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E-Book

Das Erzählen und die guten Ideen

AutorSten Nadolny
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl194 Seiten
ISBN9783492957878
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Sten Nadolny, Autor des Weltbestsellers »Die Entdeckung der Langsamkeit«, erteilt in seinen kurzweilig-respektlosen Poetik-Vorlesungen den guten Absichten und Ideen als Basis für Literatur eine energische Absage. Anhand eigener Erfahrungen zeigt er, daß es beglückt, wenn sich der Schreibende dem Stoff überläßt. Ein vergnüglicher Einblick in die Schreibwerkstatt eines großen Erzählers.

Sten Nadolny, geboren 1942 in Zehdenick an der Havel, lebt in Berlin. Für sein Werk wurde er unter anderen mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis 1980, dem Hans-Fallada-Preis 1985, dem Premio Vallombrosa 1986, dem Ernst-Hoferichter-Preis 1995 und dem Weilheimer Literaturpreis 2010 ausgezeichnet. Nach seinem literarischen Debüt »Netzkarte« erschien 1983 der Roman »Die Entdeckung der Langsamkeit«, der in alle Weltsprachen übersetzt wurde, und inzwischen zum modernen Klassiker der deutschsprachigen Literatur geworden ist. Danach veröffentlichte Sten Nadolny zahlreiche Romane, unter anderem »Ein Gott der Frechheit«, »Er oder ich« und »Das Glück des Zauberers«. Für seinen Familienroman »Weitlings Sommerfrische« bekam er 2012 den Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag.

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Leseprobe

Erster Abend:


Ideen über Ideen

Meine Damen und Herren, als ich die Einladung bekam, ein weiteres Mal über meinen Beruf zu sprechen, waren seit dem letzten Versuch zehn Jahre vergangen: »Das Erzählen und die guten Absichten« war 1990 meine erste Poetik-Vorlesung in München gewesen. Ich nahm die Göttinger Einladung an, weil ich es für möglich hielt, seit meinen ersten drei Romanen etwas dazugelernt zu haben. Dieser Gewagtheit ließ ich eine zweite folgen: Ich entschied mich für einen Titel.

Vortragstitel müssen meist lange vor der eigentlichen Arbeit bekanntgegeben werden, damit Informationsblätter gedruckt werden können. Ankündigungen sind Glückssache, andererseits sind meine Ankündigungen oft schon mein Bestes. In diesem Falle nicht. Ich wählte, weil heute jeder von »Strategie« redet und ich das Wort hartnäckig durch »Navigation« zu ersetzen versuche, den Titel »Navigation des Erzählens« und dachte mir, der passe auf jeden Fall. Sie ahnen, worauf es hinausläuft: Jetzt, da ich nachgedacht und gearbeitet habe, scheint mir der Titel nicht mehr ganz zutreffend. Es gibt drei Möglichkeiten. Erstens: ich verfehle das Thema. Zweitens: ich interpretiere es auf verwegene Weise um. Drittens und das Ehrlichste: ich nenne ein neues.

Mit den Poetik-Vorlesungen, zu denen Autorinnen und Autoren immer wieder ermuntert werden, ist es so eine Sache. Manchem fällt es leichter, manchem schwerer, über das Schreiben zu reden. Mancher hat sich die gesittete Gedankenführung, sozusagen das Essen mit Messer und Gabel, mit Recht oder Unrecht ganz abgewöhnt. Ich spüre leichte Probleme, wenn ich zum Theoretisieren aus der Arbeit an einem Stoff auftauchen muß (daß ich heute, Dezember 2000, tief in einem solchen stecken würde, wußte ich bei meiner Zusage noch nicht). Wie auch immer: Wenn es gerade darum interessant werden sollte, ist es mir recht, und wenn ich den Faden verliere oder gar nicht erst finde, sehen Sie es mir bitte nach.

Beim Wiederlesen meiner Münchener Bekenntnisse hatte ich den Eindruck, daß ich heute zwar dies und jenes anders formulieren würde, aber alles, was beim Entstehen eines Romans eine Rolle spielt, wahrscheinlich so beschreiben würde wie damals. In diesem Punkt kann das, was ich heute sage, wohl nur Ergänzung sein. Hingegen sind mir die – ironisch so genannten – »guten Absichten«, gegen die ich damals so etwas wie eine Unabhängigkeitserklärung abgab, man kann auch sagen: die political correctness, für mich heute weniger bedrohlich. Ich denke nicht mehr angestrengt darüber nach, wer meine Sachen für löblich halten könnte und wer nicht. Also stört mich der Faktor auch weniger. Daß er nach wie vor Einfluß hat und Erzählwerke mit unliterarischen Verpflichtungen befrachten kann, läßt sich dennoch nicht bezweifeln.

Was mir heute aktueller und bedenkenswerter erscheint (und keineswegs nur bei der eigenen Arbeit), ist das Schielen nach sogenannten guten Ideen. »Gut« soll auch hier eher ironisch klingen. Ich meine damit solche, die etwaigen Auftraggebern, Verlegern und Produzenten – ab und zu auch mir selbst – »in die Landschaft zu passen« und Aufmerksamkeit zu versprechen scheinen, Auflagen, Quoten, nette Besprechungen auch, und zwar weil sie auf einem mehrheitsfähigen Niveau Unterhaltungserwartungen wecken und befriedigen könnten.

Wenn wir im Alltag von einer guten Idee reden hören, ist in der Regel entweder etwas Praktisches gemeint, eine Vereinfachung, Abkürzung, Problemlösung – oder es ist eine Geschäftsidee, die in die Landschaft paßt. »Landschaft« bezeichnet mittlerweile, insbesondere in Zusammensetzungen, oft eine strategische Lage oder einen Markt. Betrachten wir speziell den »Erzählmarkt« (das häßliche Wort darf ruhig ein wenig irritieren), dann hängt das, was ich mit »guten Ideen« meine, wohl mit den Bedürfnissen und Glaubenssätzen der »Medienlandschaft« zusammen, mit Unterhaltung um jeden Preis, mit »Entertainismus«. Letztgenannten Begriff habe ich neulich in einem Artikel gelesen und finde, er läßt sich hin und wieder schön boshaft verwenden, etwa gegen die Ansicht, Literatur habe in erster Linie leicht verständlich und ein Lesevergnügen für jedermann zu sein.

Von dieser Art Ideen will ich natürlich die echten, wirklich guten oder schlicht hervorragenden Ideen trennen! Oder aber bei Platon Hilfe suchen, in dessen Ideenlehre es »gute« Ideen nicht gibt, nur eben »die« Ideen. (»Gute Ideen« gibt es auch bei anderen Philosophen kaum, allenfalls den Engländern sind sie immer zuzutrauen.)

Es geht mir aber nicht nur einfach um Anspruch und »Höheres«, sondern um die eigene, also nicht von Entertainer-Ideen oktroyierte Fortbewegungsart des Erzählens und der Literatur. Insofern möchte ich dann eben doch irgendwie – mutatis mutandis – von einer Navigation des Erzählens sprechen, aber nicht in dem Sinne, daß der Erzähler der Navigator sei. Sie sehen, jetzt kommt doch noch ein kleiner Versuch der Uminterpretation des bereits ersetzten Vorlesungsthemas.

Es könnte, so die Behauptung, ja wirklich eine navigatorische Logik geben, die vom System »Erzählen« selbst, in eigener Sache, angewandt wird, und zwar im Umgang mit der Welt, mit den Erzählern, dem Publikum und sich selbst. Die These wird uns zwar irgendwann wieder im Stich lassen, vielleicht aber bis dahin ein paar Gedanken anregen. Demnach navigiert sich die Literatur selbst, lenkt die Bearbeitung von Stoffen, sucht sich Leute aus, die dann als die Erzähler und Urheber auftreten und das zwecks Lebensunterhalt auch dürfen sollen. Nur das Erzählen selbst kennt seine Interessen und Bedürfnisse genau, es hält sich durch richtige Mischung aus Bewahren und Verändern in guter Form und im Geschäft. Und es könnte ja sogar geschäftlich nicht uninteressant sein, der Bewegungsweise des Erzählens selbst einfühlsam zu folgen.

Ein deutscher Drehbuchautor, den es nach Hollywood verschlagen hatte, erhielt einmal weit nach Mitternacht den Anruf eines mächtigen Produzenten, mag er Goldwyn, Meyer, oder Selznick geheißen haben: »Kommen Sie herüber, ich habe eine gute Idee!« Benommen und fröstelnd, aber neugierig eilte der Autor zum Mogul, der mit Denkerstirn in seinem Sessel saß, vom Kaminfeuer beflackert, ein Glas Whiskey in der Rechten, einen großen flauschigen Rassehund zur Linken, den er kraulte. »Also, was ist es?« fragte der Autor und ließ sich nieder. Der Magnat nahm einen Schluck und kraulte weiter, bevor er das bedeutende Wort aussprach: »Zigeuner!« Der Autor war sprachlos. Der Herrscher sah ihn erwartungsvoll an: »Wie finden Sie’s?« Und fügte mit einer wedelnden Handbewegung hinzu: »Musik, Tanz, Pferde, Leidenschaft!« Der Autor fand die Sprache wieder, bat um einen Whiskey und sagte gedankenvoll: »Klingt gut!«

Die gute Idee, die Klingt-gut-Idee, besteht hier darin, daß eine Richtung angegeben wird, und dafür genügt ein Wort. Heute hieße so eine Richtungsangabe vielleicht »Internet«, »Graffitisprayer« oder »Extremsport«. Es zeichnet die Klingt-gut-Ideen aus, daß sie sich das Bedürfnis nach Geschichten zunutze machen wollen, ohne auch nur danach zu fragen, wie das Erzählen bei diesem oder jenem bestimmten Stoff zu Werke gehen muß. Für emotionalen Klimbim und Spannung und Bedeutsamkeiten zu sorgen wird zur handwerklichen Frage. Daß Hollywood damit packendes Starkino machen konnte und kann, ist offenkundig. Interessant wäre auch die Frage, was es damit nicht kann.

Es gibt inzwischen eine große Zahl von Anleitungen, auch von Seminaren, Schreibschulen oder Drehbuch-Workshops, die uns damit vertraut machen, wie man mit Erzählen viel Geld verdienen kann. Während erfahrene Autorinnen und Autoren meist raten, nur entweder Literatur oder Vermögensbildung ins Auge zu fassen, wächst die Zahl der Cleveren, die uns von plot, pitching, creative writing und vom leicht erlernbaren Bestsellerschreiben erzählen. Da schwappen gewiß Macher-Gesichtspunkte aus anderen Branchen herüber. Ich habe einige solcher Anleitungen gelesen und festgestellt, daß die Größe des Projekts Literatur sich sogar in solchen Anleitungen widerspiegelt – keiner, der sich mit Literatur beschäftigt, kann den Ozean zum Ententeich machen. Erzählen ist nicht nur eine Frage von Kniffen und Pfiffigkeiten, das erkennen auch die Ratgeber. Also wird man Brauchbares auch in solchen Büchern finden. Schaden können sie allenfalls dadurch, daß sie eilige Hoffnungen erzeugen.

Das Thema, über das ich sprechen will, heißt also: »Das Erzählen und die guten Ideen«. Und natürlich will ich nicht nur über Klingt-gut-Ideen, sondern auch über wirklich gute Ideen sprechen – die nenne ich ab jetzt zur besseren Abhebung auch »Erzählchancen« und werde noch erklären, wie das gemeint ist.

Ich will auch den einzelnen Vorlesungen Titel geben: am heutigen Abend »Ideen über Ideen« und morgen »Erzählen und Erfahrung«. Den Titel des dritten Vortrags wage ich noch nicht festzulegen – womöglich muß ich in ihm einiges wieder zurücknehmen.

Letzte Vorüberlegung: Ich frage mich, ob ich nun fast in jedem Satz von »Ideen« werde sprechen müssen. Es gibt ja auch Regungen, Einfälle, Eingebungen, Erkenntnisse, Vorstellungen, Muster, Visionen, es gibt den Wahn und den Begriff. Aber keine dieser Vokabeln ist ein genaues Synonym für »Idee«.

Idee, das ist ein Bild von einer Sache, einem Zusammenhang, einer Möglichkeit des Handelns oder Schreibens. Ein Bild, eine Idee wird vor allem gesehen und kann sprachlich abgegrenzt, sozusagen gemalt und gerahmt werden....

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