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E-Book

Das 4. Lebensalter

Demenz ist keine Krankheit

AutorReimer Gronemeyer
VerlagPattloch Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783629320490
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Prominente wie Rudi Assauer, Tilman Jens und Arno Geiger haben die Öffentlichkeit wachgerüttelt - nun liefert Reimer Gronemeyer den Hintergrund zu einer längst überfälligen Debatte: Sein Buch 'Das vierte Lebensalter' beschreibt den schwierigen Alltag dementer Menschen und ihrer Angehörigen und prophezeit eine soziale Kernschmelze: In unserer alternden Gesellschaft werden immer mehr Menschen dement, ihre Familien sind immer weniger in der Lage, diese Menschen aufzufangen, und die Kosten für ihre Betreuung explodieren. Reimer Gronemeyer fordert einen Perspektivwechsel. Seine These: Mit medizinischer Forschung werden wir das Problem nicht lösen! Was wir brauchen, ist eine Strategie gegen die sozialen Folgen von Demenz. Denn wir wissen nicht, wodurch Demenz ausgelöst wird - aber wir wissen, dass es jeden treffen kann.

Reimer Gronemeyer, Jahrgang 1939, war als promovierter Theologe zunächst Pfarrer in Hamburg, bevor er sich der Soziologie zuwandte. Seit 1975 hat er einen Lehrstuhl für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen inne. Seine Publikationsliste umfasst mehr als 30 Buchtitel; u.a. 'Sterben in Deutschland' , 'Kampf der Generationen' und 'Wozu noch Kirche?' Reimer Gronemeyer hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in zahlreichen Initiativen, Expertengruppen und Organisationen mit den Themen Aidsbekämpfung, Palliativ-Medizin, Hospizbewegung sowie Demenz beschäftigt. Derzeit ist er Vorstandsvorsitzender der Aktion Demenz e.V. und ein viel gefragter Redner auf Tagungen und Kongressen. 2012 ist bei Pattloch 'Der Himmel. Sehnsucht nach einem verlorenen Ort', 2013 'Das 4. Lebensalter. Demenz ist keine Krankheit' erschienen.

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Leseprobe

Sieben einseitige Sätze zur Demenz –
Warum Demenz keine Krankheit ist


»Ihr Gradlinigen, seht euch vor in den Kurven.«

Jerzy Lec [24]

»Das Symptom entsteht, wo die Welt scheiterte, wo der Kreislauf der symbolischen Mitteilungen unterbrochen wurde; es ist eine Art der ›Fortsetzung der Mitteilung mit anderen Mitteln‹.«

Slavoj Žižek[25]

Es ist doch merkwürdig: Die Zahl der Kinder mit der Diagnose »Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung« (ADHS) nimmt zu. Die Zahl der Menschen mit der Diagnose »Burn-out« nimmt auch zu. Die Zahl der Menschen mit psychischen Erkrankungen überhaupt wächst mit zweistelligen Raten. Und unter den Alten greift die Demenz um sich. Störungen, die das betreffen, was früher die Seele geheißen hat, laufen anderen Krankheiten allmählich den Rang ab. Gleichzeitig wächst die Gesundmachmaschine. Allerdings gerade in diesen Bereichen, in denen die Psyche Schäden aufweist, ohne große Erfolge. Eher gilt: In dem Maße, wie die Kosten wachsen, nehmen wahrscheinlich die Heilungserfolge ab. Man könnte denken, dass die Gesundmacher so etwas wie Bankrottverschleppung betreiben, was ja im Geschäftsbereich strafbar ist. Sie diagnostizieren, verschreiben – ohne ihr Scheitern einzugestehen. Und meistens, ohne nach den gesellschaftlichen Ursachen zu fragen.

Die Frage nach den gesellschaftlichen Verknüpfungen, in denen Burn-out, Depression, Demenz und ADHS losbrechen, wird geradezu tabuisiert und als »Einzelschicksal« verrechnet. Das Leiden der Menschen an unerträglich werdenden Lebensumständen wird privatisiert und in die ärztliche Praxis getragen, wo dann im Zweifelsfall durch den Verweis auf irgendwelche genetischen Schäden die erdrückenden Lebensbedingungen von jeder Schuld freigesprochen werden: »Du lebst falsch«, oder »Du hast schlechte genetische Ausgangsbedingungen«. Zukünftig werden in den Arztpraxen immer häufiger Geräte mit Biomarkern stehen, die den Menschen vorrechnen, welche biologischen Anlagen zwangsläufig zu Depression oder Demenz führen müssen. Nach der Erfahrung von Hektik, Druck, Einsamkeit, Armut, Überlastung muss nicht mehr gefragt werden, wenn man die Biomarker hat. Man fügt sich in sein Schicksal. Christopher Lauer, für die Piraten im Berliner Abgeordnetenhaus, setzt diese Privatisierung und Entpolitisierung von Krankheit konsequent fort, wenn er sagt: »Ich habe ADHS – und das ist gut so.« Man fragt sich, wann die Sätze folgen: Ich bin depressiv – und das ist auch gut so. Ich bin dement – und das ist auch gut so. Ich habe Krebs – und das ist auch gut so.

Man könnte den Sätzen ja sogar etwas abgewinnen, wenn sie den offensiven Umgang mit dem signalisieren würden, was man an Leiden erfährt, die man sich zu erklären versucht. Aber Christopher Lauer scheint das, was ist, kurzerhand heiligzusprechen – letztes Einverständnis mit der versteinerten Gewalt, die gesellschaftlich erfahren, aber nicht mehr verstanden wird. »Ich nehme Methylphenidat. Dies ist der Name eines Präparates, welches einem breiteren Publikum unter dem Handelsnamen ›Ritalin‹ bekannt geworden ist. Allerdings gibt es Generika diverser Firmen. Wichtig ist: Ich nehme Methylphenidat wegen und nicht gegen ADHS. Ich empfinde es als großes Glück, 27 Jahre normal gelebt zu haben und durch das Medikament für 2,5 Stunden oder länger in eine Welt eintauchen zu können, die mir vorher verschlossen war. Ich bin gelassener, und es macht meinen Alltag, insbesondere im Umgang mit anderen Menschen, einfacher. Das bedeutet nicht, dass ich ohne das Medikament nicht mehr klarkommen würde. Die Einnahme von Methylphenidat ist ein bewusster Akt und ein Zugeständnis an eine Gesellschaft, in der 95% der Menschen eben kein ADHS haben.

Mit meinem Schritt in die Öffentlichkeit möchte ich andere ADHSler dazu bewegen, mutig, selbstbewusst und offen mit diesem Zustand umzugehen. Vor allem möchte ich, dass in der öffentlichen Diskussion die Vorteile von ADHS in den Vordergrund rücken. Nichtlineares, asynchrones Denken ist eine Bereicherung für alle. ADHS im Erwachsenenalter ist ein wichtiges Thema. Ich bin wegen, nicht trotz ADHS so, wie ich bin.

Ich habe ADHS – und das ist auch gut so.«[26]

 

Ivan Illich hat in den 1970er Jahren die These formuliert, die Medizin sei zur größten Bedrohung für die Gesundheit geworden. Das Lechzen nach immer mehr Dienstleistungen und Gütern aus dem Füllhorn der Gesundheitsindustrie untergräbt – so Ivan Illich 1995 – würdiges Leben, Leiden und Sterben. »Die Gastfreundschaft für den Andersartigen wird durch die therapieorientierte Diagnostik bedroht, die Leidenskunst durch das Versprechen der Schmerzstillung untergraben und die Kunst des Sterbens durch den Kampf gegen den Tod überlagert.«[27]

Vermutlich ist der Weg, den Christopher Lauer eingeschlagen hat, der einzige, der bleibt: »Die Vorteile von ADHS in den Vordergrund rücken.« Die Anpassung an die schlechte Wirklichkeit als Antwort auf das Scheitern aller Veränderungshoffnungen – das ist wohl gemeint.

Die WHO rechnet damit, dass Depressionen im Jahr 2020 nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen weltweit »den zweiten Platz in der Hitparade der Krankheiten einnehmen werden«. In Deutschland zeigt eine Studie aus dem Jahr 2010, dass sich das Volumen der verschriebenen Antidepressiva unter den Beschäftigten in den letzten zehn Jahren verdoppelt hat.[28] Dass die Wirksamkeit von Antidepressiva höchst fraglich ist, wird immer deutlicher, aber sie verhelfen der Pharmaindustrie und den ärztlichen Dealern zu ansprechenden Gewinnen. Pillen verteilen – das ist bequem, und die Betroffenen verlangen sie ja auch.

Mehr als eine Million Menschen mit Demenz leben bei uns. Diese Menschen brauchen unser Mitgefühl und unsere Hilfe. In der alternden Gesellschaft, in der wir uns befinden, wächst die Zahl der Betroffenen. Eine anständige, humane, überlegte Unterstützung wird zur großen kulturellen Aufgabe in Deutschland und Europa. Die moralische Zukunft Europas wird sich an der Frage entscheiden, wie es mit 80 Millionen Pflegebedürftigen, die für 2050 zu erwarten sind, umgehen wird. Demgegenüber wird die Sorge um Börsenkurse, Rettungsschirme und ökonomische Krisen geradezu nebensächlich – auch wenn Zusammenhänge zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Versorgung der Pflegebedürftigen und Dementen unübersehbar sind.

Dieses Buch ist aus der Furcht heraus geschrieben, dass der Umgang mit der Demenz in die falsche Richtung geht. Die Medikalisierung der Demenz ist ein Irrweg, der – angesichts der Hilflosigkeit der Medizin im Umgang mit der Demenz – mehr zum Elend der Menschen mit Demenz beiträgt, als dass er aus dem Elend herausführt oder es mildert.

 

Warum?

1. Wir entfernen uns von den Menschen mit Demenz.

Unser Alltag ist durch immer mehr Mobilität, Beschleunigung und Innovation gekennzeichnet. Soziale Milieus haben sich aufgelöst, Familien zerfallen, der Single wird zur Grundfigur des Alltagslebens. Diese Entwicklungen machen es Menschen mit Demenz immer schwerer, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Das bedeutet: Nicht die Dementen entfernen sich von uns, sondern wir – die noch nicht Betroffenen – entfernen uns von ihnen. In gewisser Weise sind wir, die wir uns für normal halten, nicht weniger behandlungsbedürftig als die Menschen mit Demenz. Und die Welt, in der wir leben, die Städte, die Kommunen, die Dörfer, wird lebensfeindlicher. In den neuen Sozialwüsten wird das Überleben mit Demenz für die Betroffenen und ihre Angehörigen schwer und schwerer. Gegenwärtig wohnen 23 Millionen Menschen bei uns allein. Jeder Dritte der über 65-Jährigen lebt in einem Einpersonenhaushalt. Die Zahl der Eheschließungen geht angesichts der Mobilitäts- und Flexibilitätsforderungen in der Arbeitswelt immer weiter zurück: Die Älteren finden die Lebens- und Sozialwelt, in der sie aufgewachsen sind, immer weniger vor.[29]

2. Die Demenz wird medikalisiert.

Die alten Rhythmen des Lebens sind zum Schweigen gebracht. Die Hilflosigkeit des Kindes und die Hilflosigkeit des Greises, Werden und Vergehen, wurden ehemals als etwas betrachtet, das zum menschlichen Leben gehört. Heute sind der Anfang des Lebens und das Ende zu medizinischen Projekten geworden. Dem Zwang zur Vorsorgeuntersuchung bei der Schwangeren entspricht der wachsende Druck zur Demenz-Diagnose beim Alten. Die Gesundheitsindustrie kontrolliert den Anfang und das Ende – und die Zeit dazwischen sowieso. Im Grunde fühlt man sich nicht in erster Linie jung, erwachsen oder alt, sondern krank oder nicht krank. Medizinische Diagnose und Betreuung sind an die Stelle der Rhythmisierung des Lebens getreten, und deshalb ist man nicht mehr in erster Linie Jüngling oder Greis, sondern Kranker oder Nichtkanker. Die Diagnose »Alzheimer« wird über die wachsende Gruppe Verwirrter gelegt, dadurch kann das beunruhigende Phänomen als medizinisch-pflegerisches Phänomen geortet, eingeordnet und beruhigt zur Behandlung freigegeben werden. Dass Verwirrung zum Alter gehören kann, wussten die Menschen immer. Die Demenz darf...

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