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E-Book

Computerspiele

Eine Ästhetik

AutorDaniel Martin Feige
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl205 Seiten
ISBN9783518742150
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR


<p>Daniel Martin Feige ist Professor f&uuml;r Philosophie und &Auml;sthetik an der Staatlichen Akademie der Bildenden K&uuml;nste Stuttgart.</p>

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Leseprobe

Kapitel 2
Zur Bestimmung des Wesens des Computerspiels


Falsche Alternativen


Wenn man fragt, was etwas ist, fragt man nach dem Wesen einer Sache. In der antiken und mittelalterlichen Philosophie wurde die Frage nach dem Wesen einer Sache so verstanden, dass man nach dem Oberbegriff, unter den die zu definierende Sache fällt, fragt (Genus proximum) und zugleich nach Merkmalen, die die entsprechende Sache von anderen Dingen, die ebenfalls unter den Oberbegriff fallen, eindeutig abgrenzen (Differentia specifica).[1] So gehören Mensch und Tier beide zur Gattung der Lebewesen, aber der Mensch bildet eine andere Art als das Tier, weil er, anders als das Tier, vernunftbegabt ist. Der Mainstream der heutigen Philosophie hat sich von einer solchen Angabe des Wesens einer Sache verabschiedet. Unter einer Definition wird heute eher eine Analyse von jeweils notwendigen und zusammen hinreichenden Bedingungen verstanden. Die Angabe derartiger Bedingungen soll es erlauben, die Klasse der zu definierenden Gegenstände aus der Menge aller Gegenstände in trennscharfer Weise herauszugreifen. Um etwas zu definieren, muss man somit die jeweils notwendigen Bedingungen benennen, die dann zusammen auch hinreichende Bedingungen sind, wenn sie trennscharf die Gegenstände und nur die Gegenstände, die unter den Begriff fallen, herausgreifen. Offensichtlich kann eine solche Definition auf zwei Arten scheitern. Erstens könnte es sein, dass im Rahmen einer Definition Bedingungen angeführt werden, die zusammen gar keine hinreichenden Bedingungen, sondern nur notwendige Bedingungen sind. Prägnant lässt sich das anhand der Frage illustrieren, was Kunst ist – das ist wohl der Bereich der Ästhetik, in dem am intensivsten über Möglichkeiten und Logiken der Definition gestritten worden ist.[2] Wenn man zum Beispiel sagt, Kunstwerke seien erstens das Produkt von Kreativität und entstünden zweitens in historisch-kulturellen Kontexten, so ist offensichtlich, dass die Angabe dieser Bedingungen keine Definition dessen sein kann, was Kunst ist. Denn dieser Definitionsvorschlag ist auch dann, wenn er notwendige Bedingungen von Kunst richtig benennen sollte, zu inklusiv: Eine solche Definition greift nicht bloß Kunstwerke, sondern auch andere Arten von Gegenständen, etwa viele Gebrauchsgegenstände und sicher auch einige wissenschaftliche Texte, aus allen Gegenständen der Welt heraus. Die sich aus einer solchen Definition ergebende Extension des Kunstbegriffs ist somit größer, als sie sein sollte, insofern sie zu vieles mit einschließt, was nicht zum Begriff der Kunst gehört. Zweitens könnte es sein, dass ein Definitionsvorschlag Bedingungen nennt, die zu vieles ausschließen. Nehmen wir an, wir würden zu den notwendigen Bedingungen von Kunst das Ausdrücken von Emotionen zählen. Ganz gleich, wie es um die sonstigen angegebenen Bedingungen der Definition stehen mag, kann eine solche Definition schon durch dieses Kriterium nicht mehr zutreffend sein, denn die Charakterisierung des Ausdrückens von Emotionen passt sicherlich nicht auf alle Kunstwerke. Eine derartige Definition wäre zu exklusiv, da sie zu vieles ausschließen würde. Die sich aus dieser Definition ergebende Extension des Kunstbegriffs wäre geringer, als sie sein sollte. Die vorgeschlagene Definition würde damit nur eine Teilmenge aus der Menge aller Kunstwerke herausgreifen. Für beide Arten des Scheiterns – dass eine Definition zu inklusiv ist oder dass eine Definition zu exklusiv ist – kann man festhalten, dass hier in Wahrheit gar nicht der in Frage stehende Begriff definiert wird, sondern vielmehr diesem Begriff durch die entsprechende Definition ein neuer Sinn gegeben wird. Die Grenzen dessen, was unter Kunst verstanden wird, werden durch eine zu exklusive oder zu inklusive Definition neu gezogen. Wo aber liegen solche Grenzen? Es muss hier irgendeine Art von Grenze geben, denn der sich vielleicht im Lichte der Avantgarden des 20. Jahrhunderts aufdrängende Gedanke, dass alle Gegenstände der Welt Kunstwerke sind, ist nicht plausibel: Aus der Tatsache, dass prinzipiell jeder Gegenstand ein Kunstwerk werden könnte, folgt keineswegs, dass jeder Gegenstand ein Kunstwerk ist. Schlimmer noch: Wenn alles Kunst ist, kann schon aus begrifflichen Gründen nichts mehr Kunst sein, weil der Kunstbegriff nur verständlich ist, wenn es auch Gegenstände gibt, die keine Kunstwerke sind. Eine erste und vorläufige Antwort auf die Frage, wo die Grenzen des Kunstbegriffs zu finden sind, lässt sich unter Verweis auf den Gebrauch dieses Begriffs geben. Denn es ist angesichts von Begriffen wie dem der Kunst nicht so, dass man an der Praxis vorbei die Begriffe einfach neu definieren kann. Vielmehr muss es darum gehen, eine Definition zu finden, die letztlich mit unserem Gebrauch des entsprechenden Begriffs kompatibel ist und diesem nicht widerstreitet. Bei Definitionen, die die Grenzen der Anwendung ihrer Begriffe im Akt der Definition selbst ziehen, spricht man auch von stipulativen Definitionen. In vielen Wissenschaften sind Fachbegriffe notwendigerweise in dem Sinne stipulativ, dass hier zum Zwecke einer bestimmten empirischen oder theoretischen Aufgabe Begriffe definiert werden, die keinen vorgängigen Gebrauch in der Praxis haben – oder man lässt gebräuchlichen Begriffen eine neue terminologische Verwendung angedeihen, wodurch sie aber eben andere Begriffe werden. Hier gibt es kein Problem, wenn dies ausschließlich zu wissenschaftlichen Zwecken geschieht. Anders sieht es aber mit Blick auf Begriffe aus, die in unserer Praxis einen eingespielten Gebrauch haben, wenn der Anspruch ist, zu klären, was wir mit diesen Begriffen im Alltag meinen. Ein Problem besteht hier deshalb, weil in dem Fall, in dem die genannten Bedingungen gar nicht den Begriff definieren, wie er in der Praxis verwendet wird, in Wahrheit ein neuer Begriff definiert und kein etablierter durch eine Definition aufgeklärt wird.

Was ich bislang mit Blick auf Definitionen in allgemeiner Weise geltend gemacht habe, soll nun hinsichtlich der Frage der Definition von Computerspielen konkretisiert werden. Ausgehend von diesen ersten minimalen Klärungen bezüglich der Frage, was es grundsätzlich heißen könnte, etwas zu definieren, lässt sich ein neuer Blick auf eine der markantesten Kontroversen in den Game Studies richten: auf die Alternative zwischen einem Verständnis von Computerspielen als interaktiven Erzählungen und einem Verständnis von Computerspielen als digitalen Spielen. Abkürzend kann man von einem narratologischen und einem ludologischen Verständnis von Computerspielen sprechen.[3] Es ist bemerkt worden, dass es sich bei dieser Kontroverse um eine handeln könnte, die erst im Rückblick auf frühe Diskussionen der Game Studies projiziert worden ist – oder vielleicht auch, dass es diese Kontroverse in einer derartigen scharfen Konturierung gar nicht gab.[4] Nichtsdestotrotz scheint es mir sinnvoll, mit einer derart pointierten Gegenüberstellung zu beginnen – nicht, um eine historische Debatte der Game Studies zu rekonstruieren, sondern vielmehr, um eine logische Form des Denkens zu identifizieren, von der ich zeigen werde, dass sie per se zum Scheitern verurteilt ist, so dass letztlich auch alle anderen inhaltlichen Bestimmungen, die sich in dasselbe logische Register einordnen lassen, nicht zutreffend sein können.

Narratologische Konzeptionen des Computerspiels gehen von einer Kontinuität zwischen Computerspielen und ästhetischen Medien wie dem Film oder der Literatur aus. Schon diese Beschreibung ist natürlich mit Vorsicht zu genießen: Zwar sind viele – wenn nicht sogar die meisten – Filme und zumindest viele derjenigen literarischen Werke, die der Epik zuzurechnen sind, erzählend. Es sind aber keineswegs alle Filme oder literarischen Werke und selbst solche der Epik in dem Sinne erzählend, dass das Erzählen ihre ästhetische Pointe wäre. Das Erzählen ist nur eine der Möglichkeiten des Films und der Literatur, keineswegs aber eine notwendige Bedingung für diese ästhetischen Medien und natürlich erst recht keine hinreichende. Den Schachzug der narratologischen Theorie des Computerspiels kann man jedoch zunächst insofern einmal mitmachen, als man festhält, dass diese Theorie eine Kontinuität zwischen Computerspielen und solchen Filmen und Romanen behauptet, die erzählend sind. Unter dem Begriff des Erzählens kann eine Form der Darstellung eines Geschehens verstanden werden. In den meisten narratologischen Theorien wird dabei zwischen dem Erzählen – wie etwas präsentiert wird – und dem Erzählten – was präsentiert wird – unterschieden.[5] Lässt sich das Erzählte etwa als Chronologie von Ereignissen qualifizieren, so muss deren Chronologie nicht im Erzählen selbst gespiegelt werden, sondern kann vielmehr umgestellt werden; das Zurückhalten von Informationen ist zum Beispiel ein wesentliches Verfahren auf der Ebene des Erzählens. Obwohl die Unterscheidung zwischen einem »Was« und einem »Wie« der Narration etabliert ist und mit plot und story, histoire und discourse sowie fabula und syuzhet in der film- und literaturwissenschaftlichen Narratologie terminologisch jeweils unterschiedliche begriffliche Fassungen kennt, ist sie unter ästhetischer Perspektive gleichwohl mit Vorsicht zu genießen.[6] Denn in bestimmter Weise gibt es unter ästhetischer Perspektive kein »Was«, das von einem »Wie« abtrennbar wäre, und es kann deshalb keine Übersetzung in unterschiedliche ästhetische Medien geben. Zwei Filme oder Romane sind selbst dann nicht ineinander übersetzbar, wenn das von ihnen Erzählte identisch ist. Zwar können solche Konvergenzen nicht...

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