Wie eingangs bereits erwähnt, wird in diesem Kapitel die Begründung des Einsatzes von Hörbüchern im Literaturunterricht der Grundschule aus drei Perspektiven erarbeitet, nämlich dem derzeitigen Hörbuch-Nutzungsverhalten von Kindern im Grundschulalter, der mangelnden Nutzung von Hörbüchern in der Grundschule und vor allem dem didaktischen Potenzial von Hörbüchern im Literaturunterricht (Punkt 4.2 – 4.4). Davor wird jedoch der aktuelle Hörbuchmarkt auf sein kindspezifisches Angebot hin untersucht, um aufzuzeigen, welche Art von Sprach-Hörmedien auf was für Tonträgern für Kinder erhältlich ist.
Nicht nur der Hörbuchmarkt im Allgemeinen, sondern auch der Markt für Kinder-Hörbücher boomt zurzeit.[64] Das Angebot, das sich ausdrücklich an Kinder und Jugendliche richtet, umfasst, wenn man den Hörbuchmarkt nach Zielgruppen unterscheidet, knapp 22 Prozent.[65] Im Detail produzieren knapp 400 Verlage pro Jahr ca. 800 Hörbücher speziell für Kinder. Kinder-Hörbücher werden vom Handel durchaus als eigenständige Sparte gesehen, geschätzt und als eine solche umworben. So haben sich mittlerweile auch Online-Portale etabliert, deren Angebot sich gezielt an Kinder richtet, wie z. B. www.hoerbie.de, www.hoerstern.de, www.iHaiko.de und www.toni.de. Zudem gibt es eigene Bestenlisten, wie z. B. vom Hessischen Rundfunk (hr2) und dem Börsenblatt, und Auszeichnungen wie den Deutschen Kinderhörbuchpreis und den MDR-Kinderhörspielpreis sowie den Leopold-Medienpreis.[66] Gerade diese können neben Rezensionen in Fachartikeln, dem Internet und der Zeitschrift Hörbücher - Das unabhängige Hörbuch-Magazin Aufschluss über den aktuellen Markt sowie über Eignung und Qualität einzelner Titel des riesigen Angebotes geben. Denn mit dessen Expansion hielt auch Qualitätsverlust durch Downloads, schnelle Produktion und Dumpingpreise für Billigauflagen Einzug in den Hörbuchmarkt. Viele Verlage versuchen dieser Entwicklung entgegenzuwirken, z. B. indem preiswerte Editionen oder Reihen mit Hörbuch- Bündeln[67] herausgegeben werden. So geschehen in Form der Süddeutsche Zeitung Edition mit Klassikerlesungen, der Abenteuer-Hören-Boxen von Random-House und der Die Zeit-Kinderhörspielbox mit Kinderklassikern. Obwohl sich auch der Markt für Kinder-Hörbücher zum Großteil in der Hand der Großkonzerne wie Sony/ BMG, Universal, EMI und Kiddinx befindet, bieten die Verlage laut Heide Germann insgesamt eine dennoch beeindruckende Vielfalt.[68]
Alltagsgeschichten, Krimis, Historisches, Märchen, Phantastisches und fortsetzungsträchtige Fantasy-Romane finden sich in allen Schattierungen […]. Es gibt alles – von Bilderbuchadaptionen bis zu Anleihen aus der Erwachsenenliteratur mit durchgängigen Altersgrenzen; von Fingerspielen nebst Liedern zwischen klassisch und modern, bis zu Gedicht- und Balladenanthologien, von ersten Vorlese- und Gute-Nacht-Geschichten bis zu großen Romanbearbeitungen, auch Märchen, Sagen und Fabeln bis zur Weltliteratur für Kinder. Dazu kommen immer mehr Sachbücher als Lesungen, aber auch als Dialoge, Frage-Antwort-Spiele, Features oder Hörspiele, als phantastisch-informative Reise zu fernen Zeiten, Orten und Wissensgebieten.[69]
Der größte Marktanteil liegt bei den Lesungen, bei denen sich ein Trend zu inszenierten Lesungen mit mehreren Rollen bzw. Sprechern zeigt. Zudem werden weder lange Hörzeiten noch vermeintlich schwierige Themen gemieden, so z. B. bei John Boynes Der Junge im gestreiften Pyjama mit einer Laufzeit von 313 Minuten (Argon, 2009). Auch Sachtitel für Kinder werden zu Hauf angeboten, bieten sie doch durch didaktisch geschickten Aufbau und gute Sprecher die Möglichkeit, schwierige Inhalte verständlich zu vermitteln. So z. B. die Reihe Abenteuer und Wissen (Headroom, seit 2008), die es über Features und beiliegende Bücher schafft, Informationen zu Forschern und Expeditionen spannend zu gestalten.[70] Ebenfalls häufig angeboten werden Klassiker und Titel der Weltliteratur, die jedoch nicht immer für die Rezeption durch Kinder gedacht waren. Auch bei dieser Gattung liegt ein Trend zu ungekürzten Originaltexten vor, die den Kindern durchaus zugetraut werden, haben sie doch Hilfsmittel wie die direkte Kapitelanwahl[71] zur Hand. So z. B. die erste vollständige Lesung von Michael Endes Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer über mehr als sieben Stunden (Der Audio-Verlag, 2009). Parallel sind auch eine Menge kindgerechter Nacherzählungen von klassischen Dramen Shakespears, Goethes, Schillers etc. erhältlich (z. B. im Kindermann-Verlag). Auch bei den Hörspielen sind die Themen sehr verschieden. Zudem finden sich sowohl alte als auch neue Buchtitel, wie Kirsten Boies Skogland (Jumbo, 2007) oder David Copperfield von Charles Dickens (Naxos, 1998).[72] Einen Überblick über eine Vielzahl aktueller Hörbücher kann man sich unter www.toene-fuer-kinder.de und in der gleichnamigen Zeitschrift verschaffen.[73]
Am Ende des Punkts 2.3 wurde dargestellt, dass Sprach-Hörmedien technisch gesehen heute nahezu überall rezipiert werden können. Im Folgenden soll jedoch der Frage nachgegangen werden, ob auch Kinder im Grundschulalter diese Möglichkeiten haben und nutzen.
Generell ist die Medienausstattung in Haushalten, in denen Kinder aufwachsen, besser als die des bundesdeutschen Durchschnitts. Laut repräsentativer KIM-Studie sind in fast allen Haushalten ein Radio (92%) und ein CD-Player (91%), in knapp drei Viertel der Haushalte ein Kassettenrekorder (72%) und in mehr als der Hälfte ein MP3-Player (56%) und ein Walk- oder Discman (53%) zu finden. Zudem kann die Hälfte der Kinder einen CD-Player (50%) oder einen Kassettenrekorder (45%) und mehr als ein Drittel jeweils einen MP3-Player, ein Radio oder einen
Walk-/ Discman sein Eigen nennen, d. h. im eigenen Kinderzimmer frei darüber verfügen.[74] Daraus ergibt sich, dass die technischen Voraussetzungen zur Rezeption von Hörbüchern durch nahezu alle deutschen Kindern im Grundschulalter gegeben sind.[75] Die wichtigste Medientätigkeit bei diesen Kindern ist jedoch nach wie vor das Fernsehen, das überdies am häufigsten genutzt wird. Auch das Interesse an Büchern im Allgemeinen bleibt in dieser Alterspanne deutlich hinter anderen Freizeitbeschäftigungen, wie Freundschaft, Sport, Musik, Internet und Mode, zurück. So liest zwar jedes zweite Grundschulkind gerne und regelmäßig, jedoch wird das Buch als Medium lediglich von 21 Prozent der Mädchen und neun Prozent der Jungen im Grundschulalter als „sehr interessant“[76] bezeichnet. Trotzdem liest mehr als die Hälfte der Kinder in ihrer Freizeit mindestens einmal pro Woche Bücher und ähnlich viele sind regelmäßige Radiohörer.[77] Knapp die Hälfte der Kinder im Grundschulalter beschäftigt sich explizit mit Hörbüchern. So hören diese Mädchen und Jungen ein- bis mehrmals in der Woche Hörbücher in Form von Hörspielkassetten bzw. –CDs, zwölf Prozent davon sogar jeden oder fast jeden Tag.[78] Laut der nicht-repräsentativen Studie Ohr liest mit 2007 geben sogar „81,2 Prozent der lesebegeisterten Kinder und Jugendlichen […] an, das Medium in ihrer Freizeit zu nutzen.“[79] Über 40 Prozent dieser Gruppe kommen dabei auf mehr als zehn Hörbücher im Jahr, jeder Fünfte hört über das Jahr verteilt sogar mehr als 20 Titel.[80] So verwundert es nicht, dass nahezu alle Kinder bereits in der vorhergegangenen Studie des Projekts Ohr liest mit zum einen angaben, dass sie Hörbücher als „total cool“[81] oder zumindest „ganz nett“[82] empfinden und zum anderen mitteilten, dass sie ihr eigenes Taschengeld eher für Hörbücher als für Bücher ausgeben.[83]
Stehen bei erwachsenen Konsumenten Nutzungsmotive wie das Decken des eigenen Informationsbedarfs, die sachliche Wissenserweiterung, das optimale Auskosten der raren Freizeit oder auch die Verwendung als Entspannungshilfe im Vordergrund[84], spielen bei Kindern im Grundschulalter meist andere Motive die entscheidende Rolle, sei es nun Überwindung von Langeweile oder Einsamkeit, Ablenkung vom Alltag oder die Vermittlung von Spaß oder Spannung.[85] Demgemäß werden Hörbücher, wenn sie in der Freizeit Verwendung finden, hauptsächlich zur Unterhaltung und Entspannung (86%), aber auch zur Informationsbeschaffung für Freizeitzwecke (24%) und ferner zur Recherche von schulrelevanten Themen (13%) genutzt.[86] Natürlich lassen sich die kindlichen Motive für die Nutzung von Hörbüchern nicht pauschalisieren. Zum einen, weil die Anzahl der Motive in Bezug auf die unterschiedlichen Sprach-Hörmedien stark variiert und zum anderen, weil sich diese Motive bei Kindern häufig auf einer unbewussten Ebene abspielen und somit nur schwer erhoben werden können.[87] Trotzdem besteht ganz offenbar eine...