. und der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur. Sie erhielt für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Feuchtwanger-, den Mörike- und den Fontane-Preis.</p>

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Leseprobe

I


 

Blick auf Weimar
Aquarell von G. ‌M. Kraus

Christiane Vulpius. Christiane von Goethe. Über ein Vierteljahrhundert lebte sie mit Goethe, achtzehn Jahre in freier Liebe, zehn Jahre als seine Ehefrau. Dreiundzwanzig Jahre war sie alt, er achtunddreißig, als sie sich im Juli 1788 erstmals trafen und fast von einem auf den andern Tag ein Liebespaar wurden. Goethe, von der Begierde getrieben, die Pyramide seines Daseyns … so hoch als möglich in die Lufft zu spizzen, schuf in seiner Lebenszeit mit Christiane ein großes Werk.

Wer war diese Frau? Ein schönes Stück Fleisch, un bel pezzo di carne, gründlich ungebildet, wie Thomas Mann sagt, eine nullité d'esprit, eine geistige Null, wie Romain Rolland sie nennt, die Frau mit dem halb unanständigen Namen, die bekannte Sexualpartnerin des alternden Olympiers, wie es in Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« heißt?

Die Mitwelt spricht von ihr als Mätresse und Hure, von Goethes Kreatürchen, seiner Füchsin, seinem Mensch, seiner dicken Hälfte; für Wieland ist sie Goethes Magd, und ihre offizielle Bezeichnung achtzehn Jahre lang in Weimar ist: die von Goethische Haushälterin. Charlotte von Schiller nennt sie ein rundes Nichts, Bettina von Arnim eine Blutwurst, die toll geworden sei. Herzog Carl August schreibt: Die Vulpius habe alles verdorben. Christiane als Fußnote in Goethes Leben. Als Peinlichkeit, Verirrung seinerseits.

Spätere Bücher über sie enthalten viel bildungsbürgerliche Betulichkeit. A la Paul Burgs Eheroman »Meine Christel. Erster und Zweiter Teil«: Wer seinen Goethe lieb hat, liest diesen Roman. Dieses Werk ist eine Sache aller Deutschen. Klischees. Erfundenes. Wenig Bewiesenes. Sentimentale Verklärungen oder böse Angriffe. Selbst rassistische. Hofer ordnet 1920 Christiane dem negroiden Typ zu. Von ihrer zähen Schlauheit, ihrem plebejischen Trotz und der Niedrigkeit ihrer Seele ist die Rede. Der Gedanke, Christiane irgendwie als gleichberechtigte Ergänzung Goethes betrachten zu wollen, muß im übertragenen Sinne genau so grotesk erscheinen wie etwa die Zumutung, eine der farbigen Frauen der Kolonien für die würdige Genossin eines großen Kolonialmannes halten zu sollen.

 

 

Wenig fundierte Sachdarstellung. Eine Arbeit von Edda Federsen. Wolfgang Vulpius' 1949 erschienenes und 1957 erweitertes Christiane-Buch. 1992 Eckart Kleßmanns Essay über Christiane. Wolfgang Vulpius schreibt, Christianes eigenes Leben würde keinen Geschichtsschreiber finden, wenn es nicht vom Goethischen Lebenskreis umspannt wäre. Eckart Kleßmann geht es darum, sich Christianes Persönlichkeit zu nähern und zu verstehen, was es wohl gewesen sein könnte, daß Goethe sich gerade diese Frau als weibliche Ergänzung seiner Persönlichkeit gewünscht hat. Nicht, wie er betont, um die Rekonstruktion ihres Lebenslaufes zwischen 1765 und 1816.

Das große Verdienst von Hans Gerhard Gräf, der den Briefwechsel zwischen Christiane und Goethe herausgab; 1916, zu Christianes hundertstem Todestag, erschien die Edition. Die überlieferte Korrespondenz umfaßt 601 Briefe. 247 Briefe Christianes an Goethe, 354 Briefe von ihm an sie. Sein Erotikon nennt Goethe sie, seine liebe Kleine, seinen Haus- und Küchenschatz, seine vieljährige Freundin, später seine Frau. Für Goethes Mutter ist sie ein herrliches unverdorbenes Gottesgeschöpf.

 

Ich lese Christianes Briefe. Erstaunlich sind sie, gestisch und genau. Detailfreudig. Eine Frau findet eine Sprache für ihren Körper, ihre Weiblichkeit, ihre Sexualität. Ungewöhnlich für ihre Zeit. Ebenso ungewöhnlich ist, wie sie Alltagsarbeit beschreibt. Eine Frau tritt mir entgegen, unablässig tätig, zwei Haushalte, ein Landgut, zwei Gärten, Krautland. Sie erledigt Erbschaftsangelegenheiten, bereitet den Erwerb von Land und Kaufabschlüsse vor, tätigt Geldgeschäfte. Sie kann einen Schlitten kutschieren. Geht allein auf Reisen, trägt zwei Pistolen bei sich. Sie ißt gern, trinkt gern, am liebsten Champagner. Sie tanzt ausgezeichnet, als Fünfundvierzigjährige nimmt sie noch bei einem Tanzmeister Unterricht. Sie liebt die Komödie, weniger das Lesen, das tut sie nur bei üblen Wetter oder aus langer Weile. Heiter ist sie, witzig, stets gutgelaunt.

Aus den Briefen – ich lese zwischen den Zeilen, gehe einem Halbsatz, einer Andeutung nach, überdenke, was der Zensur der Liebe zum Opfer gefallen sein mag, vergegenwärtige mir überlieferte Fakten – tritt mir auch eine ganz andere entgegen: eine Frau, deren Körper von fünf Schwangerschaften gezeichnet ist, die unter dem Tod von vier ihrer Kinder leidet, die lebenslang von Krankheiten gequält wird, Bluthochdruck, Nierenprobleme. Eine Frau, die ihr Altwerden zu fürchten hat. Die ständig überfordert ist, weil sie eine Rolle spielen muß, für die niemand ihr den Text vorgibt; und dennoch hat sie Tag für Tag die Bühne zu betreten, für die sie nicht geschaffen ist. Eine Frau, die stets zuviel Arbeit hat. Die murrt, launisch ist. Stimmungen unterliegt. Depressionen hat. Verletzbar ist. Und einsam. Sehr einsam. Ihre schwere Krankheit in den letzten Lebensjahren. Ihr einsames Sterben, ihr früher Tod.

 

Der tiefe Widerspruch zwischen ihren Selbstzeugnissen und dem Urteil von Mit- und Nachwelt über sie. Meine Neugier ist wach.

Für mich könnte der Reiz nur sein, ihrem Lebensweg nachzuspüren. Von ihr aus zu erzählen. Aber nicht im Sinne einer poetischen Erfindung, eines neu hinzugefügten Bildes, sondern einer Annäherung an die tatsächlichen Vorgänge, an das authentisch Überlieferte. Durch die Recherche, die Rekonstruktion, die nüchterne Spurensuche in den Archiven.

1995 geht die Nachricht durch die Zeitungen, daß die Stiftung Weimarer Klassik den Vulpius-Nachlaß ankauft. Der letzte Nachfahre der Vulpius-Familie, Melchior Vulpius, Schauspieler und Musikpädagoge, hat im Jahr 1990 seinem Leben selbst ein Ende gesetzt. Aufschlüsse über Christiane durch diesen Nachlaß? Im Thüringer Staatsarchiv existieren Akten über Christianes Vater, über ihren Bruder. Der Editor der Christiane-Briefe berichtet 1916 von drei Jahrgängen des Gothaischen Schreibkalenders, die seit Goethes Tod im vergilbten Papierumschlag in seinem Arbeitszimmer neben den Sedezbänden seiner Werkausgabe letzter Hand und dem Briefwechsel mit Schiller stehen und Tagebucheintragungen aus Christianes letztem Lebensjahr enthalten. Niemand hat die Spur verfolgt. Existiert das Tagebuch noch? Die Handschriften im Goethe- und Schiller-Archiv über Goethes Haushalt; Ausgabenbücher, Rechnungen, Belege. Sollten sich darin nicht Spuren von Christianes Alltag, den achtundzwanzig gemeinsam gelebten Jahren finden?

Christiane vor ihrer Begegnung mit Goethe. Ihrem Lebensweg nachgehen. Ihrer Jugend. Kindheit. Herkunft. Ihren Vorfahren.

 

 

Der Name Vulpius taucht in den Weimarer Kirchenbüchern erstmals am Ende des 16. Jahrhunderts auf. Ein Melchior Vulpius. Durch ihn haben wir einen Hinweis auf den Namen Vulpius. Die Latinisierung des deutschen Namens ist damals wohl modern. Als Melchior in die Stadt kommt, heißt er noch Vuchs. Erst als er auf seinem Berufsweg in der Graduierung aufsteigt, sich zu den viris doctis et gradatis zählt, latinisiert er seinen Namen. Der Beleg dazu findet sich im Weimarer Taufregister von 1597. Am 11. Februar dieses Jahres wird ihm ein Sohn geboren, hinter dem Namen Vuchs steht mit roter Tinte vermerkt: Vulpio.

Melchior Vulpius ist Kirchenmusiker. Er kommt aus Wasungen, wurde dort 1560 geboren und war in Weimar Stadtkantor und Lehrer am Gymnasium. Eine Komposition von ihm ist überliefert, eine vierstimmige Passion nach Matthäus Das Leiden und Sterben unseres Herrn Erlösers Jesu Christi, auß dem heiligen Evangelisten Matthäo, 1613 ist sie in Erfurt ediert. Und 1604 erscheint in Leipzig ein von ihm für vier beziehungsweise fünf Stimmen gesetztes Kirchengesangbuch Kirchen Geseng und Geistliche Lieder/ D. Martini Lutheri und anderer frommen Christen so in der Christlichen Gemeine zu Weymar und deroselben zugethanen, auch sonsten zu singen gebreuchlich.

Es kann nicht zweifelsfrei belegt werden, daß auf diesen frühbarocken Kirchenmusiker die Familie Vulpius in direkter Linie zurückgeht.

Der erste nachweisliche Vorfahre von Christiane Vulpius väterlicherseits soll ein 1611 in Wickerstedt an der Pest gestorbener Pastor sein. Ihm folgen mehrere Generationen von Geistlichen, die ihre Pastorate in Dörfern im nördlichen Thüringen haben. Es ist der gleiche Raum, in dem die Vorfahren Goethes, des Mainfranken, lebten, im nördlichen Thüringen, in Badra, Canna und Berka, Artern und Sondershausen, wo es den Namen Göte noch heute gibt. Sie waren Bauern und Handwerker, Landvermesser, Altaristen und Branntweinbrenner. Der Urgroßvater Hans Christian Goethe war Hufschmied, Zunftmeister und Ratsdeputierter in Artern. Der Großvater Georg Friedrich...

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