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Das kalte Herz

Kapitalismus: die Geschichte einer andauernden Revolution

AutorWerner Plumpe
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl688 Seiten
ISBN9783644100091
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Macht der Kapitalismus wenige reich und viele arm - oder immer mehr immer weniger arm? Nicht erst seit der Finanzkrise ist es wieder üblich geworden, den Kapitalismus für fast alle Übel der Welt verantwortlich zu machen. Dem setzt der renommierte Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe die Geschichte des Kapitalismus entgegen, die zeigt, wie viele Probleme die kapitalistische Marktwirtschaft gelöst hat - und nur diese. Denn «der» Kapitalismus ist kein System, sondern eine Art der Wirtschaft, bei der der Konsum im Mittelpunkt steht - und zwar der Konsum gerade der wenig vermögenden Menschen, die jahrhundertelang ihrem Schicksal überlassen waren. Nur so ist die ökonomisch erfolgreiche Massenproduktion möglich. Das hat früh Kritik auf sich gezogen, aber Plumpe zeigt, wie die kapitalistische Art des Wirtschaftens darauf reagiert hat, sich immer wieder wandelt. Der Kapitalismus ist folgenreich wie wenige andere Ideen, und wir entkommen ihm nicht, nicht mal in der Verweigerung. Ihm liegt weder ein böser Wesenskern zugrunde, noch ist er die Summe missliebiger Begleiterscheinungen unseres Gesellschaftssystems. Plumpe zeigt den Kapitalismus als immerwährende Revolution - als eine Bewegung ständiger Innovation und Neuerung, die so gut oder schlecht ist, wie wir sie gestalten. Der Kapitalismus ist und war schon immer das, was wir aus ihm machen.

Werner Plumpe, geboren 1954 in Bielefeld, ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Bis 2012 war er Vorsitzender des deutschen Historikerverbands. 2010 erschien «Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart», 2012 «Wie wir reich wurden» (mit Rainer Hank) und 2014 «Die Große Depression» (mit Jan-Otmar Hesse und Roman Köster). Ebenfalls 2014 erhielt Werner Plumpe den Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik.

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Leseprobe

Einleitung «Private Laster, öffentlicher Nutzen» (Bernard Mandeville): die paradoxe Geschichte des Kapitalismus


Der Kapitalismus hat Konjunktur. Spätestens seit der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 beherrscht das Thema die Welt der Sachbücher und der Feuilletons. Die Rolle, die dem Kapitalismus dabei zufällt, ist fast durchweg die des Schurken. Im Grunde der bis heute anhaltenden Krise werden jene Merkmale vermutet, die den Kapitalismus auszumachen scheinen: Gier, Profitsucht, Maßlosigkeit – Eigenschaften, die nicht nur wiederkehrend Krisen erzeugen, soziales Elend produzieren und unserem Leben eine gefährliche Fragilität geben; nein, sie bedrohen unser Schicksal insgesamt. Der Kapitalismus, so der fast einhellige Tenor, hat ohnehin keine Zukunft: Entweder er führt in die Katastrophe, oder es gelingt der Menschheit, sich rechtzeitig von ihm zu befreien.

Nicht alle Stimmen sind so apokalyptisch, aber kritisch sind sie allemal. Doch fragt kaum jemand, wie sich ein Wirtschaftssystem – unterstellen wir einmal, der Kapitalismus sei eines –, das offensichtlich wenig Freunde hat, derart erfolgreich ausbreiten und behaupten konnte. An Erklärungen, nach denen «der» Kapitalismus selbst dafür sorge, dass es keine erfolgreichen Alternativen zu ihm gibt, dass «er» gewalttätig und repressiv sei, dass «er» politische Entscheidungen kaufe und Politik überhaupt in Geiselhaft nehme, dass «er» sich in die institutionellen Strukturen unserer Welt so eingeschrieben habe, dass wir gar nicht mehr bemerken, wenn wir «sein» Geschäft betreiben, mangelt es nicht. Allerdings ist abgesehen von dem Problem, dass der Kapitalismus hier zu einem absichtsvoll handelnden Akteur gemacht wird, in der vermeintlichen Erklärung bereits die Lösung vorausgesetzt: Der Kapitalismus ist mächtig, weil er mächtig ist. Seine Wandlungen, Häutungen und Unterschiede sind nur Ausdruck seiner Diabolik; er ist in tausend Gestalten doch immer der Gleiche, der Gottseibeiuns eben. Ob er kaltlächelnd in den USA erscheint, in sozialer Camouflierung in Kontinentaleuropa oder als brachialer Ausbeuter in China oder Afrika, das sind letztlich nur Possenspiele, um die Kritik auszutricksen oder Widerstand ins Leere laufen zu lassen. Sein wahres Gesicht, da ist sich zumindest die europäisch-nordamerikanische Kritik einig, zeigt sich im Neoliberalismus und im damit eng verbundenen globalen Finanzmarktkapitalismus: Wenn der Kapitalismus kann, wie er eigentlich will, dann ist er skrupellos.

Diese Erklärungen sind im Kern tautologisch und erklären daher wenig. Vor allem verstellen sie den Blick auf den historischen Wandel der Wirtschaft, der dann bestenfalls wie ein technologisch getriebener Kleiderwechsel aussieht, ein Wechsel, der bis zu dem Zeitpunkt anhält, an dem der technologische Fortschritt dem Kapitalismus über den Kopf wächst. Das ist zumindest die marxistische Überzeugung, doch fehlt auch hier jede Idee, wie denn eine nachkapitalistische oder nichtkapitalistische Wirtschaft aussehen könnte. Zum realen Sozialismus wollen die Kritiker des Kapitalismus derzeit zwar mehrheitlich nicht zurück, doch wie eine Wirtschaft gestaltet sein könnte, die einerseits die mittlerweile bald acht Milliarden Menschen ernähren, bekleiden und versorgen kann, andererseits aber auf Produktivitätswachstum, marktliche Koordination von wirtschaftlichen Handlungen, Güterzuteilung über freie Preisbildung und privates Eigentum verzichtet, weiß niemand. Auch Paul Masons Utopie, die gegenwärtige Informationstechnologie befreie uns allein durch die technisch mögliche Fülle fast kostenlos verfügbarer Güter von Arbeit, Knappheit und Marktwirtschaft, ist so liebenswert wie unrealistisch, ein modernes Märchen vom Schlaraffenland.

Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass die gegenwärtige Kapitalismuskritik gar nicht die Realität unseres ökonomischen Alltags adressiert, sondern, zugespitzt formuliert, eine Scheinwelt konstruiert hat, in der das selbsterzeugte Gespenst Kapitalismus von den Kräften des Guten bekämpft wird – bisher leider recht erfolglos. Doch der antikapitalistische Furor ist hartnäckig: Was noch nicht ist, wird schon werden. Der Kapitalismus, da ist man sicher, hat die Neigung, sich selbst zu zerstören. Es gibt also Grund zur Hoffnung, die zugleich den Kampf für eine nachkapitalistische Welt befeuern kann. Die Realität der modernen Wirtschaft allerdings stimmt damit bestenfalls in einigen empirischen Befunden überein, liefert doch dieser von Widersprüchen zerfressene, zum Untergang neigende, immer aber bösartige Kapitalismus keine hinreichende Beschreibung der Art und Weise, wie heute wirtschaftliche Zwecke verfolgt werden. Das aber ist der Kritik gleichgültig. Einen großen Teil ihrer Argumente hat sie ohnehin nicht durch Beobachtung und Analyse der modernen Zustände gewonnen. Die Quellen der gegenwärtigen Kapitalismuskritik sind fast durchweg sehr viel älter als die moderne Wirtschaft, sie finden sich in der Tradition der Moralphilosophie und der Theologie der vorkapitalistischen Zeit.

In der marxistischen Literaturtheorie wurde in den 1970er Jahren ein Märchen von Wilhelm Hauff, «Das kalte Herz», das auch diesem Buch den Titel gegeben hat, als Beispiel früher kapitalismuskritischer Literatur gelesen. Dabei bediente Hauffs Erzählung von 1827 mit traditionellen Motiven eher romantische Leseerwartungen, als ein einigermaßen treffendes Bild der Wirtschaft seiner Zeit zu geben. So wird das bei Hauff für die moderne Wirtschaft stehende Holland mit der herkömmlichen Welt des Schwarzwalds kontrastiert und der modernen Maßlosigkeit eine vernünftige Lebensführung gegenübergestellt. Letztlich zeigt das Märchen ganz im Sinne der älteren Ökonomik die Apotheose des guten Haushälters, während das kapitalistische Holland mit genauso altbekannten Bildern der Sittenlosigkeit, der Maßlosigkeit und der alles verzehrenden Geldgier kritisiert wird. Um diese Erzählung zu schreiben, und darauf kommt es an, benötigte Hauff keine realen kapitalistischen Erfahrungen. Ein Blick in die «Patriotischen Phantasien» des Essayisten Justus Möser, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in ganz Deutschland überaus populär waren, hätte völlig ausgereicht, ihn mit einer Fülle geld- und marktkritischer Argumente zu versorgen.

Justus Möser wiederum war keineswegs der konservative Bewahrer, den man später in ihm sah, als hätte der Osnabrücker Jurist den Kapitalismus bereits vor seiner Entstehung erkannt und abgelehnt. Möser argumentierte in einer älteren geldkritischen Tradition, die nicht den noch völlig unbekannten Kapitalismus meinte, wenn sie auf die diabolische Kraft des Geldes einging. Die Spur der Geldkritik führt zurück zu Aristoteles, vor allem aber in die hoch- und spätmittelalterliche praktische Philosophie und Theologie, die sich mit dem Aufschwung der Geldwirtschaft in den Städten des 13. und 14. Jahrhunderts auseinanderzusetzen hatte. Die Ablehnung der Geldwirtschaft bezog sich nicht allein auf das Zinsverbot, sondern auf jedes wirtschaftliche Handeln, das mit Gelderwerb verbunden war. Zwar wurde nicht grundsätzlich bestritten, dass die Kaufmannschaft notwendig war; doch galt sie durchweg als heilsgefährdet, weil die Verführung zur Sünde des Wuchers (usura) und der Gier (avaritia) hier besonders leicht schien. Es sei die Natur des Geldes und der Geldwirtschaft, da waren sich die ältere Moralphilosophie und die Theologie lange vor dem Sieg des Kapitalismus sicher, die den Menschen aus der Bahn werfe. Die alte Angst vor der Diabolik des Geldes wechselte im 19. Jahrhundert nur ihr Aussehen; im Kern besteht sie bis heute fort.

Nicht zuletzt in der Marx’schen Sicht sind diese Momente vollständig erhalten, wenn auch in eigentümlicher Wandlung. Schien ihm die ältere Welt noch gebändigt, so war der Kapitalismus im Grunde der Durchbruch zur Raserei, die in den Abgrund oder, im besseren Fall, zum Kommunismus führen konnte. Für Marx war die ältere Welt nicht ideal, welthistorisch gesehen rückständig, doch waren der Ausbeutung durch die Konsummöglichkeiten des Feudalherrn (Marx spricht in einem schönen Bild von dessen Magenwänden) Grenzen gesetzt, die mit dem Kapitalismus, in dem es nur um Geldvermehrung ging, fortfielen. Diese Vorstellung der Entgrenzung als Merkmal des Kapitalismus – von den Älteren befürchtet, von den Jüngeren bereits diagnostiziert – blieb nicht auf Marx beschränkt, sondern findet sich sowohl bei Karl Polanyi als auch in der gegenwärtigen wachstumskritischen Literatur. Doch führt gerade diese Übernahme einer älteren geldkritischen Semantik in der Kritik an den jüngsten Zuständen dazu, dass das eigentlich Neue an der Art des Wirtschaftens, für die heute der Name Kapitalismus steht, nicht gesehen wird.

Um noch einmal auf Marx zu kommen: Auch der Kapitalist hat Magenwände, ganz wie der Feudalherr. Sollte er sich Reichtum tatsächlich schrankenlos aneignen, dann sicher nicht zugunsten seines privaten Konsums und auch nicht, jedenfalls nicht im Regelfall, zu symbolischer Prachtentfaltung durch Schlösser, Parks, Feuerwerke und Mätressen. Der Kapitalist, nennen wir ihn der Einfachheit halber so, macht etwas völlig anderes mit seinem Reichtum, und gerade das unterscheidet ihn fundamental von seinen reichen Vorgängern und von jenen Reichen, die ihr Geld verschwenden. Er macht, und hier sieht Marx die Situation völlig klar, aus seinem Reichtum Kapital, indem er es nicht verbraucht, sondern in produktive Anlagen investiert, also mit Marx zur Mehrwertproduktion nutzt. Das tut...

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