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'Cine?ma, dis-moi la ve?rite?'. Über (Kino-)Wahrheit im Cinéma Vérité. Jean Rouchs 'Moi, un Noir' und 'Chronique d'un été'

AutorKlaudia Bachinger
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl163 Seiten
ISBN9783656677727
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis31,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2013 im Fachbereich Romanistik - Französisch - Sonstiges, Note: 1, Universität Wien (Romanistik), Sprache: Deutsch, Abstract: Die vorliegende Diplomarbeit mit dem Titel Cine?ma, Dis-Moi La Ve?rite? beschäftigt sich mit dem Wahrheitsbegriff und der authentischen Abbildung von Wirklichkeit im Cine?ma ve?rite?. Das Cine?ma ve?rite? ist eine Strömung des Dokumentarfilms, die Anfang der 1960er Jahre von Jean Rouch begründet wurde. Rouchs 'Wahrheitskino' erhebt dabei jedoch nicht den Anspruch vorfilmische Wirklichkeit wahrheitsgetreu abzubilden; vielmehr geht es im Cine?ma ve?rite? darum durch den Prozess des Filmens Wahrheit zu provozieren. Stark beeinflusst von Dziga Vertovs Kinopravda und Robert Flahertys partizipierendem Kino erschafft der Dokumentarfilmer Rouch inhaltliche und a?sthetische Techniken zur Konstruktion sog. filmischer Wahrheit. Er wagt es die Grenze zwischen Fiktion und Dokumentarismus zugunsten der Wahrheitsstiftung zu überschreiten und mit der kinematographischen Tradition aufzubrechen. Besonders Wert legt der Filmautor auf die Abgrenzung zum damals üblichen Erklärdokumentarismus, sowie zum beobachten- den Dokumentarfilm des American Direct Cinema, deren unbeteiligte Observation er als voyeuristisch und naiv betrachtet. In Moi, un Noir unternimmt Jean Rouch erstmals den Versuch in einem Feature Film mit Instrumenten der Wahrheitsfindung, wie dem Cine?-Transe, der Partizipierenden Kamera und der Technik der Came?ra-stylo (dt. Federhalter-Kamera), die Geschichte nigerianischer Jugendlicher einzufangen. Eine Film- analyse nach Manfred Hattendorfs Authentisierungsstrategien, die als Parameter für die Repräsentation von Wahrheit herangezogen werden, soll Jean Rouchs Arbeitsweise zur Stimulation von Wahrheit im Cine?ma ve?rite? veranschaulichen.

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Leseprobe

2. Der Dokumentarfilm


 

Als Dokumentarfilm werden in einer ersten Überlegung Filme bezeichnet, die dem Fiktionsfilm gegenüberstehen, d.h. nicht-fiktional sind. Sie erzählen keine Geschichten und werden oft als "objektiv" verstanden. Filme, die nicht inszeniert sind sondern Wirklichkeit abbilden; diese dokumentieren, so wie sie ist, ohne Steuerung oder Einflussnahme des Regisseurs. Abgebildet werden Menschen (keine Schauspieler), Tiere, Orte und Situationen, die "wirklich" sind. Diese vereinfachten Eckpunkte galten lang unter zahlreichen Filmemachern und Autoren als Definition des Genres. Eine der wahrscheinlich bekanntesten Definitionen des Dokumentarfilms stammt von Wilhelm Roth, der in seinem Werk Der Dokumentarfilm seit 1960 behauptet, dass ein Film in der Regel dann als Dokumentarfilm anerkannt wird, wenn dieser "Ereignisse abbildet, die auch ohne die Anwesenheit der Kamera stattgefunden hätten, indem reale Personen in ihrem Alltag auftreten - ein Film also, der sich an das Gefundene hält"[6]. Doch tun sich beim Lesen dieser Definition rasch Fragen auf, wie etwa: Welche Geschichten gelten als "gefunden" und welche als "erfunden"? Gelten Ereignisse überhaupt als nicht "erfunden" aber "gefunden" sobald sie von einer Kamera (Photokamera, Videokamera, Tonbandgerät, etc.) abgebildet werden? Und in weiterer Folge, wie "real" verhalten sich Personen noch, wenn sie von einer Kamera begleitet werden und von Regisseuren gelenkt werden? Wir sehen, welche Problematiken sich uns beim Versuch einer Definition des Dokumentarfilms auftun. Im folgenden Abschnitt sollen einige Definitionen angeboten werden.

 

2.1. Definitionsversuche


 

Schlägt man in einem medienwissenschaftlichen Handbuch nach, um eine operable Definition von Dokumentarfilm zu finden, wird man zwar schnell fündig, bemerkt aber auch wie wenig brauchbar diese sind, zumal sich bei einer intensiveren Auseinandersetzung mit der Dokumentarfilmtheorie herausstellt, dass die Filmemacher und -theoretiker eine definitorische Begriffsbestimmung in vielen Hinsichten als problematisch erachten[7] und demzufolge den Dokumentarfilm für ihre Werke als Genre ständig neu definieren. Eine erste Definition, die es zum Dokumentarfilm zu finden gibt, liefert zum Beispiel Alphons Silbermann im Handwörterbuch der Massenkommunikation und Medienforschung und spricht vom Dokumentarfilm als ein "auf der Realität beruhender Filmtyp ohne Berufsschauspieler und ohne Spielhandlung, von S. Kracauer als Tatsachenfilm bezeichnet, [der es] bezweckt in erster Linie, in relativ ungezwungener, erfreulicher und müheloser Weise zu informieren und zu belehren"[8]. Diese Definition wirft wie bereits erwähnt einige zu diskutierende Fragen auf. Von welcher Realität spricht Silbermann? Ist jeder Film, der keine Geschichte erzählt, ein Film dessen Handlung nicht von Berufsschauspielern (oder Laien) gespielt wird ein Dokumentarfilm? Gibt es nur Dokumentarfilme, die darauf abzielen einen Informations- und Bildungsauftrag zu erfüllen? Kurzum, die hier postulierte nicht-fiktionale Eigenschaft und der Bezug zur Realität eines Dokumentarfilms stellt sich als weitaus problematischer und undurchsichtiger heraus. Eine Definition, die mit dem bis in die 60er Jahre üblichen Drang den Dokumentarfilm über die Abgrenzung zum Spielfilm zu definieren, aufbricht, bietet Bill Nichols, der in seinem Einführungswerk Introduction To Documentary (2001) behauptet, dass dem Film per se immer etwas Dokumentarisches innewohnt und folglich jeder Film ein Dokumentarfilm ist, beziehungsweise als ein solcher bezeichnet werden kann. Denn selbst die skurrilste Erzählung ist Beweis dafür, dass es eine Kultur gibt, die diese Geschichte bereits hervorgebracht hat und des Weiteren ein Abbild von Menschen reproduziert, die in ihr auftreten. In der Tat ist es nach Nichols so, dass es schlicht zwei Arten von Dokumentarfilmen gibt: Dokumentarfilme, die auf die Erfüllung von Wünschen abzielen und welche, die ihr Augenmerk auf die Darstellung sozialer Ereignisse richten. Unabhängig von der Bestimmung des Films, erzählen beide Typen eine Geschichte. Der Unterschied liegt allein in dem Wesen der Geschichte.[9]

 

Mit seinem streng pragmatischen Ansatz bietet Roger Odin ebenfalls an, jeden Film unter einem bestimmten Blickwinkel heraus betrachtet als Dokumentarfilm zu verstehen. Doch geht er einen Schritt weiter, indem er in Film documentaire, Lecture documentarisante[10] den Begriff der "dokumentarisierenden Lektüre" einführt und vorschlägt es dem Rezipienten selbst zu überlassen einem Film einen dokumentarischen Status zuzuschreiben oder nicht. Er spricht von einem "ensemble documentaire"[11], welches sich gleich dem fiktionalen Film in viele Genres unterteilen lässt. "Nous dirons qu'un film appartient a l'ensemble documentaire lorsqu'il integre explicitement dans sa structure (d'une facon ou d'une autre) la consigne de mettre en oeuvre la lecture documentarisante: lorsqu'il Programme la lecture documentarisante. Cette consigne peut se manifester soit dans le generique, soit dans le texte filmique lui-meme."[12] Odin überlässt dem Filmemacher die Aufgabe seinen Film explizit als Dokumentarfilm zu deklarieren, sei es im Vorspann oder im filmischen Text selbst, um dem Rezipient eine dokumentarisierende Lektüre des Films zu ermöglichen. Sein Ansatz ist ein ähnlicher wie Metz', welcher das filmische System mit dem Sprachlichen vergleicht (darum auch der Begriff Lektüre) und alle Filme als Fiktion erkennt.[13]

 

Eva Hohenberger indes begnügt sich in einer heuristischen Definition damit, "den Dokumentarfilm als einen Film zu bezeichnen, dessen Referenzobjekt die nichtfilmische Realität ist"[14]. Als nicht-filmische Realität wird eine Realität bezeichnet, die unabhängig vom Film existiert und zeitlich und räumlich dementsprechend vor den Dreharbeiten und sogar der Planung eines Films liegt[15]. "Diese Bestimmung hat einerseits den Vorteil, die bisherigen [Definitionen] wenigstens formal zu umfassen, und ist andererseits doch auch abstrakt genug, um theoretisch operabel zu sein, da sie weder Produktionsformen impliziert noch auf eine Gattungsgeschichte verweist, deren beider Konkretionen eine Theoretisierung immer wieder unterlaufen", so Hohenberger. Das ist in der Tat zutreffend, bringt uns aber wieder an den Anfang der Problematik. Wir erinnern uns an die obengenannte Definition Wilhelm Roths, welcher Filme nur dann als dokumentarisch anerkennt fänden alle von ihm abgebildeten Ereignisse auch ohne Anwesenheit der Kamera statt.

 

Eva Hohenberger bietet aus diesem Grund in ihrem späteren Werk Bilder des Wirklichen (1998) eine Definition auf mehreren Ebenen, auf einer Institutions-, Gesellschaftsund Produktions- und einer pragmatischen Ebene an:

 

1. "Auf einer institutionellen Ebene unterscheidet sich der Dokumentarfilm vom Spielfilm durch eine alternative Ökonomie. Er wird weniger kapitalintensiv produziert, besitzt andere Vertriebswege, eine andere (etwa an Bildungseinrichtungen gebundene) Öffentlichkeit.

 

2. Auf einer sozialen Ebene unterscheidet sich der Dokumentar- vom Spielfilm durch einen Anspruch auf Aufklärung und Wissen über die real existierende Welt. Der Dokumentarfilm hat gesellschaftlich eine andere Funktion als der Spielfilm.

 

3. Auf der Ebene des Produkts unterscheidet sich der Dokumentarfilm vom Spielfilm durch die Nichtfiktionalität seines Materials. In der Organisation dieses Materials ist er abhängig von den Ereignisverläufen der Wirklichkeit selbst.

 

4. Auf einer pragmatischen Ebene unterscheidet sich der Dokumentar- vom Spielfilm durch die Aktivierung realitätsbezogener Schemata. Dokumentarfilme werden als Filme über die reale Welt erkannt."[16]

 

Mir erscheint die Definition auf vier Ebenen für die vorliegende Arbeit am brauchbarsten, da sich Jean Rouchs Filme zumindest auf institutioneller, sozialer und pragmatischer Ebene einordenbar zeigen. Lange bevor Rouch auf 35mm Film und in Farbe drehte, realisierte er seine ersten Filme auf einer am Flohmarkt erstandenen 16mm Kamera, montierte sie mit einfachsten Mitteln und kommentierte sie on-the-spot bei öffentlichen Vorführungen[17]. Auch später, als seine Aufzeichnungen unterstützt wurden und ihm finanzielle Förderungen zur Verfügung standen, hielt er sein Budget so gering als möglich und arbeitete mit den primitivsten, technischen Mitteln, oft allein oder in kleinen Teams. Die ökonomische Produktion, sowie der Vertrieb seiner Filme über wissenschaftliche Institutionen erfüllt demzufolge den ersten Punkt Hohenbergers Definition. Was die zweite Ebene betrifft, so lassen sich Rouchs Filme auch hier mehr oder weniger eindeutig dem Dokumentarfilm zu ordnen. Zwar behauptete der Filmemacher auf die Frage "for whom do you make your films?" er hätte die Filme vor allem für sich selbst gemacht, gibt aber schließlich auch an, er mache sie gleichermaßen für die Menschen, die in dem vorfilmischen Ereignis partizipieren, um ihnen einen Dialog zwischen Kulturen zu ermöglichen und nicht zuletzt mache er die Filme "for the greatest number of people, for everyone", für alle, die sich für Humanismus und Global Understanding interessieren[18]. Die Funktion seiner Filme ist folglich durchaus eine gesellschaftlich anders motivierte als beim Spielfilm und erhebt den Anspruch auf Aufklärung und Wissen über real existierende Kulturen und Personen. Womit auch gleich der vierte Punkt, die pragmatische Ebene, erfüllt wäre, denn Jean Rouchs Filme aktivieren...

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