I. Verdrängter Ursprung
Wie viele Geschichten ist auch die der Europäischen Union eine der Verdrängung ihres Ursprungs.1 Nicht mit dem technokratischen Konsens der Eliten und ihrem managerial mindset, sondern mit der Befreiung unterdrückter Massen zu politischer Selbstgesetzgebung begann die Vereinigung Europas im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs (Juli 1944 bis Mai 1945). Durch den technokratischen Konsens der Eliten, der sich dann in den Römischen Verträgen von 1957 durchsetzte, wurde der in den Völkerschlachten, Bürgerkriegen und Klassenkämpfen des Zweiten Weltkriegs erwachte Kantian constitutional mindset der Gründung Europas nachhaltig verdrängt.2 Verdrängt wurde das Ziel der Emanzipation Europas von faschistischer Herrschaft, das im Namen umfassender, demokratischer und sozialer Selbstbestimmung angestrebt worden war.3 Verdrängt und durch nachgeschobene Friedensrhetorik verdeckt wurde die von faschistischer und nationalsozialistischer Herrschaft befreiende Gewalt der Waffen, die der verfassunggebenden Gewalt der Neugründung Europas die Richtung gewiesen hatte. Verdrängt wurde die verfassunggebende Gewalt der Völker, die den regierenden Herren der Verträge die Vereinigung vorgeschrieben hatte.4 Was blieb, war die Herrschaft der Verträge.
Verdrängt wurde, daß die Einigung Europas und die Einbeziehung Südeuropas in die Union nur unter striktem, auch militärisch erzwungenem Ausschluß aller demokratischen Alternativen durchgesetzt wurde, die links vom (moderat sozialdemokratischen) Modell des demokratischen Kapitalismus lagen.5 Ein aussichtsreicher kommunistischer Aufstand in Griechenland wurde lange vor Gründung der EU gleich nach dem Krieg von britischen Truppen niedergekämpft. Danach hat der Westen die Errichtung einer schwach konstitutionalisierten Monarchie mit einer orthodoxen Staatskirche ebenso massiv unterstützt wie die jahrzehntelange Alleinherrschaft der Christdemokraten in Italien. Als der Dauerkonflikt zwischen Monarchie und Parlament in Griechenland sich in den sechziger Jahren zur Legitimationskrise des politischen Systems ausweitete, haben die EU und der Westen die diktatorische Lösung des Problems mindestens geduldet, wenn nicht stillschweigend begrüßt und unterstützt. Die Obristen hatten die Mitgliedschaft im Europarat sofort nach der ersten Anklage mit der offiziellen Begründung aufkündigt, der Europarat und dessen Kommission für Menschenrechte sei eine Verschwörung von Kommunisten und Homosexuellen gegen die hellenischen Werte.6
Verdrängt wurde, daß die EU und ihre Gliedstaaten zusammen mit der Nato und einer militärischen Drohkulisse seitens der USA in den siebziger Jahren die damals durchaus realistische eurokommunistische Option in Italien, Portugal und Spanien blockierten. Die marktkonforme Begrenzung des demokratischen Alternativspielraums und die Unterwerfung Südeuropas unter die Herrschaft des europäischen Wettbewerbskommissars hat Europa viel Geld gekostet. Der segensreiche Strom des Konsum- und Investitionskapitals nach Süden verebbte erst, als das Geld für die Osterweiterung benötigt wurde, um dort den Hoffnungsschimmer des demokratischen Sozialismus im Keim zu ersticken, obwohl viele Bürger Osteuropas diese Option (eine Option, welche die Tschechen in den späten sechziger Jahren riskiert und teuer bezahlt hatten) befürworteten.
Die Verdrängung der kantischen Emanzipationsgeschichte Europas war von Anfang an von einer weiteren Verdrängungsleistung begleitet worden, der Verdrängung der Kolonialgeschichte und des kolonialen Befreiungskampfes.7 Die kolonialen Befreiungskämpfe begannen auf breiter Front nach dem Ersten Weltkrieg, der Oktoberrevolution und der Proklamation des universellen Selbstbestimmungsrechts der Völker durch den US-Präsidenten Wilson. Sie gewannen durch die nicht mehr allein europäisch und westlich dominierte Neugründung der Vereinten Nationen und den Sieg der chinesischen Revolution nach dem Zweiten Weltkrieg an Schubkraft und erreichten ihr Ziel in den sechziger Jahren, auch wenn es bis zur endgültigen Befreiung der letzten Kolonie (Simbabwe 1980) und dem Ende des südafrikanischen Apartheidregimes (1989) noch etwas länger dauern sollte. Während die Staaten des europäischen Kontinents ihre Neugründung einer globalen Assoziation britischer, amerikanischer, sowjetischer, chinesischer, kolonialer und vieler andere Armeen, kontinentaleuropäischer Partisanenverbände und verzweifelter Aufstände verdankten, haben die vom soeben befreiten Europa immer noch beherrschten und kolonisierten Völker sich selbst wenige Jahre bzw. Jahrzehnte später von der Weltherrschaft des europäischen, westlichen und japanischen Imperialismus, der weit über den Kreis der autoritären und faschistischen Staatenwelt der dreißiger und vierziger Jahre hinausreichte, befreit und jeweils neue Staatsgewalten in Asien, Afrika und dem Nahen Osten begründet.
Immer noch gibt es winzige Reste europäischer Kolonialherrschaft, in Nordafrika die spanischen Städte Ceuta und Melilla, im Pazifik Französisch-Polynesien, -Neukaledonien, -Wallis et Futuna, im Indischen Ozean die französischen Übersee-Départements La Réunion und Mayotte, in der Karibik die französischen Übersee-Départements Guadeloupe und Martinique, die niederländischen autonomen Gebiete Curaçao, Sint Maarten, Aruba, Bonaire, Sint Eustatius und Sabai. In Lateinamerika teilt das französische Übersee-Département Guayana sogar eine Landgrenze mit Brasilien. Insgesamt leben in Afrika und Übersee ca. drei bis vier Millionen EU-Bürger indigener Herkunft, die sich in der Mehrzahl in Referenden für den Verbleib in den vormaligen Kolonialländern und der EU entschieden haben. Trotzdem fehlen sie auf den offiziellen Landkarten der EU ebenso wie die nachts im hellen Licht der Feindaufklärung erstrahlende Grenze der EU auf dem afrikanischen Kontinent (Ceuta, Melilla). Obwohl Marokko an Ceuta und Melilla grenzt und damit, nicht anders als die Ukraine, eine Landgrenze mit der Europäischen Union teilt, überdies Europa kulturell und sprachlich mindestens so eng verbunden ist wie die Ukraine, wurde der Antrag Marokkos auf Mitgliedschaft 1986 mit der schlichten Begründung zurückgewiesen, Marokko sei kein europäisches Land. Dessen Nachbarland Algerien, das in der Gründungszeit der Europäischen Union achtzig Prozent des französischen Staatsterritoriums umfaßte, war sogar von 1951 bis 1962 als Teil Frankreichs Mitglied der Montanunion und von 1957 bis 1962 Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Nie ließ die französische Regierung auch nur den geringsten Zweifel aufkommen, daß Algerien und Frankreich einen Staat bildeten und daß Frankreich das Herz der Europäischen Union sei. Dasselbe gilt für den Vertragstext von 1957 (Art. 227 Abs. 2 EEC). Aber der zwingende logische Schluß, daß dann auch Algerien europäisch sei, sollte nicht gelten. Es galt statt dessen der dekonstruktive Syllogismus: (1) Algerien ist französisch. (2) Frankreich ist europäisch. Also ist (3) Algerien nicht europäisch. Der algerische Befreiungskrieg, den Frankreich von 1954 bis 1962 als Krieg gegen seine eigene afrikanische Bevölkerung führte, ließ sich mit solcher Logik, die den Weißbüchern der Europäischen Kommission eigen ist, ebenso leicht verdrängen wie die eine Million Toten,8 die er einer Bevölkerung abverlangte, die nach einem Grundsatzurteil des Europäischen Gerichtshofs von 1963 spätestens seit 1957, eigentlich schon seit 1951 europäische Bürgerrechte hatte.9 Innerhalb der EU wurde die nichteuropäische Emanzipations- und Unterdrückungsgeschichte Europas vollständig verdrängt. Kein offizielles Dokument der EU erwähnt sie.
Verdrängt wurde auch, daß, mit Ausnahme des winzigen Luxemburg, alle Gründernationen der späteren EU, die Niederlande, Belgien, Italien, Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland, frühere Kolonialmächte waren und es (mit Ausnahme der Bundesrepublik) bis weit in die Zeit der Europäischen Gemeinschaften blieben. Verdrängt wurden die vielen kolonialen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die, was die bloße Zahl der in kurzen Zeiträumen Ermordeten und das Ausmaß der Grausamkeiten angeht, den japanischen und deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs, der im pazifischen Raum schon Mitte der dreißiger Jahre begann, kaum nachstehen.10 Verdrängt wurde die Einübung der rassistischen Vernichtungspraxis im Herzen der Finsternis,11 lange bevor die Taten in Europas Bloodlands wiederholt wurden. Von alldem findet sich in den offiziellen Dokumenten der Union, die immer wieder Europas Geschichte im kosmopolitischen Friedensprojekt der EU enden lassen, nicht eine einzige Spur. Die einzigen Akte physischer Gewalt, von denen dort die Rede ist, sind die sowjetische Intervention in Ungarn 1956 (damals noch kein Mitglied der EU) und die weitgehend gewaltlosen Studentenunruhen der langen sechziger Jahre.12
Silencing, zu deutsch: kommunikatives Beschweigen, ist eine der paradigmatischen Leistungen des managerial mindset.13
Trotz dieser von vornherein zutiefst zwiespältigen Befreiungs-, Unterdrückungs- und Verdrängungsgeschichte bleiben Befreiung und Neugründung Kontinentaleuropas ein eindrucksvoller Umbruch, der ganz dem Muster einer großen Revolution entsprach. Noch der scheidende Kommissionspräsident José Manuel Barroso, man glaubt es kaum, verdankt seinen Posten einem nachholenden Effekt jener gewaltigen Emanzipationsbewegung gegen den europäischen Faschismus, die Portugal, Spanien und Griechenland Mitte der siebziger Jahre erfaßte. Barroso wurde 1956 im damals noch faschistischen Lissabon...