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Das gierige Gehirn

Der achtsame Weg, Alltagssüchte loszuwerden. Mit einem Vorwort von Jon Kabat-Zinn

AutorJudson Brewer
VerlagKösel
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783641222468
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Woher kommt der Drang, ständig Facebook zu checken oder zur nächsten Zigarette, nach Schokolade oder Chips zu greifen? Judson Brewer, Psychologe und Neurowissenschaftler, erforscht seit über 20 Jahren, warum wir diesen Versuchungen immer wieder erliegen. Anhand von wissenschaftlichen Erkenntnissen, Fallgeschichten und eigenen Erfahrungen erklärt er die evolutionspsychologischen Hintergründe, die unser Gehirn dazu bringen, etwas zu tun, was uns nicht guttut. Und er zeigt, wie man mit der Praxis der Achtsamkeit schlechte Gewohnheiten nachhaltig ablegen kann. Ein hilfreicher Ratgeber, um Alltagssüchte loszuwerden, Stress zu reduzieren und das Leben wirklich zu genießen.

Der Psychologe und Neurowissenschaftler Judson Brewer ist Forschungsdirektor am Center for Mindfulness, Associate Professor für Medizin und Psychiatrie an der University of Massachusetts Medical School, außerordentliches Fakultätsmitglied der Yale University und Research Affiliate am MIT. Seit mehr als zwanzig Jahren erforscht er, wie Abhängigkeitsverhalten entsteht und wie man sich davon befreit.

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Leseprobe

Prolog

In meinem letzten Jahr auf dem College bekam ich Magen-Darm-Beschwerden. Völlegefühl, Krämpfe, Blähungen und häufiger Stuhldrang brachten mich dazu, ständig nach der nächstgelegenen Toilette Ausschau zu halten. Ich änderte sogar die Route meiner täglichen Joggingrunde, damit ich schnell eine Toilette erreichen konnte, wenn ich es eilig hatte. Schlau, wie ich war, diagnostizierte ich meine Probleme selbst als bakteriellen Infekt, verursacht vom Parasiten Giardia lamblia, da dieser ganz ähnliche Symptome hervorruft. Logisch betrachtet fand ich das einleuchtend: Ich hatte meine ganzen Collegejahre hindurch viel Zeit mit der Führung von Rucksacktouren verbracht, und eine häufige Ursache für Giardiasis ist die unzulängliche Reinigung von Trinkwasser, was beim Campen durchaus einmal vorkommen kann.

Als ich den Arzt im Gesundheitszentrum für Studenten aufsuchte, teilte ich ihm meine Diagnose mit. Er hielt dagegen: »Haben Sie Stress?« Ich erinnere mich, dass ich so etwa gesagt habe: »Nein, überhaupt nicht. Ich jogge, ich esse gesund, ich spiele im Orchester mit. Es kann überhaupt nicht sein, dass ich Stress habe – all die gesunden Dinge, die ich mache, sollen mich ja davor schützen, in Stress zu geraten!« Er lächelte, gab mir ein Antibiotikum zur Behandlung von Giardiasis – und meine Symptome besserten sich nicht.

Erst später erfuhr ich, dass ich ihm die klassischen Symptome eines Reizdarmsyndroms präsentiert hatte, eine Diagnose, die allein auf Symptomen beruht, »ohne bekannte organische (also körperliche) Ursache«. Mit anderen Worten: Ich hatte eine körperliche Krankheit, die von meinem Kopf verursacht wurde. Ich hätte den Rat »Bring deinen Kopf in Ordnung, dann geht es dir wieder gut« vielleicht beleidigend gefunden, wenn mich nicht ein Ereignis in der Familie zum Umdenken bewogen hätte.

Meine künftige Schwägerin steckte bis über beide Ohren in der Planung eines Riesenfestes, bei dem zwei Ereignisse gleichzeitig gefeiert wurden: der Silvesterabend und ihre Hochzeit. Am Tag darauf war ihr gleich zum Auftakt ihrer Flitterwochen sterbenselend – und nicht, weil sie zu viel Champagner getrunken hatte. Das brachte mich ins Grübeln, und ich überlegte, mit dem Zusammenhang von Körper und Geist könnte es doch etwas auf sich haben. Heute wird diese Denkweise weithin akzeptiert, aber vor einigen Jahrzehnten gehörte sie in die gleiche Schublade wie Händchenhalten und »Kumbaya« singen. Das war nichts für mich. Ich studierte Organische Chemie im Hauptfach und untersuchte die Moleküle des Lebens – mit New-Age-Firlefanz hatte ich nichts im Sinn. Doch nach dieser Hochzeit trieb mich zunehmend die einfache Frage um: Warum werden wir krank, wenn wir gestresst sind?

Und das änderte meinen Lebensweg. Ich trat mit dieser Frage mein Medizinstudium an. Nach meinem Abschlussexamen in Princeton begann ich ein kombiniertes MD-PhD-Programm an der Washington University in St. Louis. Diese Promotionsprogramme sind eine hervorragende Möglichkeit, Medizin und Naturwissenschaft zu verbinden – sich Alltagsproblemen zuzuwenden, mit denen Ärzte täglich zu tun haben, sie im Labor zu untersuchen und bessere Behandlungsmöglichkeiten zu entdecken. Ich nahm mir vor, herauszufinden, wie Stress unser Immunsystem beeinflusst und zu so etwas wie der spontanen Erkrankung meiner Schwägerin gleich nach ihrem großen Tag führen kann. Ich wurde ins Labor von Louis Muglia, einem Experten für Endokrinologie und Neurowissenschaften, aufgenommen. Wir verstanden uns auf Anhieb gut, weil uns die gleiche Leidenschaft verband: Wir wollten verstehen, wie Stress uns krank macht. Ich machte mich an die Arbeit und manipulierte bei Mäusen den Spiegel der Stresshormone, die die Genexpression regulieren, um zu sehen, was dabei mit ihrem Immunsystem geschah. Und wir entdeckten (zusammen mit vielen anderen Wissenschaftlern) zahlreiche faszinierende Dinge.

Doch als ich mein Medizinstudium begann, war ich noch immer gewaltig gestresst. Außer an meinem Reizdarmsyndrom – das sich zum Glück schon gebessert hatte – litt ich zum ersten Mal in meinem Leben an Schlafstörungen. Warum? Unmittelbar bevor ich das Studium aufnahm, hatte ich mich von meiner Verlobten getrennt, die auf dem College jahrelang meine Liebste gewesen war und mit der ich bereits langfristige Lebenspläne geschmiedet hatte. Dass wir uns trennen würden, war nicht Teil dieser Pläne.

Da stand ich also, wollte eine wichtige neue Lebensphase beginnen, konnte nicht schlafen und war Single. Irgendwie kam es, dass mir Jon Kabat-Zinns Buch Full Catastrophe Living: Using the Wisdom of Your Body and Mind to Face Stress, Pain, and Illness (1990, deutsch: Gesund und stressfrei durch Meditation. Das große Buch der Selbstheilung 1991) in den Schoß fiel. Ich fühlte mich von den Titelworten »full catastrophe« – »volle Katastrophe« – unmittelbar angesprochen, also stürzte ich mich in die Lektüre und begann am ersten Tag meines Medizinstudiums zu meditieren. Genau 20 Jahre später blicke ich heute zurück und sehe, dass die Begegnung mit diesem Buch zu den wichtigsten Ereignissen in meinem Leben gehört. Dass ich Full Catastrophe las, veränderte meinen gesamten Werdegang: was ich tat, wer ich war und wohin ich mich künftig entwickle.

Als »Ganz oder gar nicht«-Mensch, der ich damals war, stürzte ich mich mit demselben Eifer in die Meditationspraxis, mit dem ich auch andere Dinge im Leben in Angriff genommen hatte. Ich meditierte jeden Morgen. Ich meditierte in langweiligen Medizinvorlesungen. Ich begann Meditationskurse zu besuchen. Ich fing an, bei einem Meditationslehrer zu lernen. Ich kam allmählich dahinter, woher mein Stress kam und wie ich dazu beitrug, ihn zu fördern. Ich begann Verbindungen zwischen frühen buddhistischen Lehren und modernen wissenschaftlichen Entdeckungen zu erkennen. Ich bekam eine erste Ahnung, wie mein Geist arbeitet.

Acht Jahre später, als ich mein MD-PhD-Programm abschloss, entschied ich mich für eine Ausbildung zum Psychiater – nicht des Gehalts (Psychiater gehören zu den Ärzten mit dem niedrigsten Einkommen) oder des Ansehens wegen (Hollywood stellt Seelenklempner oft entweder als nutzlose Scharlatane oder als im Hintergrund wirkende manipulative Personen dar), sondern weil ich klare Verbindungen zwischen sehr alten und heute aktuellen psychologischen Verhaltensmodellen sah, besonders bei der Sucht. Nach der Hälfte meiner Psychiatrieausbildung verlagerte ich meinen Forschungsschwerpunkt von der Molekularbiologie und Immunologie zur Achtsamkeit: wie sie das Gehirn beeinflusst und wie sie bei psychischen Störungen zu einer Besserung beitragen kann.

Die letzten 20 Jahre waren angefüllt mit faszinierenden persönlichen, klinischen und wissenschaftlichen Erkundungen. In den ersten zehn Jahren bin ich nie auf den Gedanken gekommen, meine Achtsamkeitsübungen klinisch oder wissenschaftlich zu verwerten. Ich habe einfach geübt. Und weiter geübt. Später lieferte meine Selbsterforschung die kritische Grundlage für meine Arbeit als Psychiater und Wissenschaftler. Während meiner Ausbildung in Psychiatrie wurden die Verbindungen zwischen dem, was ich theoretisch gelernt hatte, und dem, was ich aus der Erfahrung mit meiner Achtsamkeitspraxis gewonnen hatte, allmählich ganz von selbst spürbar. Ich sah, wie deutlich es sich auf den Umgang mit meinen Patienten auswirkte, ob ich achtsam war oder nicht. Wenn ich zu wenig geschlafen hatte, weil ich im Bereitschaftsdienst nachts gerufen worden war, neigte ich deutlich mehr dazu, meine Kollegen im Team anzublaffen – was ich auch merkte, und meine Achtsamkeitspraxis half mir, mich zu beherrschen. Wenn ich bei meinen Patienten wirklich präsent war, half mir das, keine vorschnellen diagnostischen Schlüsse zu ziehen oder unseriöse Vermutungen anzustellen. Und es führte auch zu einer tieferen persönlichen Verbindung.

Außerdem war mein wissenschaftlich neugieriger Geist von meinen persönlichen und klinischen Beobachtungen fasziniert. Wie half mir die Achtsamkeit, eingefleischte Gewohnheiten zu verändern? Wie half sie mir, mich zu meinen Patienten in Beziehung zu setzen? Ich begann einfache wissenschaftliche und klinische Studien zu entwerfen, um zu erforschen, was in unserem Gehirn geschieht, wenn wir achtsam sind, und wie wir entsprechende Erkenntnisse umsetzen können, damit sie das Leben der Patienten verbessern. Aufgrund der Ergebnisse konnte ich anfangen, die Behandlungs- und Verfahrenstechniken für die evidenzbasierten Trainings zu optimieren, die wir damals entwickelten, etwa bei einer Raucherentwöhnung, Stress oder emotionalem Essen.

Meine Beobachtungen bei wissenschaftlichen Versuchen, Begegnungen mit Patienten und der Erkundung meines eigenen Geistes haben sich auf eine Weise zusammengefügt, die mir zu einem wesentlich klareren Weltverständnis verholfen hat. Was mir früher am Verhalten von Menschen in Studien und in meiner Klinik und selbst an der Arbeitsweise meines eigenen Geistes zufällig erschien, ist geordneter und vorhersagbarer geworden. Diese Entdeckung führt mitten ins Herz wissenschaftlicher Erkenntnis: Sie verlangt, dass man Beobachtungen reproduzieren und Ergebnisse vorhersagen kann, die auf einem Satz Regeln oder Hypothesen beruhen.

Meine Arbeit lief auf ein relativ einfaches Prinzip hinaus, das auf einem in der Evolutionsgeschichte erhalten gebliebenen Lernprozess basiert, der sich entwickelt hat, um unseren Vorfahren überleben zu helfen. In gewissem Sinne wurde dieser Lernprozess zu Hilfe genommen, um ein breites Spektrum von Verhaltensweisen zu verstärken, zu denen auch Tagträumen, Zerstreuung, Stress und Sucht gehören.

Als dieses Prinzip in meinem Kopf Gestalt...

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