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E-Book

Das Haus meiner Eltern hat viele Räume

Vom Loslassen, Ausräumen und Bewahren

AutorUrsula Ott
Verlagbtb
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783641240165
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
»Tolles Buch, sehr empfehlenswert - ist ein großer Bestseller und ich verstehe jetzt, warum.« Markus Lanz, ZDF

Das Elternhaus. Es ist zu groß geworden für die alten Eltern. Es steht vielleicht sogar weit weg vom Leben, Lieben und Arbeiten der Kinder, die in der Mitte des Lebens genug mit sich selbst zu tun haben - und jetzt doch entscheiden müssen: Was machen wir mit dem Ort unserer Kindheit? Wie verabschieden wir die Heimat in Würde? Was hat für uns als Familie wirklich noch einen Wert und was muss weg?

Ursula Ott, Jahrgang 1963, ist Chefredakteurin des Magazins »chrismon«. Sie ist Absolventin der Deutschen Journalistenschule in München und arbeitete u.a. als Gerichtsreporterin bei der »Frankfurter Rundschau«, als Autorin und Kolumnistin bei der »Woche«, »Brigitte« und »Sonntag aktuell« sowie als freie Autorin für Radio und Fernsehen. Sie ist außerdem Autorin zahlreicher Sachbücher über Familie, Kinder und Gesellschaft. Ursula Ott hat eine Schwester und lebt in Köln und Frankfurt am Main.

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Leseprobe

KAPITEL 2


Schwindel im Kletterpark

Wie man sich lange dagegen wehren kann. Und dann doch erkennt: Wir müssen uns vom Elternhaus trennen.


Ein Jahr zuvor. November 2016. Eine Umzugsfirma, die auf Seniorenumzüge spezialisiert ist, schickt uns einen kleinen Transporter. Einen Ford Transit, den kleinsten aus der Fahrzeugflotte. »Ist nur zur Probe mit dem Umzug«, erklärt meine Mutter den Arbeitern, die nur einen Tisch, zwei alte Stühle und das Bett einpacken sollen. Und ein paar alte Töpfe. Den am besten deutschsprechenden Möbelpacker nimmt sie sich extra zur Brust: »Gucken Sie sich gut um hier, Sie müssen mich in einem Jahr wieder zurückbringen, wenn es nicht klappt.«

Zur Probe? Mit 87? Ob man da noch viel ausprobieren kann? Ja, man kann. Unsere Eltern sind ja nicht wie wir zehnmal im Leben umgezogen. Woher sollen sie denn wissen, ob ein Neuanfang gelingt? »Ich probier das mit Stuttgart«, sagt meine Mutter allen, die ungläubig fragen, ob sie wirklich, wirklich das schöne Haus verlassen wolle. Ein Haus! In der Nähe vom Bodensee! Nach fünfzig Jahren? Das macht man doch nicht! Die Vokabel »probieren« klingt wie eine Besänftigungsformel.

Im Nachhinein entpuppte sich das Jahr »Probezeit« als die beste Idee von allen. Schon allein, weil sie signalisierte: Das Leben ist nicht vorgezeichnet. Man kann es gestalten, selber entscheiden, auch wenn oft Krankheiten, finanzielle Nöte oder sogar Todesfälle mitspielen. Im hohen Alter sind nicht mehr alle Optionen offen. Aber man kann noch eigene Entscheidungen fällen. Ein gutes Gefühl. Man nennt es Freiheit.

Ganz freiwillig ist es allerdings nicht, das Probejahr. Es ist der Kompromiss zwischen uns dreien.

Meiner Mutter, die entschieden hat, auszuziehen – aber mit jedem Tag, an dem der Termin näherrückt, Respekt vor der eigenen Courage bekommt.

Meiner älteren Schwester, die sich voller Tatendrang um die neue Bleibe gekümmert hat, um Mietverträge, Kautionen und Pflegevereinbarungen – aber doch innig verbunden ist mit dem Haus, sogar noch ein perfekt eingerichtetes Mädchenzimmer dort hat, mit Enid-Blyton-Büchern im weißen Schleiflackregal und Fotos vom Landschulheim an der Wand.

Und mir, die ich am liebsten eine schnelle Entscheidung gehabt hätte – aber verstehe: Wenn die Mutter sich schnell entscheiden muss, sagt sie Nein. Und dann reden wir wahrscheinlich erst dann wieder über das heikle Thema, wenn ein Notfall eintritt. Ein Knochenbruch, ein Autounfall. Also lieber jetzt zur Probe das Haus räumen. Lieber jetzt, wo sie noch weitgehend gesund ist. Lieber so lange pendeln zwischen dem alten und dem neuen Leben, bis alle so weit sind, einen gemeinsamen Schnitt zu machen.

Wann ist nun der richtige Zeitpunkt für den Abschied vom Elternhaus? Nun ja: Es gibt ihn nicht. In vielen Fällen bleiben die Eltern zu lange zu Hause und lassen sich nicht helfen – bis die ganze Fassade aus unzähligen Kompromissen und Notlösungen zusammenbricht und Mutter oder Vater in die Kurzzeitpflege der Kliniken geraten – dehydriert und verwirrt. Es ist aber auch vollkommen individuell, was richtig ist. Unser Weg ist für uns richtig, nicht unbedingt für alle. Die Fragen sind endlos: Ab wann soll eine Pflege ins Haus kommen? Ist betreutes Wohnen nicht besser? Wie machen wir das mit dem Essen? Es gibt keine Standardlösung, das ist sicher. Man muss rechtzeitig darüber reden, den Weg langsam und gemeinsam gehen – das ist der vielleicht wichtigste Punkt. Viele räumen das Haus erst aus, wenn die Eltern tot sind.

Ich bin froh, dass mir das erspart geblieben ist. Das Elternhaus ausräumen und die Eltern nicht mehr fragen können, was da an Geschichten war mit dieser Puppenstube. Mit jener Urkunde. Wie traurig es sein muss, Fotoalben alleine ausräumen zu müssen, ohne noch einmal gemeinsam darin blättern zu können. Ich hätte sicher viele Tränen vergossen.

Auch wir haben spät begonnen, über das Thema »Haus« zu sprechen. Dabei hätte es so viele Anlässe gegeben. Mein Vater starb, als meine Mutter dreiundsiebzig Jahre alt war. Wie schlau wäre es gewesen, schon damals gemeinsam über einen Neustart zu sprechen. Aber wir Töchter waren zu sehr mit unserem eigenen Leben beschäftigt. Ich war frisch geschieden mit zwei kleinen Kindern. Meine Zeitung, »Die Woche«, hatte von heute auf morgen pleite gemacht. Für mich war das Haus eine Zuflucht. Gerade jetzt, wo mein Vater gestorben war, wo ich selber in eine finanzielle Schieflage geraten war, fuhr ich so oft es ging mit meinen Kindern hin. Die Totenstille wurde von Kinderstimmen übertönt. Es war gut so. Aber es war auch eine vertane Chance: Mit dreiundsiebzig hätte meine Mutter noch viel mehr Wurzeln an einem neuen Ort schlagen können.

Mit einundachtzig hatte sie dann einen leichten Herzinfarkt, zwei Jahre später einen leichten Schlaganfall. Beide Male: große Panik bei den Töchtern. Mit dem nächsten ICE runter zum Bodensee, das Handy immer am Ladekabel, bloß keinen Anruf verpassen, das typische Schicksal aller berufstätigen Kinder. Wie oft höre ich im Großraumwagen diese Handytelefonate: »Bitte geben Sie mir den Oberarzt! Nein, ich kann nicht in dreißig Minuten da sein. Wie, Sie wollen morgen schon meine Mutter entlassen? Das geht nicht.«

Ich hatte solche Dialoge bereits unzählige Male mitgehört, nun traf es uns selber. Die Mutter, die uns immer umsorgt hatte, die uns Maultaschen gekocht, Marmeladegläser gefüllt und den von Windpocken geplagten Enkeln kalte Wickel um die glühenden Waden gewickelt hatte. Sie lag nun selber im Krankenhaus. Als sie den Schlaganfall hatte, waren wir zufällig in den Ferien dort, mitsamt dem französischen Austauschschüler. Die Großen backten Kuchen und schleppten ihn dann auf die Intensivstation, der Kleine nahm sein »Elfer-raus«-Kartenspiel und probierte aus, ob die Oma mit ihren Doppelbildern im Hirn schon die grüne Elf von der blauen unterscheiden konnte.

Abends, als wir vom Krankenhaus nach Hause kamen, waren wir zum allerersten Mal ohne Oma dort. Die Nachbarin zur Linken guckte ab und zu, ob wir beim Kuchenbacken nicht allzu viele Teigspritzer hinterließen. Die Nachbarin zur Rechten wunderte sich, dass nach fünfzig Jahren, in denen der Balkontisch immer auf dem Balkon gestanden hatte, nun plötzlich eine lange Tafel im Garten gedeckt wurde.

Es waren seltsame Sommerferien im Elternhaus ohne Oma. Die Vormittage verbrachten wir am Krankenbett, nachmittags machten wir Ausflüge an den Bodensee – wie immer im Sommer. In Immenstaad, in einem Kletterwald, den wir schon oft besucht hatten, merkte ich zum ersten Mal, dass sich bei mir etwas verändert hatte. Ich stand oben auf dem schwankenden Seil und musste direkt wieder absteigen. Ich bin normalerweise der Typ »schwindelfrei«, noch nie hatte mir der Blick in den Abgrund etwas ausgemacht. Doch jetzt musste ich wie ein doofer Angsthase zurück zum sicheren Buchenstamm, die Leiter hinunter zur Erde. Mir fehlte der Boden unter den Füßen. Die Kinder mussten alleine weiterklettern. Da merkte ich zum ersten Mal: Das Fundament, es schwankt. Der Vater tot, die Mutter lebensbedrohlich erkrankt – und das Haus?

Ach, hätten wir es damals nur verkauft. Es wäre gut gewesen. Aber wir haben es nicht getan, und daran ist auch dieser blöde Nachmittag auf dem Seil schuld. Als ich wieder ins Elternhaus kam, war ich froh, dass es noch stand.

Hinzu kam: Mir fehlte die Fantasie, wo meine Mutter wohnen könnte, wenn sie es im Haus nicht mehr schaffen würde. Seit meinem Abitur in Ravensburg waren mehr als dreißig Jahre vergangen, vieles hatte sich verändert. Ich kannte mich vor Ort nicht mehr so gut aus. Schließlich rief ich meinen alten Klassenlehrer an, der selber inzwischen im Ruhestand war. Ich dachte: Der weiß bestimmt, wo es eine Einrichtung für betreutes Wohnen gibt. Bis ich merkte: Er hat selbst Angst vor dem hohen Alter. Es wurde ein Gespräch über das Thema, wie man um jeden Preis im eigenen Haus bleiben kann. Polnische Pflegerinnen, Taxi statt Auto, Badewannen-Einstieg von unten. Solche Sachen. Keine Hilfe – dafür war es einfach schon zu spät.

Einzig eine Sozialarbeiterin aus einem Alt-Jung-Wohnprojekt, die ich mit meinen Journalismus-Schülern vor Jahren interviewt hatte, sprach Tacheles: »Ihre Mutter hat jetzt zwei gelbe Karten bekommen. Sie werden sehen: Je älter sie wird, desto höher der Aufwand, das Eigenheim in Schuss zu halten, und desto geringer der Gewinn.« An den Satz habe ich später oft gedacht. Aber sie sagte auch, wir seien reichlich spät dran mit der Idee, das Haus zu verkaufen und stattdessen eine seniorengerechte Wohnung zu erwerben. Die seien alle schon verkauft, bevor der erste Spatenstich erfolgt, wusste sie, Wartelisten bis unendlich, und ich glaubte ihr sofort. Zinsen im Dauertief, Schwaben haben Geld. Alle Immobilien, die fürs Alter gerecht wären, schon weg. Und für das Alt-Jung-Projekt, das sie selber managte, sei meine Mutter leider schon ein bisschen zu alt. Das saß.

Man hört solche Sätze und trägt sie dann vor, wenn es passt. Natürlich hätte man auch damals, vor fünf Jahren, etwas gefunden, Zinsniveau und Immobilien-Flaute hin oder her. Aber es war offenbar für uns alle drei noch zu früh.

Und so trainierte meine Mutter mit der ganzen Entschlossenheit einer schwäbischen Nachkriegs-Trümmerfrau – damit sie wieder zurück in ihr Haus konnte. Ging jeden Tag zur Orthoptistin, um ihren Augen die Doppelbilder wieder abzutrainieren, und strampelte auf dem Hometrainer, den mein Vater in den Achtzigern gekauft hatte. Wir räumten die losen Teppiche und andere Stolperfallen weg, ließen den Schreiner neue Handläufe an der Treppe anbauen und Haltegriffe in der Dusche. Hauptsache, der Status quo bleibt erhalten.

Es war fast ein Wunder, dass wir...

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