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E-Book

Das Kind verstehen

Entwicklung und Erziehung von 0-3 Jahren nach Maria Montessori

AutorSilvana Quattrocchi Montanaro
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783451801228
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Die italienische Ärztin Dr. Silvana Montanaro bringt auf anschauliche und verständliche Weise die wichtigsten Ereignisse und Entwicklungen vor, während und nach der Geburt des Kindes nahe. Dabei zeigt sie deutlich auf, worauf es jeweils aus der Sicht der Montessori-Pädagogik besonders ankommt: Es geht es in diesem Handbuch um zentrale Themen wie Bindung und Urvertrauen, Stillen und Schnuller, die Anregung der Sprach- und Bewegungsentwicklung.

Dr. Silvana Montanaro, Ärztin, international ausgewiesene Expertin auf dem Gebiet frühkindlicher Entwicklung und exzellente Kennerin der Frühpädagogik nach Maria Montessori.

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Leseprobe

2 Die Geburt: Trennung und Bindung


Ein Erfahrungskontinuum: Ein anderer Ort, derselbe Mensch


Im vorigen Kapitel haben wir gesehen, dass der Moment der Geburt sowohl in physischer als auch in psychischer Hinsicht gewissenhaft vorbereitet wird, bis das Kind am Ende der Schwangerschaft schließlich für den Wechsel in eine andere Umwelt bereit ist und die Entbindung stattfinden kann. Jeder evolutionäre Wandel bietet die Chance zur Verbesserung; ohne Veränderung gäbe es keinen Fortschritt. Nach der Geburt steht dem Kind ein größeres Spektrum an Erfahrungen offen und auch die Möglichkeit, eine neue, direktere Beziehung zur Mutter aufzubauen.

Sämtliche Vorgänge, die mit der Geburt zu tun haben, lassen sich leichter verstehen, wenn wir diesen besonderen Moment in zwei Stufen teilen:

  1. Der Körper der Mutter und derjenige des Kindes machen starke Veränderungen durch.
  2. Um den körperlichen Wandel zu fördern und eine weitere Entwicklung möglich zu machen, finden bestimmte psychische Anpassungen statt.

Bis zum Einsetzen der Wehen macht der Körper der Mutter zahlreiche Veränderungen durch, die fast unbemerkt vonstattengehen. Dann jedoch weist ihr Körper mit so deutlichen Signalen auf die nahende Geburt hin, dass es unmöglich wird, vor der Situation die Augen zu verschließen. Genau in diesem Moment begreift die Mutter, dass sie eine innere Entscheidung über ihr weiteres Vorgehen treffen muss. Für manche Frauen ist es ganz selbstverständlich, sich von dem Kind zu lösen und sich in den natürlichen Geburtsvorgang zu fügen. Akzeptieren sie die Trennung von dem menschlichen Wesen, das über neun Monate langsam in ihnen gewachsen ist, entwickeln sie eine Haltung der Hilfsbereitschaft, die sowohl für sie selbst als auch für das Kind nützlich ist. Durch den Wunsch, die wichtige Aufgabe der Geburt in Angriff zu nehmen, und die Freude darüber entspannen sich die Muskeln, sodass sie die Kontraktionen der Gebärmutter nicht behindern. Die positive Einstellung der Mutter sorgt dafür, dass der erste Teil der Wehen, in dem der Muttermund sich öffnet, kürzer dauert und mit weniger Schmerzen verbunden ist und dass er auch für das Kind weniger Gefahren (wie zum Beispiel die einer Unterversorgung mit Sauerstoff) mit sich bringt. Manche Frauen fühlen sich jedoch noch nicht bereit für die Entbindung. Sie haben Angst davor und neigen bewusst oder unbewusst dazu, sich dem Geburtsvorgang zu widersetzen, was dramatische physische Auswirkungen haben kann. Es kommt zu Muskelverspannungen, besonders im unteren Teil der Gebärmutter. Der Muttermund braucht länger, um sich zu öffnen, und der Vorgang ist mit stärkeren Schmerzen verbunden. Das Kind wird in seinen Bemühungen, den Bauch der Mutter zu verlassen, nicht unterstützt. Da die Mutter nicht richtig mit dem Kind zusammenarbeitet, kann die Entbindung oft nur mit massiver medizinischer Hilfe bewältigt werden. Durch diese Störung der Mutter-Kind-Beziehung kann die Geburt körperlich und seelisch zum Trauma werden. Die Erfahrungen, die das Kind während des langen Geburtsprozesses macht, auf welchen dann die Trennung von der Mutter folgt, verhindern einen als reibungslos empfundenen Übergang vom pränatalen zum postnatalen Leben, wie er von der Natur eigentlich vorgesehen ist.

Das Kind muss seinen Übergang von innen nach außen ganz alleine bewältigen. Ist dieser Übergang von körperlichen Schmerzen begleitet, wird die neue Umwelt sofort als abweisend wahrgenommen, was Lebenslust und Veränderungswillen des Kindes beeinträchtigen kann. Dabei sind nicht die Hürden ausschlaggebend, die das Kind während der Entbindung überwinden muss, sondern die Weise, wie es sie nimmt. Wird es von der Mutter unterstützt, findet es leicht die Kraft, die dafür notwendige Arbeit zu leisten, und dadurch wird es ihm auch leichter fallen, später die Arbeit zu leisten, die für eine gute Entwicklung nötig ist.

Die Entbindung kann für Mutter und Kind ein sehr befriedigendes Erlebnis sein. Am Ende dieses Prozesses hat die Mutter endlich ihr Kind vor sich, kann es betrachten, berühren, mit ihm sprechen, während das Kind zum ersten Mal die unmittelbare Gegenwart jenes Menschen spürt, mit dem es seit neun Monaten so eng vertraut ist. Der Ort hat gewechselt, der Mensch nicht. Das Zusammenleben der beiden Partner funktioniert jetzt noch besser, und sie können fortfahren, die wichtigen Erfahrungen des Lebens miteinander zu teilen.

Die Bezugspunkte des Neugeborenen


Wie wichtig es für das Kind ist, die Geburt als Erfahrungskontinuum wahrzunehmen, ist leichter zu verstehen, wenn wir uns klarmachen, wie viele Bezugspunkte das Neugeborene im Laufe der pränatalen Phase bereits für sich aufgebaut hat. »Bezugspunkte« sind besondere Erinnerungen, die mit bestimmten Vorgängen während der Schwangerschaft verbunden sind. Manche entstehen durch die Mutter (ihren Herzschlag, ihre Stimme), andere durch den Embryo selbst (wenn er mit den Händen seinen Mund und sein Gesicht berührt oder schlicht seinen Körper bewegt). Diese Bezugspunkte funktionieren als Verbindung zwischen der Phase vor der Geburt (im Körper der Mutter) und der Phase nach der Geburt (außerhalb des Mutterleibs). Sie zeigen dem Kind, dass trotz der enormen Veränderungen, die seine äußere Situation so schlagartig verwandelt haben, sein Leben in wichtigen Punkten das gleiche bleibt, und vermitteln ihm so ein Gefühl der Geborgenheit. Es ist extrem wichtig, diese Bezugspunkte unmittelbar nach der Geburt so gut wie möglich aufrechtzuerhalten. Jeder, der bei der Entbindung hilft oder auf andere Weise mit dem Neugeborenen zu tun hat, sollte sich über diese Notwendigkeit im Klaren sein. Wird dieser wichtige Aspekt bei der Geburt nicht ausreichend beachtet, kann das zu körperlichen und seelischen Erkrankungen beim Kind führen.

In ihrem Buch Das kreative Kind geht Maria Montessori besonders auf dieses Problem ein und empfiehlt, man solle jemanden speziell damit beauftragen, sich um diese Belange zu kümmern. Sie nennt diesen Jemand »Assistant to Infancy«. Viele Jahre bevor sich die Haltung zu derlei Fragen in Geburtskliniken generell änderte, wies die Forscherin auf die »soziale Bedeutung« solcher Unterstützung hin, ohne die sich der natürliche Übergang während der Geburt in ein schädigendes Lebenstrauma verwandeln kann.

Das Grundvertrauen zu den engen Bezugspersonen entsteht in der allerersten Zeit

Trennung und Bindung


Bei der Geburt findet ein zwar absolut notwendiger, aber doch auch sehr schmerzhafter Abschied vom vorherigen Seinszustand statt. Ab einem gewissen Zeitpunkt hat das Kind alle Entwicklungsmöglichkeiten, die ihm das Leben im Mutterleib bietet, erschöpft. Der Mutterkuchen kann nicht weiter wachsen, und die Menge an Blut, mit der das Kind versorgt wird, reicht auch bei ihm nicht für ein weiteres Wachstum aus. Das Kind braucht jetzt einen Ort mit mehr Raum und mehr Sauerstoff, wo seine Sinne auf ein breiteres Spektrum an Erfahrungen treffen und sich weiterentwickeln können. Die Geburt versetzt das Kind an diesen Ort. In seine neue Umgebung bringt das Kind nur sich selbst und die Erinnerung an sein vorheriges Leben mit. Alles, was im Mutterleib noch lebensnotwendig war, verliert jetzt seinen Nutzen. Der Mutterkuchen, die Nabelschnur und das Fruchtwasser sind nicht mehr Teil der neuen Lebenssituation und verlieren ihre Bedeutung. Ihre Funktion wird von den Organen des Neugeborenen übernommen, die sich während der Schwangerschaft gebildet haben.

Die Geburt geht mit einer einschneidenden Trennung von der vorherigen Umgebung einher. Doch bei genauer Betrachtung kann man erkennen, dass die Natur diesen Schritt auf eine Weise geplant hat, die den Übergang erleichtert und seine positiven Seiten hervorhebt. Die wichtigste Rolle spielt dabei die Mutter; durch sie ist es dem Kind möglich, den Übergang als positive Erfahrung wahrzunehmen. Im Grunde kommt es nur dann zu einer wirklichen »Trennung«, wenn die Geburt ohne angemessene Hilfe stattfindet. Jedes Säugetier findet nach der Geburt unverzüglich zu seiner Mutter und wird von dieser in ihrer Nähe behalten. Ihre Wärme und ihre Körpergeräusche sind die ersten Sinneswahrnehmungen, die das Neugeborene in der fremden Umgebung in sich aufnimmt. Die Mutter leckt auch meist die Haut ihres Jungen ab. Die erste Stunde seines Lebens verbringt das Junge in enger Verbindung mit der Mutter; erst viel später überlässt die Mutter es sich selbst, um auf die Suche nach Nahrung zu gehen. Die ersten Eindrücke eines Tierkindes versichern ihm, dass seine Mutter weiter bei ihm ist und sich weiter um sein Wohl kümmern wird. Mit ihrer Hilfe wird es seine neue Umgebung erkunden und all die großartigen neuen Möglichkeiten entdecken, die diese Umgebung bietet.

Warum wird diese Vorgehensweise nicht bei menschlichen Kindern beibehalten? Warum vergessen wir so leicht, wie wichtig es ist, den Eintritt in das neue Leben außerhalb des Mutterleibs möglichst positiv zu gestalten? Wie kommen wir darauf, dass ein frisch entbundenes menschliches Kind weniger Zuwendung braucht als ein frisch geborenes Tier? Bei der Geburt muss die Beziehung zwischen Mutter und Kind so gut wie möglich geschützt werden. Diese Beziehung hat sowohl eine biologische als auch eine psychologische Dimension und ist für beide Beteiligten von allergrößter Bedeutung. Nur durch diese Beziehung kann aus der Trennung, die bei der Geburt stattfindet, eine neue Bindung entstehen, in der, wenn auch auf andere Weise, die für die Zeit der Schwangerschaft prägende Lebenseinheit fortgeführt wird. Diese neue Bindung ist leicht zu knüpfen, wenn fehlgeleitete Eingriffe von außen vermieden werden. Die Mutter sehnt sich danach, ihr Kind endlich zu sehen, es zu berühren und in den Armen zu halten,...

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