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E-Book

Das Ende der Liebe

Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit

AutorSven Hillenkamp
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl214 Seiten
ISBN9783608101331
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Sven Hillenkamp erzählt von den Möglichkeiten der Liebe, des Sex, der Partnerwahl, der Ausbildung, der beruflichen und seelischen Selbstentwicklung, der Körpermanipulation, des Erfolgs, der Berühmtheit. Er erzählt von einer Welt, in der die Menschen sich permanent sehnen müssen, weil sie meinen, dass sie immer noch etwas Besseres erreichen könnten. Dies ist kein Sachbuch, denn es bleibt nicht sachlich. Es ist ein Buch, das maßlos übertreibt - über eine Wirklichkeit, die maßlos übertreibt. Es ist das expressionistische Gemälde einer Welt, die aus den Fugen geraten ist, die keine Grenzen mehr kennt, in der unendliche Freiheit umkippt in Zwang, unbegrenzte Möglichkeiten in die große Unmöglichkeit der Liebe. Am Ende steht, so der überraschende Befund, die Rückkehr zur Vernunftehe.

Sven Hillenkamp ist ein deutscher Philosoph und Schriftsteller. Er lebt in Stockholm. Wichtige Kategorien sind strukturelle Freiheit, das Menschliche und das Unmenschliche, Möglichkeit und Unendlichkeit, sozialer Wert, Zeit(ent)strukturierung, Andersheit und Negativität. Diese Kategorien werden in Abgrenzung von gängigen Sozialtheorien entwickelt. Methode ist eine Verbindung von Erfahrungs- und Strukturanalyse. Sven Hillenkamp wurde am 7. März 1971 in Bonn geboren. Er wuchs in Bonn, Paris und Genf auf. Studium der Islamwissenschaften (Arabisch), der Wirtschafts- und Sozialgeschichte und der Politikwissenschaft. Redakteur der Zeitschrift Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen. 1998 Abbruch des Studiums, Arbeit für verschiedene Zeitungen. 2001-2004 Redakteur bei der Wochenzeitung Die Zeit (Berliner Büro). 2007 Umzug nach Stockholm und Beginn einer auf vier Bände angelegten soziologisch-philosophischen Untersuchung unter dem Titel 'Zwänge der Freiheit. Die neuen Formen der Faktizität'. 2009 Veröffentlichung des ersten Bandes 'Das Ende der Liebe', der sich mit der Kategorie des Möglichen befasst. 2010 Auszeichnung mit dem Brentano-Preis. 2012 literarisches Debüt mit 'Fußabdrücke eines Fliegenden'. 2015 nahm Hillenkamp einen Lehrauftrag an der Universität der Künste Berlin an. Er gibt auch Seminare für Therapeuten. 2016 ist der zweite Band der Freiheits-Untersuchung erschienen: 'Negative Moderne'. Das Buch befasst sich mit den Kategorien Wert, Zeit, Handeln, Möglichsein und Andersheit. Ab 2015 vermehrt auch künstlerische Arbeit (Aktionen, Zeugnisse, Bauten, Szenerien, Objekte, Film/ Tanz). Sven Hillenkamp ist mit einer schwedischen Psychotherapeutin liiert. Das Paar ist unverheiratet, hat zwei Kinder und lebt in Stockholm und Berlin. Weitere Informationen finden Sie unter: svenhillenkamp.com

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Leseprobe
VORREDE - DIE GROSSE ÜBERTREIBUNG Einem Soziologen wurde einmal vorgeworfen, er schildere die Gesellschaft aus Sicht eines Neurotikers, also maßlos übertrieben. Der Soziologe sagte: »Es ist erwiesen, dass alle Menschen neurotisch sind. Also ist die neurotische Sicht die gewöhnliche, die übertriebene die objektive. Schon wenn ein Mensch die Farbe Rot wahrnimmt, nimmt er eine Übertreibung von Rot wahr. Sogenannte Objektivität käme also einer Untertreibung gleich, die kaum ein Mensch nachvollziehen könnte. Warum sollte ich Menschliches mit den Mitteln der Physik beschreiben?« In dem Sinne ist auch dieses Buch ein wahrhaft objektives, also übertriebenes. Das Phänomen, das dieses Buch erforscht, ist aber auch an sich eine Übertreibung. Es ist das Übel einer unendlich gewordenen Freiheit, unendlichen Auswahl in jedem Bereich, unbegrenzter Möglichkeiten - also einer gesellschaftlichen Übertreibung, die alles Menschliche ins Unendliche steigert und damit ins Unmenschliche. Eine Folge, die erste und einschneidendste, ist das Ende der Liebe. Es ist die Tragödie zweier Geschwister. Die Liebe war eine Schwester der Freiheit. Nun reißt die Freiheit sie mit in den Tod. Die Zwänge, die aus der Freiheit sich ergeben, haben andere benannt. Sie sind Gegenstand von Reportage und Polemik. Die Feststellung unbegrenzter Möglichkeiten ist daher nicht Zweck des Buches, sondern sein Ausgangspunkt. Es zeigt die Zwänge der Freiheit in Reinform, mit allen Konsequenzen. Es rechnet sie hoch, spielt sie durch, lässt ihrer Logik freien Lauf, offenbart ihren Charakter in der Extremsituation totaler Verwirklichung. Das romanhafte Verfahren des Durchspielens und Hochrechnens wird jedoch stets eingeholt von der Wirklichkeit. Denn die freien Menschen wollen ja tatsächlich ihr Selbst in Reinform erfahren, ihr Leben bis zur letzten Konsequenz leben. Das Buch, das maßlos übertreibt, beschreibt eine Welt, die maßlos übertreibt. Die Menschen, die schon heute nicht mehr lieben, sind von unbekannter Zahl. Doch hier geht es nicht um Zahlen. Es geht um eine Erfahrung. Diese Erfahrung ist typisch für die Zeit. Wenn es einen einzigen Satz gibt, der die heutigen Menschen charakterisiert, so ist es der Satz: »Ich liebe nicht.« Das Bild, das jemand sich von der Zukunft macht, zum Beispiel vom Ende der Liebe, ist in Wahrheit ein Bild der Gegenwart - ein Bild, das nur das Typische einer Zeit zeigt, ungemischt, bar aller Vergangenheitsrelikte. Die Gegenwart ist wie Metall im Sand eines Flusses, mit bloßem Auge zuweilen schwer sichtbar, gemischt unter die Sedimente der Zeit. Sie ist in ihr selbst nur ein Teil, ein Anfang. Der Autor, der, historisch und literarisch, maßlos übertreibt, sitzt in Wahrheit am Fluss der Zeit und siebt die Gegenwart heraus. Viele leben in dieser Gegenwart, der Welt unendlicher Freiheit - und kein Weg, kein Beschluss führen sie aus dieser Welt heraus. Man entkommt der Freiheit nicht, in keine Nische, kein Exil. Auch eine Partnerschaft bleibt - wie die Verehrung eines Gottes, eines Führers - eine freiwillig betretene Unfreiheit, also innerhalb der Freiheit. Die Menschen können mit keinem Schwur, keinem Schritt ihrer Freiheit entfliehen. Sie können den Möglichkeiten nicht entfliehen, die die Liebe unmöglich machen. Wer dem Druck einer autoritären Gesellschaft nachgibt, passt sich an. Wer dem Druck einer freien Gesellschaft nachgibt - nachgeben muss - , wird zum Extremisten. Darum sind die Extremisten in der Freiheit der Durchschnitt: die Marathonläufer und Weltumsegler, die Künstler und Kandidaten, die Don Juans und Donna Juanas, die Swinger und Sadomasochisten, die Aufsteiger und Aussteiger, die Einwanderer und Auswanderer, die Esssüchtigen und Arbeitssüchtigen, die Körperveränderer und Seelenheiler, die Isolationisten und Exhibitionisten, Totalfitte und -kaputte, Terroristen und Amokläufer, Kriegsreporter und Katastrophenhelfer. Das will nichts über die moralische Qualität des jeweiligen Extremismus sagen; derselbe kann gut oder schlecht sein. Es besagt nur, was Extremismus heute nicht mehr ist: Er ist kein Widerstand mehr. Extremismus ist Anpassung an die Freiheit. Die Unmöglichkeit der Liebe entsteht nicht in einer kalten, lieblosen Gesellschaft, sondern - umgekehrt - aus einem Liebesextremismus. Die Menschen, die nie lieben, sind Menschen, die tatsächlich immer lieben - in jeder Sekunde, mit jedem Blick einen Anderen. »Ich liebe«, das heißt jetzt: »Ich liebe nicht«. Aus Möglichkeiten und immer noch mehr Möglichkeiten wird Unmöglichkeit. »Ich habe alle Möglichkeiten«, das heißt jetzt: »Ich habe keine«. Aus dem totalen Markt wird das Verschwinden des Marktes. Aus der Romantik wird nun, da es unbegrenzte romantische Möglichkeiten gibt, ein Romantikfanatismus. Das Äußere, Gesellschaftliche nehmen die Menschen als Inneres, Psychisches wahr. Das unbegrenzte Eigene tritt ihnen als Fremdes entgegen, ihr Selbst als ein Anderer. Die Menschen werden von ihrem eigenen Willen terrorisiert und bezwungen. Aus Freiheit und immer noch mehr Freiheit wird Zwang. So stürzen die Worte in ihr Gegenteil. Nichts bedeutet mehr, was es einst bedeutet hat. Wenn Gedanken und Geschichten in diesem Buch sich oftmals aneinanderfügen wie die Szenen eines Films - ohne das Gesagte nochmals zusammenzufassen, den Sinn des jeweiligen Teils für das Ganze zu erklären -, so darum, weil der Lesende Mensch bleiben soll, Erfahrender, nicht mutieren soll zum Allwissenden, Abgeklärten. Auch ein Chaos macht noch einen ordentlichen Eindruck, wenn man nur weit genug davon entfernt ist. Dann ist auch ein Weltuntergang ein liebliches Schauspiel. Statt dessen sei der Lesende hier aufgefordert, die Welt der Nichtliebe zu Fuß zu durchqueren, von einem der hier ausgelegten Steine auf den anderen zu springen, mitten durch den Fluss der Gedanken. Dabei wird er sich allein verlassen müssen auf jene unscheinbaren Wörter, die Sätze verbinden (und die zwischen Gefühlen leider fehlen, weshalb Gefühle oft so schwer verständlich sind): ein Infolgedessen , ein Denn oder Weil , ein Und oder Also . Wenn das Buch also die durchnummerierte Klarheit der Wissenschaft vermissen lässt, so ist das der Methode zuzuschreiben, nicht dem Willen, rätselhaft, also tief zu erscheinen. Unverständlichkeit, so heißt es, ist ein Vorrecht Gottes. In Teil eins des Buches werden Nichtliebesgeschichten erzählt. Es wird berichtet von dem neuen Zeitalter, in dem die Freiheit unendlich wird und umkippt in Zwang; und es werden die Gefühle der freien, also immerzu gezwungenen Menschen beschrieben. Teil zwei untersucht, wie eine Unendlichkeit möglicher Partner entstehen konnte und wie die Menschen mit dieser Unendlichkeit umgehen, vielmehr: nicht umgehen können. In Teil drei wird berichtet, welche Erwartungen die freien Menschen an die Liebe und an einen Geliebten haben - und warum diese Erwartungen sich nicht erfüllen können. Das Schlusskapitel handelt davon, wie die unendliche Liebessuche und das Leben in einer unendlichen Freiheit zwangsläufig münden in die Rückkehr der Vernunftehe. Im Epilog scheint eine Hoffnung auf: wie die freien Menschen sich der großen Übertreibung durch einen kleinen Sprung entziehen. [...] EINS - GESCHICHTEN UND VISIONEN Das erste Kapitel: in dem die Unmöglichkeit der Liebe nur behauptet und von dieser nur erzählt wird, noch ohne Angabe von Gründen; in dem das Aussterben der Liebe angekündigt wird zu einer Zeit, da die Bedingungen der Liebe die besten aller Zeiten sind; in dem die Nichtliebe als eine Geisteskrankheit beschrieben wird, deren Träger sich nicht durch Irrsinn, sondern durch einen ausgeprägten Wirklichkeitssinn auszeichnen; in dem von einer Stadt erzählt wird, in der die Menschen aufeinander zu fallen, als liege die Stadt auf einer Senkrechten; in dem von Menschen erzählt wird, die trotz einer Partnerschaft weiter nach einem Partner suchen; die immer bis ans Ende ihrer Möglichkeiten gehen; in dem von einer Frau erzählt wird, die ihre »sexuelle Autobiografie« geschrieben hat, von einem jungen Mann, der bereits seine Kapazität erschöpft hat; und von einer nicht mehr ganz so jungen Frau, die ein Mann enttäuscht, weil er nicht weiß, wie der Regisseur Fassbinder mit Vornamen heißt Man stelle sich vor! Die Liebe stirbt aus. Sie verschwindet wie Absolutismus und Sowjetsozialismus,wie die Ohnmachtsanfälle der Frauen, die Hysterie der Massen, das Unbehagen in der Kultur. Mehr noch als andere Phänomene wird die Liebe sich als historisch erweisen. Als Besonderheit, die mit ihren Bedingungen kommt und geht. Die Liebe wird wieder sein, was sie einst war. Ausnahme, Seltenheit. Die Liebenden werden wieder, wie Millionäre oder Rollstuhlfahrer, zu einer kleinen Minderheit. Die Mehrheit wird die Ekstasen und Tragödien der Liebe in Filmen und Romanen verfolgen wie die Mehrheit des Theaterpublikums einst, im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, die Liebe auf der Bühne. Tief berührt, doch ahnungslos. Ein Mann lebt seit drei Jahren mit einer Frau zusammen. Sie haben sich kennen gelernt über eine Internetseite, die der Partnersuche dient. Die Frau ist achtundzwanzig, der Mann vierunddreißig. Eines Tages fällt der Frau ein, dass ihr Profil noch im Internet steht: zwei Fotos und der Text, den sie über sich und ihre Erwartungen an eine Partnerschaft geschrieben hatte. Die Frau geht online. Als sie die Fotos sieht, aufgenommen während einer Reise durch Vietnam, hat sie das Gefühl, zwischen der Person auf den Fotos und ihr liege eine Ewigkeit. In diesen drei Jahren, denkt sie, sei sie erwachsen geworden. Sie sucht nach seinem Profil , lacht, als sie die Fotos sieht. Er hat noch kein graues Haar, die Augen sind groß und traurig, wie die eines Kindes, das man in der Fußgängerzone hat stehen lassen. Dann sieht sie den kleinen Sendemast, der rechts oben auf der Seite blinkt. Als er nach Hause kommt, hat sie alle Entscheidungen getroffen. Er sagt, es sei nur ein Spiel gewesen, ein Zeitvertreib. Er habe sich nie mit jemandem verabredet. Er habe nur die Nachrichten gelesen, nicht einmal geantwortet. Doch sie weiß, dass er, während der drei Jahre, die sie ein Paar gewesen sind (sie haben über Kinder gesprochen, den Kauf einer Wohnung, den Umzug in eine andere Stadt), weiter gesucht hat. Sie sagt: »Du hast weiter gesucht.« Als sei auch ihre Beziehung, ihre Liebe das Ergebnis einer Suche gewesen. Sie sagt: »Während ich mit dir geredet habe, während ich dich geküsst habe, warst du gar nicht da. Ich habe drei Jahre mit einem Hologramm geredet. Du warst die ganze Zeit über an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit. Ich bin ein Versuch für dich gewesen, nicht einmal das, ein Provisorium. Du hast dich in meiner Liebe, in unserem Leben aufgehalten wie in einem Wartezimmer.« Er streitet es ab. Doch irgendwann sagt er in die Stille: »Da war eine Sehnsucht, nach einer Frau... Ich weiß es auch nicht.« Bemerkenswert an dieser Geschichte ist nicht, dass der Mann über das Internet gesucht hat. Das Internet macht die Suche eines Menschen, die sonst für andere unsichtbar bleibt, nur sichtbar. Wer eine Waffe benutzt, kann durch sie überführt werden. Die Meisten aber benutzen keine Waffe, gebrauchen kein Suchwerkzeug - nur ihren Körper, ihren Geist. Sie suchen endlos mit ihrem Körper, ihrem Geist, bewegen sich durch die Stadt, durch die Register ihrer Erinnerung und Hoffnung, und suchen nach einem, der ihren Vorstellungen entspricht. Ein Roman handelt von einem jungen Menschen, der allein in einer großen Stadt lebt. Er sagt: »Wenn ich von zu Hause weggehe, rechne ich immer mit einem Ereignis, das mein Leben von Grund auf ändern wird. Ich erwarte es bis zum Moment meiner Rückkehr. Das ist der Grund, dass ich nie im Zimmer bleibe.« Der Roman wurde im frühen zwanzigsten Jahrhundert geschrieben. Doch sein Held lebte, in der hier geschilderten Erfahrung, bereits in unserer Gegenwart, in einem Anfang unserer Gegenwart. Die Menschen können ihre Hoffnung an das Netz der Computer knüpfen oder an das Netz der Straßen. Tatsächlich sind heute beide, das Netz der Computer und das Netz der Straßen, weltweite Netze, Netze unendlicher Hoffnung. Es macht keinen Unterschied mehr, ob die Menschen drinnen oder draußen sind. Ein Mann und eine Frau leben seit neun Jahren zusammen. Sie haben sich über gemeinsame Freunde kennen gelernt. Sie sind in eine andere Stadt gezogen, in ein anderes Land. Sie haben ein Haus gebaut und geheiratet. Sie haben zwei Kinder und einen Hund (aber kein Internet). Dennoch sucht der Mann weiter. Er hat eine Sehnsucht. Er wartet. Und auch die Frau sucht weiter. Auch sie hat eine Sehnsucht. Auch sie wartet. Die Menschen, von denen hier die Rede ist, sind nicht unbedingt einsame Menschen. Sie leben mit anderen. Sie sind verheiratet, haben Kinder. Manche verlieben sich, wenn auch für immer kürzere Zeit. Es sind Menschen, die auf der Suche sind. Sie verlassen ihre Suche nicht mehr, indem sie eine Wahl treffen. Sie wählen, immer weiter zu suchen. Treu sind sie nur ihrer Hoffnung. Eine Studie über »Partneralternativen und Ehescheidungen« ergibt: Das Risiko der Scheidung ist dort am höchsten, wo die Menschen vielen anderen, vielen möglichen Partnern begegnen. Die Berufstätigkeit der Frauen und die gestiegene räumliche und gesellschaftliche Mobilität haben das Risiko der Scheidung erhöht. Die Forscher schreiben: »Die Ergebnisse zeigen an, dass viele Menschen ihre Partnersuche heute fortsetzen, während sie verheiratet sind, und dass die Häufigkeit der Partneralternativen, wie sie aus der Struktur der Gesellschaft hervorgeht, signifikant das Risiko der Scheidung beeinflusst.« Partnersuche führte einmal zu Partnerschaften. Heute ist sie der wichtigste Trennungsgrund. Dabei muss der Suchende nicht einmal suchen. Die Häufigkeit der Partneralternativen geht nicht aus seinem Handeln hervor, aus seiner Suche, sondern aus der Struktur der Gesellschaft. Der Suchende braucht kein Suchwerkzeug mehr. Er muss nicht einmal seinen Körper, seinen Geist benutzen. Er kann warten. Die Gesellschaft selbst ist heute eine Suchmaschine. Die Gesellschaft ist in Bewegung. Sie dreht sich unter den Augen der Menschen wie ein Globus. Sie zeigt ihre Möglichkeiten. Nie zuvor in der Geschichte waren Liebeshoffnung und Liebeserwartung der Menschen so groß. Nie zuvor war das Glück, das sie ersehnten und suchten, so weitgehend deckungsgleich mit Liebesglück. Die Epoche der romantischen Liebe ist nicht Vergangenheit, sondern - gemessen an ihren Bedingungen - angelangt auf ihrem Höhepunkt. Die Voraussetzungen für die Liebe scheinen besser denn je. Die Menschen begegnen immer mehr Menschen. Sie sind frei, zu wählen. Sie wissen, was sie wollen. Kein gesellschaftlicher oder kultureller Unterschied scheint für die Liebe noch ein Hindernis aufzurichten. Nicht nur die Männer, auch die Frauen leben ihre sexuellen Bedürfnisse frei aus. Die gewerbsmäßige, zur Industrie gewachsene Partnervermittlung über das Internet erzeugt eine größtmögliche Auswahl von Sex- und Lebenspartnern, ermöglicht eine maschinelle, computergestützte Suche. Die Idee der Liebe wird durch keine andere Idee, keine Struktur mehr beschränkt. Sie ist absolut, unbegrenzt. Die Liebe verschwindet im Moment ihres historischen Triumphes. Therapien scheitern. Psychologen sprechen von Traumata, Neurosen, Depressionen. Sie halten sich an die Turbulenz der Lebensgeschichten, nicht an die Turbulenz der Geschichte. Sie halten die neue Art nicht zu lieben für die alte: für eine Krankheit des Herzens, des Gemüts. Sie sehen nicht, dass die neue Nichtliebe auf einer allgemeinen Erfahrung beruht, einer gesellschaftlichen Erfahrung und Idee. Sie ist keine Gemüts-, sondern eine Geisteskrankheit - und der Wahnsinn der Menschen ist ihr Wirklichkeitssinn . Je mehr Wirklichkeit einer aufnimmt, je tiefer seine Verwurzelung in der Wirklichkeit, umso ärger die Symptome. So ist es nur folgerichtig, dass die Menschen, von denen hier die Rede ist, keineswegs bloß junge Menschen sind; dass ihre Nichtliebe sich mit der Zeit, der Erfahrung nicht verliert. Im Gegenteil, sie wächst mit der Zeit, der Erfahrung. Je älter die Menschen sind, desto erfahrener, also unreifer werden sie. [...] EPILOG - DER KLEINE SPRUNG Dennoch gibt es jetzt etwas, was die Menschen der Welt, in der sie leben müssen, entgegensetzen können. Es ist das Bewusstsein dieser Welt - der unbegrenzten Möglichkeiten als Unmöglichkeit , der unendlichen Freiheit als Zwang . Die Menschen dürfen Hoffnung haben, weil die Unendlichkeit nun nicht mehr nur eine Hoffnung für sie ist, sondern auch ein Schrecken. Sie werden ihre Suche darum nicht beenden, ihr Streben nach unendlicher Entwicklung. Sie werden weiterhin glauben, alles sei möglich. Sie werden täglich balancieren zwischen weltberühmt und arbeitslos . Sie werden sich selbst die Schuld geben an ihrer Kündigung, ihrem Krebs. Die Welt ändert sich nicht, nur weil der Mensch sich ihrer bewusst geworden ist. Doch gewinnen die Menschen nun die Möglichkeit des - naturgemäß nur augenblicksweisen - Nichteinsseins mit der Welt hinzu, mit der vermeintlichen Allverantwortung, mit der Suche, mit der Sehnsucht und Scham. Die letzte aller Möglichkeiten ist also doch eine gute, eine guttuende. Diese Bewusstseinsfreiheit bedeutet tatsächlich Befreiung . Die Menschen, die nur noch sich selbst analysiert haben, analysieren nun also wieder die Welt. Die Welt, die verschwunden war, nimmt wieder Gestalt an, verwandelt sich von einem vermeintlichen Inneren in ein Äußeres zurück. Der eigene Körper, die eigenen Gedanken - auch sie werden jetzt erkennbar als Welt, ziehende Wolken, als Äußeres, das sich kaum kontrollieren lässt. Die Möglichkeiten werden sichtbar als Mauern. Die Menschen gewinnen einen Begriff von Gesellschaft zurück, jenseits von Hindernis und Gelegenheit. Sie wissen nun, dass auch Gelegenheiten Hindernisse sind. Man stelle sich vor! Die freien Menschen kehren zurück zur Lebens- als Existenzgemeinschaft. Sie haben die Liebe gekannt, also wird die Sehnsucht bleiben. Doch sie kennen jetzt auch die Unendlichkeit und haben gelernt, sie zu fürchten. Zu verachten. Sie haben den Glauben an den sogenannten technischen Fortschritt verloren, den sogenannten Kommunismus, die sogenannte Marktwirtschaft. Sie sagen: »Das waren Lügen, Märchen, Religionen.« Nur einen Glauben hatten sie bisher nicht aufgegeben - den Glauben an die Freiheit. Sie haben die Freiheit nur kritisiert als technische Überhebung, die den Menschen mit Apparaten konfrontiert, die er nicht mehr kontrollieren kann. Sie haben sie kritisiert als Revolte und Revolution, in denen die Freiheit untergeht im Gruppenzwang, der sogenannten Freiheitsbewegung, dem Freiheitsstaat. Sie haben sie kritisiert als die kapitalistische Freiheit der Konkurrenz und Spekulation, die die Menschen mit einem Markt konfrontiert, den sie nicht kontrollieren können. Sie haben die Freiheit dagegen nicht kritisiert als Freiheit des Selbst, die den Menschen mit einem Selbst konfrontiert, das er nicht mehr kontrollieren kann. Mit einem Willen, der ihn tyrannisiert. Sie haben die Freiheit nicht kritisiert als Verwandlung der Welt in Möglichkeiten - in absolute und unendliche Möglichkeiten. Sie haben die Freiheit nicht als Freiheit kritisiert. Auf die Technikenttäuschung, die Kommunismusenttäuschung und Kapitalismusenttäuschung folgt nun die Freiheitsenttäuschung. Das Künstlerglück offenbart sich als Künstleralptraum, der freie Mensch als Gefangener im eigenen Raum. Unter dem Bombardement der erotischen Möglichkeiten rennen die Verführer von einst im verzweifelten Zickzack. Die Gelegenheiten - einst mit Geschick sich selbst verschafft - sind jetzt immer schon da, egal, wie schnell die Menschen laufen. Die Verführer werden bedrängt vom verführenden Überangebot. Don Juan in der Disko, Casanova in der Fußgängerzone - da stehen sie, gelähmt, mit schmerzenden Augen. Die freien Menschen sehnen sich nach Endlichkeit, nach Entfremdung: nach der Enteignung von einem Eigenen, das fremd geworden ist, zum Zwingenden. Die Menschen sagen: »Die unendliche Freiheit ist das Beste, was der Menschheit je passiert ist. Doch sie bringt mich fast um. Ich will in keiner anderen Gesellschaft leben als dieser, doch diese ist furchtbar, vernichtend. Die Sehnsucht und die Scham sind unerträglich. Meine Würde besteht darin, das zu sagen: Die Sehnsucht und die Scham sind unerträglich. Ich kann an meiner Verfallenheit an diese Welt, dem Fallen auf meine Möglichkeiten zu, nichts ändern. Meine Liebes- und Arbeitsmöglichkeiten, meine Entwicklungs- und Wohnortmöglichkeiten haben ihre Schwerkraft nicht verloren. Doch ich kann mich im Bewusstsein von der Erde lösen, durch ein Wort, einen Satz. Meine Freiheit ist unerträglich . Ich kann nicht fliegen, aber - doch, ja - hüpfen. Das ist meine Revolte. Kein Vogelflug, nur ein kindliches, lächerliches Hüpfen. Aber wie viel bedeutet es! Der große Sprung, heraus aus der Unendlichkeit, hinein in die Liebe, ist mir unmöglich. Doch mit einem Sprung meines Bewusstseins löse ich mich für eine Sekunde von der Welt, aus der Epoche. Jeder Satz - ein Sprung. Schon werde ich wieder angesaugt. Aber noch schwebe ich.
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