Was sind die Ursachen und Entstehungsbedingungen für destruktiv aggressives und gewalttätiges Verhalten? Welches sind die aggressionsfördernden Faktoren? Eine Vielzahl von Theorien beantworten diese Fragen vor dem Hintergrund ihres fachspezifischen Zugangs. Auf alle gesellschaftspolitischen, philosophischen, soziologischen, tiefen- und verhaltenspsychologischen, ethologischen und genbiologischen Ansätze in aller Ausführlichkeit einzugehen ist mir weder möglich, noch zentrales Anliegen dieser Arbeit. Aggressionstheorien machen verschiedene Annahmen über die Entstehung aggressiven Verhaltens deutlich, sind jedoch für sich allein genommen, nicht in der Lage das gesamte Ursachen – und Bedingungsgeflecht aggressiven Verhaltens zu erklären.
Bei der nachfolgenden Betrachtung einiger ausgewählter Ansätze beziehe ich mich aus diesem Grund auf Erklärungsmodelle, die mir wesentlich erscheinen, die theoretischen Grundannahmen des AAT zu beschreiben.
Daß jedem Menschen ein Aggressionspotential innewohnt, Aggression und Zerstörung also genetisch bestimmt und angeboren ist und eine triebmäßige Neigung befriedigt, geht zurück auf die Theorie Freuds und bestimmt maßgeblich den psychoanalytischen Erklärungsansatz. Nach ihr werden die Auslöser und Anreger für Aggressionen ausschließlich in der Person selbst gesehen. Obwohl Adlers Weiterentwicklung dieser Theorie u.a. die Nähe des Aggressionstriebes zum Geltungsbedürfnis als Folge von Minderwertigkeitsgefühlen beschreibt (vgl. Weidner 1997a, S.38) und er sich somit der Veränderbarkeit aggressiven Verhaltens nähert, gehen das tiefenpsychologische und triebtheoretische Modell grundsätzlich von einer Unveränderbarkeit, allenfalls von einer Äußerungsreduzierung von Aggressivität aus und sollen aus diesem Grund hier nicht eingehender betrachtet werden.
Der Begriff der Lerntheorie ist maßgeblich auf den amerikanischen Psychologen Skinner zurückzuführen, der in seinen Forschungsergebnissen die Bedeutung der sozialen Verstärkung für die Verhaltensbeeinflussung nachweisen konnte.
In Anlehnung an die Modelle des klassischen Konditionierens (reaktives Konditionieren nach Pawlow, Watson und Guthrie) und dem instrumentellen Konditionieren (nach Thorndike) ging Skinner davon aus, daß Reaktionen nicht nur über bestimmte auslösende Reize zu erklären sind, sondern daß vielmehr das Individuum aktiv auf seine Umwelt einwirkt und die Konsequenzen dieser Einwirkung über die „Auftretenswahrscheinlichkeit“ der „Wirkreaktion“ entscheiden – die „Wirkreaktionen“ quasi positiv oder negativ verstärkt werden. Gelernte Reaktionstendenzen bilden sich demnach zurück (werden „gelöscht“), sobald die gewohnten Verstärkungen nicht mehr erfolgen (Fliegel et al. 1989, S.36). Demzufolge treten Wirkreaktionen dann regelmäßig auf, wenn sie regelmäßige positive Verstärkung erfahren. Jedoch kann eine Verstärkung nur dann wirksam werden, wenn sie auch als solche empfunden wird und „wenn eine Deprivation von diesem Verstärker vorliegt, das heißt Verstärkung ist motivationsspezifisch“. (Fliegel et al. 1989, S.37) Erfolgen Verstärkungen nur unregelmäßig auf bestimmte Wirkreaktionen, dann wird von einer sog. „intermittierenden Verstärkung oder Bestrafung“ (Fliegel et al. 1989, S.37) gesprochen, welche den Lernprozess verlangsamt, ein weiteres Auftreten des bisherigen Verhaltens und eine größere Resistenz gegen Löschungen bewirkt.
Nach diesem Modell lassen sich, über positive und negative Verstärkung, Verhaltensweisen in Richtung auf ein gewünschtes Zielverhalten systematisch aufbauen (Differenzierungslernen). Dazu wird jede Annäherung auf dieses gewünschte Zielverhalten zunächst verstärkt und schließlich durch systematische Erhöhung der Anforderungen gefestigt (vgl. Fliegel et al. 1989, S.37).
Während die klassische behavioristische Lerntheorie lediglich von der Reaktion des Individuums auf Reize und Verstärkungen ausgeht und Persönlichkeit ausschließlich als Summe offener und verdeckter Reaktionen ansieht (vgl. Hoppe-Graff / Keller 1992, S.417), vertritt die Theorie des sozialen Lernens den Ansatz, daß menschliches Handeln, also auch Aggression, über die aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt, über Beobachtung, Erfahrung und Veränderung entwickelt und erworben wird. Bandura, einer der bekanntesten Vertreter dieser Theorie ging davon aus, daß („in einem doppelseitigen Kausalprozess“) Verhalten teilweise Umwelt hervorbringt und die resultierende Umwelt wiederum das Verhalten beeinflußt (Bandura 1979, S.59). Er erforschte weiterführend, daß Lernen auch über Modelle, d.h. durch das vorgelebte Verhalten von Mitmenschen, durch die Beobachtung und die Nachahmung dieses Verhaltens, erfolgt.
Demzufolge werden, neben einer Vielzahl alltäglicher positiver und gesellschaftlich akzeptierter Verhaltensweisen und Handlungen, auch Ellenbogenmentalität, das gewaltsame Durchsetzen von eigenen Interessen, aber auch die Gewalt als Befriedigung von Lust, Machttrieb und Dominanzstreben erlernt.
Modelle stehen Kindern und Jugendlichen allerorten und zu jeder Zeit zur Verfügung:
So z.B. die Familie, in der aggressive und gewaltsame Auseinandersetzung und Konfliktlösungen zwischen den Eltern untereinander oder zwischen den Eltern und den Kindern (von 12% bis fast 50% der Eltern stehen körperlicher Züchtigung nicht ablehnend gegenüber) selbstverständlich sind (vgl. Bründel / Hurrelmann 1994, S.65). Auch die Medien, die nicht nur die Lebens- und Freizeitgewohnheiten der Kinder und die Kommunikation innerhalb der Familien beeinträchtigen, sondern permanent Gewalt als probates Konfliktlösungsmodell präsentieren (24,8 Prozent aller neun bis zehnjährigen Großstadtschüler schauen täglich bis zu fünf Stunden fern) haben Modellfunktion (vgl. Brüdel / Hurrelmann 1994, S. 187). Darüber hinaus stellen die Cliquen, die den Jugendlichen außerhalb der Familie Zugehörigkeit, Sicherheit Anerkennung und Gemeinschaft bieten und gleichzeitig häufig einen hohen Anpassungsdruck, auch hinsichtlich der gewalt- und kriminalitätsbejahenden Regeln und Normen ausüben, ein zentrales Lern- und Verhaltensmodell dar (vgl. Bründel / Hurrelmann 1994, S.155).
Nach Bandura werden jedoch nicht alle Modelle nachgeahmt, denn die Anwendung des erworbenen Verhaltens wird dann unwahrscheinlich, wenn es nur einen geringen funktionalen Wert hat oder ein hohes Risiko besteht, bestraft zu werden. Im Umkehrschluß bedeutet dies, daß aggressives Verhalten besonders dann nachgeahmt wird, wenn es erfolgreich ist, das heißt, wenn es positive Verstärkung erfährt (vgl. Bründel / Hurrelmann 1994, S.262 ff.).
Mit der These der „differenziellen Assoziation“ lehnt sich Sutherland (1938/1968) stark an die psychologischen Lerntheorien an und verweist darauf, daß abweichendes Verhalten grundsätzlich nach den gleichen Prinzipien gelernt wird wie konformes Verhalten, und daß dieses Lernen am Modell stattfindet, nämlich über die interpersonalen Beziehungen und die Kommunikation mit normabweichenden Akteuren sowie über den „Kontakt mit deren Situationsdefinition“. (vgl. Brusten 1999, S.538)
Mit diesem Erklärungsansatz für aggressives Verhalten stellte ein Psychologenteam um Dollard (1939)I eine vermittelnde Betrachtungsweise zwischen der Triebtheorie und den lerntheoretischen Erklärungsansätzen auf. Nach Dollard et al. ist Aggression ein erworbener Trieb und tritt immer als Folge von Frustration auf, wobei Frustration immer dann auftritt, wenn angestrebte „Zielreaktionen“ ausbleiben. Darüber hinaus ist die Aggressionstärke proportional zur vorangegangenen Frustrationsstärke. In Anlehnung an die Freud‘sche Katharsisannahme wird, nach Dollard, aggressive Energie durch aggressives Verhalten abgeführt, wodurch sich eine weitere Aggressionbereitschaft reduziert. Wird die Aggressionsausübung gestört, kommt es zur Verschiebung auf andere Personen oder Objekte (vgl. Weidner 1997a, S.20 ff.).
Die Annahme, daß jeder Aggression eine Frustration vorausgeht und jede Aggression in Frustration mündet wurde später dahingehend relativiert, daß zwar jede Frustration zu einer emotionalen Erregung führen kann, jedoch die Erregung zu schwach sein kann, um tatsächlich in aggressives Verhalten zu münden. Weidner verweist auf Selg, der von der „Frustration-/Antriebs-Hypothese“ spricht und davon ausgeht, daß „Frustration zu einer Erregung führt, die »nachfolgendes Verhalten intensiviert«“. (Weidner 1997, S.24) Rommelspacher bezieht sich ebenfalls auf die relativierte Sicht der Frustrations-Aggressions-Theorie und gibt zu bedenken, daß Frustration nicht automatisch zu Aggressionen führt, denn „...sonst könnten ganz andere Leute (als nur männliche Jugendliche, d. Verf.) gewalttätig werden, etwa Frauen; aber...