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Das evangelische Pfarrhaus

300 Jahre Glaube, Geist und Macht: Eine Familiengeschichte

AutorCord Aschenbrenner
VerlagSiedler
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl368 Seiten
ISBN9783641122850
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Deutsche Geistesgeschichte von Luther bis in die Gegenwart
Gotthold Ephraim Lessing, Friedrich Nietzsche, Gottfried Benn, Albert Schweitzer, Gudrun Ensslin, Klaus Harpprecht oder Angela Merkel - der prominenten evangelischen Pfarrerskinder gibt es viele. Das protestantische Pfarrhaus selbst prägte die deutsche Geistesgeschichte wie kaum eine andere Institution. Cord Aschenbrenner erzählt die Geschichte des Pfarrhauses am Beispiel der deutsch-baltischen Pastorenfamilie von Hoerschelmann, die über neun Generationen hinweg geradezu idealtypisch das Wirken und Walten zwischen Glauben, Macht und bürgerlichem Leben verkörpert.

Das evangelische Pfarrhaus war über Jahrhunderte ein seelisch-geistiger Fixpunkt der deutschen Geschichte. Seit Martin Luther ging von ihm eine ungeheure Wirkung aus: Aus dem Ideal des für alle offen stehenden, christlichen Hauses mit geistiger Ausstrahlung und kultureller Ansprache erwuchs ein bis heute lebendiger Mythos.

Cord Aschenbrenner gelingt es, auf Grundlage des einzigartigen Quellenfundus der Hoerschelmanns ein schillerndes, neun Generationen währendes Familienepos zu schreiben und die Geschichte und Bedeutung des Pfarrhauses in großen Linien nachzuzeichnen. Familien- und Zeitgeschichte verschränken sich so zu einem großen Panorama deutscher Geistlichkeit, die die Verwerfungen der deutschen Geschichte überdauert und bis heute Bestand hat.

Cord Aschenbrenner, geboren 1959, Enkel und Großneffe evangelischer Pastoren, ist Journalist und Historiker. Er ist Autor der Neuen Zürcher Zeitung und der Süddeutschen Zeitung und schreibt über historische, politische und kulturelle Themen. Darüber hinaus lehrt er an verschiedenen Journalistenschulen. 2012 erhielt er den Journalistenpreis der Stiftung Weltbevölkerung. Cord Aschenbrenner lebt mit seiner Familie in Hamburg.

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Leseprobe

Die Hoerschelmanns und ihre Geschichte

Von Estland nach Nordfriesland · Neun Generationen · Ostern in St. Olaf · Aus Thüringen in die Welt · Der Einwanderer · Institution und Mythos · Pfarrerskinder

Hin und wieder, meist an Feiertagen, predigt Paul-Gerhard von Hoerschelmann noch. Am Ostersonntag 2012 etwa, einem eiskalten, strahlend blauen Apriltag, macht sich der damals Einundachtzigjährige morgens um kurz nach neun Uhr auf den Weg vom nordfriesischen Sönnebüll ins benachbarte Breklum. Sönnebüll, Struckum, Klanxbüll, Bredstedt, Breklum, so heißen die Dörfer und Städtchen hier im Nordwesten Schleswig-Holsteins. Von Breklum wurden früher die Missionare nach Indien und Afrika »ausgesandt«. Hier war Paul-Gerhard von Hoerschelmann bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1994 Direktor des Predigerseminars der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche. Die mächtige romanische Backsteinkirche des Dorfes steht inmitten einer sanft gewellten Wiese – dem Friedhof. Gedrungen und fest überragt das mehr als achthundert Jahre alte Gotteshaus alles. Es war ursprünglich einem Heiligen geweiht, der im ganzen Ostseeraum verehrt wurde: Olaf, in Schweden Oluf, in Finnland Olavi, in Estland Olev. Im Inneren der Kirche ist der Heilige als König von Norwegen dargestellt, unter seinen Füßen liegt ein kleiner Mensch. Vielleicht wollte der Künstler einen besiegten Heiden darstellen, oder, in einer anderen Lesart, König Olaf selbst, bevor er zum Christen wurde.

Generationen von Pastoren haben von der Kanzel der Kirche schon gepredigt, und Generationen von Bauern, Handwerkern, Tagelöhnern, vielleicht auch ein paar Fischer vom nahen Meer haben unter der Kanzel gesessen und ihnen mehr oder weniger aufmerksam zugehört. Als die Kirche jung war, haben die Pastoren nach dem alten lateinischen Ritus die Messe zelebriert; die Bauern mochten dem Klang lauschen, verstehen konnten sie nichts. Nach der Reformation – die wenigen Reliquien waren verschwunden – predigten die Pastoren auf Plattdeutsch zu den Bauern, aus deren Mitte sie meistens selber stammten. Einer von ihnen war im 17. Jahrhundert Pastor Petrus Pauli, der seiner Gemeinde 58 Jahre diente. Sein Porträtbildnis, das einen spitzbärtigen Pastor im Lutherrock zeigt, eine aufgeschlagene Bibel in der Linken, hängt in der Kirche. Tritt man aus einer anderen Richtung an das Bild heran, steht man vor dem Bildnis seiner Frau Maria. Das Paar, dem eine über fünfzigjährige Ehe beschieden war, ist durch ein sogenanntes Riffelbild auf ewig miteinander verbunden – je nach Blickrichtung sieht man den Pastor oder seine Frau. Nicht zu Unrecht sind hier beide und noch dazu durchaus gleichberechtigt dargestellt. Für viele Pastoren wäre die tägliche Arbeit ohne die Frau an ihrer Seite schließlich gar nicht zu leisten gewesen.

Wenn man auf dem Breklumer Friedhof vor den Grabsteinen steht, wird einem bewusst, dass das Leben der Menschen hier bis vor wenigen Jahrzehnten karg gewesen sein muss. Die Clausens, Jensens, Dethlefsens, Rickertsens und Boysens, die hier begraben sind, haben ihren Lebensunterhalt mit den Händen verdient: als Schmied oder Fischer, als Fuhrmann oder Bauer. Sehr alt wurden sie nur selten. Das war hier nicht anders als in den anderen Ländern rund um die Ostsee.

An der Ostsee, aber rund tausend Kilometer weiter östlich, erblickte Paul-Gerhard von Hoerschelmann im Pfarrhaus von Nõmme 1931 das Licht der Welt. Nõmme ist ein Vorort von Tallinn, der estnischen Hauptstadt. Dort war sein Vater Gotthard Pfarrer. Auch er war in einem Pfarrhaus aufgewachsen, in der Hauptstadt selbst, die die Deutschen Reval nannten. Und auch dessen Vater und Großvater und Urgroßvater waren in Estland, einem Land von Fischern und Bauern, Pastoren gewesen. Damit endet die Ahnenreihe geistlicher Herren aber noch nicht. Die ersten Hoerschelmanns, die den Beruf des Pastors ergriffen, übten ihr Amt in Thüringen und Brandenburg aus. Der Emeritus Paul-Gerhard von Hoerschelmann aus Sönnebüll ist Pfarrer in der achten Generation, ebenso sein Bruder Werner. Sein jüngster Sohn und sein Neffe haben die Familientradition fortgesetzt und sind ebenfalls Pastoren geworden. Ihrer aller Geschichte, die eng verbunden ist mit der Institution des Pfarrhauses, soll hier erzählt werden.

Diese Geschichte handelt von den Pastoren und ihren Frauen, den »Pastorinnen«, wie die Deutschbalten sagten, von ihren Kindern, den Gebräuchen im Pastorat und von den Besuchern, die ins Haus kamen. Die Geschichte der Familie Hoerschelmann spielte sich überwiegend in Estland und Livland ab, der nördlichen und der mittleren Ostseeprovinz des Zarenreiches. Die in Estland lebenden Deutschen nannten sich selbst Estländer, die in Livland sprachen von sich als Livländern. Das ist ein Unterschied zu den Esten und Liven, den Angehörigen der autochthonen Bevölkerung. Die Sprache der Esten ist das Estnische, die Liven, ein mittlerweile fast ausgestorbenes Volk, sprechen Livisch. Beides sind finno-ugrische Sprachen. Die nach den Liven benannte Provinz des Russischen Reiches war in etwa deckungsgleich mit dem südlichen Teil des heutigen Estland und dem nördlichen Teil des heutigen Lettland. Dort lebten Esten, Letten, Deutsche und Russen.

Die Hauptstadt der Republik Estland, die seit 1991 wieder unabhängig ist, heißt Tallinn. Die Esten haben die Stadt in ihrer Sprache schon immer so genannt, während die Deutschen – ebenso die Schweden – von Reval sprachen. Auch die Bezeichnung Reval kommt aus dem Estnischen. Für fast alle Ortsnamen in Estland gab es eine deutsche und eine estnische Bezeichnung, manchmal war die deutsche eine leicht erkennbare Ableitung der älteren estnischen, zum Beispiel: Hapsal (deutsch), Hapsaalu (estnisch), oder Haggers, das für die Familiengeschichte der Hoerschelmanns eine besondere Bedeutung hat. Der estnische Name ist Hageri. Auf den Landkarten fand man allerdings nur deutsche Bezeichnungen, etwa Wesenberg, aber die Esten wussten natürlich, dass damit Rakvere gemeint war. Als Mitte des 19. Jahrhunderts die Russifizierung der Ostseeprovinzen einsetzte, trat auf den Landkarten zu jedem Namen ein zweiter, beispielsweise zu Dorpat noch Jurjew. Der estnische Name, nämlich Tartu, taucht erst auf den Karten auf, die nach der Unabhängigkeit 1918 in der Republik Estland gedruckt wurden.

Das deutsche evangelische Pfarrhaus im Baltikum gibt es längst nicht mehr. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war es für seine deutschen Bewohner und Bewunderer ein Hort der Tradition, für die einheimische Bevölkerung der Esten und Letten stellte es dagegen zunehmend ein Ärgernis dar, weil diese in ihm nicht zu Unrecht ein Bollwerk der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts heftig kritisierten deutschen Kultur und der damit verbundenen Privilegien sahen.

An jenem kalten Ostersonntag, eben sind die Glocken von St. Olaf verklungen und die Festtagsgemeinde sitzt erwartungsvoll auf den harten Holzbänken in der maßvoll geheizten Kirche, schreitet Paul-Gerhard von Hoerschelmann – mittelgroß, mit weißem Haarkranz und weißem Kinnbart – energisch durch den Mittelgang. Anders als an gewöhnlichen Sonntagen trägt Hoerschelmann einen weißen Talar, die Farbe, welche die Osterfreude symbolisiert; über seinen Schultern liegt eine farbige Stola. Mit beiden Händen balanciert er eine große weiße Osterkerze, die er vor dem Altar vorsichtig auf einen Halter setzt. Dann wendet der alte Herr sich um, tritt einige Schritte auf die Gemeinde zu und entbietet ihr den alten Ostergruß: »Der Herr ist auferstanden!« Die Gemeinde antwortet etwas schütter: »Er ist wahrhaftig auferstanden!« Hoerschelmann lächelt und ruft: »Das geht noch besser!« Und tatsächlich, wesentlich kräftiger schallt es noch einmal durch das kalte Kirchenschiff: »Er ist wahrhaftig auferstanden.«

Es folgt ein Gottesdienst traditioneller Prägung, mit Posaunenchor und Gemeindegesang, mit einer schlichten Liturgie und einer schnörkellosen, unverkennbar im baltischen Deutsch gehaltenen Predigt über die Osterfreude. »Je dunkler die Osternacht, desto heller der Ostermorgen«, sagt der Pastor auf der hölzernen Kanzel, und wie er dort steht, gütig und seiner Sache sicher, kann man sich auch seine Vorfahren vorstellen: fürsorgliche Hirten die einen, geistliche Herren die anderen, Seelsorger dieser und Theologieprofessor jener, vom Rationalismus ergriffene darunter wie auch pietistisch gestimmte und alle zusammen evangelische Theologen seit bald dreihundert Jahren.

In der Nordostecke des Breklumer Friedhofs hat man einen Feldstein gesetzt, dessen Inschrift an die Flüchtlinge erinnert, die im und nach dem Zweiten Weltkrieg kamen und blieben – bleiben mussten, weil sie nicht in ihre Heimat zurückkonnten. Die Geschichte der ostpreußischen und pommerschen Flüchtlinge, die es nach Schleswig-Holstein, an den Westrand der Ostsee, verschlug, ähnelt in vielem der Geschichte der Hoerschelmanns. Flucht, Vertreibung, erzwungener Weggang von dort, wo die Vorfahren seit Jahrhunderten gelebt hatten, vielfacher Tod, großes Leid und Jahre der Heimatlosigkeit als Folge des von den Deutschen angezettelten Krieges – das ist auch die Geschichte der weitverzweigten Familie Hoerschelmann, deren theologisch geprägte Mitglieder nur einen Ast am Familienstamm bilden. Einen Unterschied zu anderen Vertriebenen und Flüchtlingen gibt es allerdings: Die Hoerschelmanns, Deutschbalten aus Estland, wurden schon zu Beginn des Zweiten Weltkriegs von den Nationalsozialisten »umgesiedelt«. Nicht wenige Deutschbalten folgten dem Ruf des »Führers« gern, einige wenige blieben aber auch im Baltikum. Die verlorene Heimat im Rücken, mussten sie sich größtenteils dort niederlassen, wo gerade noch andere zu Hause gewesen waren: im sogenannten Warthegau, Teil des soeben von den...

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