Die durch die PISA-Studie entstandenen Diskussionen rund um das Schulsystem zeigen, dass Reformen unabdingbar geworden sind. Doch zielt Kritik nicht allein auf die Schule, sondern Forderungen nach einem konkreten Bildungsauftrag der Kindergärten kommen auf. Gleichzeitig entstehen Bedenken dahingehend, dass mit einer Reform des Kindergartenbetriebs schulische Inhalte vorverlegt werden, und der Bildungsauftrag des Kindergartens zu hoch bewertet wird. Vor allem die Vorstellung, dass Kinder im Vorschulalter bereits mit dem nach allgemeiner Auffassung besonders anspruchsvollen und schwierigen Fach Mathematik „belastet“ werden sollen, löst eher Missfallen aus.
Gerhard Preiß hat es sich bereits vor Veröffentlichung der Ergebnisse der PISA-Studie zur Aufgabe gemacht, ein mathematisches Konzept für den Kindergarten zu entwickeln. Der Titel „Entdeckungen im Zahlenland“ verdeutlicht bereits die beiden Grundsätze, auf denen das Konzept basiert und die erkennen lassen, wie dieses anspruchsvolle Fach für Vorschulkinder aufbereitet werden soll:
1. „Der natürliche Entdeckungsdrang und die lebendige Neugier eines Kindes.“[7]
2. „Die Gestaltung der abstrakten mathematischen Welt als ein den Sinnen zugängliches ‚Zahlenland’.“[8]
Diese beiden Grundsätze verstehen sich als die „Säulen des Projekts“[9].
Die Neugier wird als von der Natur gegeben betrachtet und richtet sich daher auf alles, was neu und unbekannt ist. Dies führt zu einem Entdeckungsdrang, den sich das Projekt[10] zu Nutze macht. Es baut erste Erfahrungen mit Zahlen in interessante und fröhliche Spielsituationen ein und will Misserfolge, die zu Demotivationen führen, vermeiden. Spiellust, Erkundungsdrang und Nachahmen – typische Eigenschaften von Kindern – sind für die „Entdeckungen im Zahlenland“ von großer Bedeutung.
Punkt 2 soll zum Ausdruck bringen, dass die Welt der Mathematik sehr abstrakt ist und daher ein besonderes methodisches Vorgehen benötigt, welches sich an der Lebens- und Erfahrungswelt der Kinder orientiert. Die Veranschaulichung der Zahlenwelt findet über die drei Handlungs- und Erfahrungsbereiche Zahlenhaus, Zahlenland und Zahlenweg statt, die im weiteren Verlauf dieses Kapitels vorgestellt werden. Entscheidend ist, den Kindern die Angst vor der Mathematik zu nehmen und ihnen einen positiven und aufbauenden Umgang mit Zahlen zu ermöglichen.
Ziel des Projekts ist,
„Kindern zu einer breiten und nachhaltigen Grundlage für das Verständnis von Mathematik zu verhelfen. [...] [Es] soll eine Basis geschaffen werden, auf der sich die unterschiedlichen mathematischen Begabungen der Kinder entfalten können.“[11]
Preiß begründet seine Auffassung zur Bedeutung einer elementar-pädagogischen mathematischen Bildung anhand der folgenden Punkte[12]:
1. Gerade im Vorschulalter ist das Gehirn in besonderer Weise formbar. Es werden Anlagen ausgebildet, die den Entwicklungsprozess lebenslang positiv beeinflussen.
2. Die moderne Welt braucht eine mathematisch gebildete Generation, die verantwortungsvoll in die Zukunft blickt.
3. Zum Lernen von Mathematik wird eine anregend gestaltete, spielerisch erfahrbare Lernumwelt benötigt.
4. Das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein von mathematischer Denkfähigkeit darf nicht länger auf Veranlagung zurück geführt werden. Verständnis für Mathematik entwickelt sich am besten durch Üben und Erkunden.
5. Mathematische Früherziehung ermöglicht die Zunahme von Spitzenbegabungen.
6. Durch fröhliche Spielsituationen soll der Angst vor Mathematik vorgebeugt werden und der Umgang mit Zahlen erleichtert werden.
7. Die mathematische Frühförderung verhilft zu einer positiven Entwicklung aller Kräfte des Gehirns.
Preiß’ Arbeit basiert auf einer neurodidaktischen Sichtweise, die sich aus den gemeinsamen Erkenntnissen von Mathematikdidaktik und Hirnforschung etabliert hat. Diese sieht nicht den Lernstoff im Mittelpunkt der Vermittlung von Wissen, sondern das Kind als Individuum mit eigenen Interessen und Fähigkeiten.[13] Der zentrale Aspekt der Neurodidaktik lautet: Werden komplexe Zusammenhänge bunt und alltagsnah vermittelt, so können sie von Kindern bereits früh verstanden werden.[14]
Die Mathematikdidaktik unterscheidet verschiedene Verwendungsarten der Zahlen[15]. Um zu verstehen, wie Kinder durch Wahrnehmung, durch Denkprozesse und im Handeln einen Zahlbegriff aufbauen, muss Kenntnis über die vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten der Zahlen vorausgesetzt werden:
1. Zahlen als Codierungsmittel dienen als Unterscheidungskriterium z.B. in Form von Postleitzahlen oder Telefonnummern.
2. Die Kardinalzahl gibt die Anzahl der Elemente einer Menge an, z.B. 3 Bananen.
3. Die Ordinalzahl gibt Antwort auf die Frage nach dem Rangplatz eines Elements in einer Menge, z.B. das dritte Haus.
4. Zahlen als Operatoren machen Aussagen über die Häufigkeit, z.B. dreimal, das Dreifache.
5. Zahlen als Maßeinheit geben Größen bzw. das Verhältnis zu einer Einheit an, z.B. 30 cm, 50 Cent, 80 kg.
6. Zahlen zum Rechnen, z.B. in Form von 6+2=8, 15:3=5.
7. Zahlen in geometrischen Zusammenhängen findet man z.B. bei den Formen Dreieck, Viereck, Würfel.
8. Zahlen in narrativen Zusammenhängen besitzen eine symbolische Bedeutung z.B. drei Wünsche im Märchen, Dreifaltigkeit in der christlichen Religion.
Die Verwendungsarten 1 bis 6 werden als Standard in der Mathematikdidaktik gesehen. Der geometrische und der narrative Aspekt wurden von Preiß ergänzt. In seinem Projekt „Entdeckungen im Zahlenland“ legt er auf diese beiden Verwendungsarten den Schwerpunkt.
Als grundsätzlich wichtige Eigenschaft im Umgang mit Zahlen sieht Preiß die Freundlichkeit. Dies wird in seinen Ausführungen immer wieder deutlich und steht daher auch als Motto über dem Gesamtkapitel. Eine freundliche Begrüßung und Verabschiedung der Zahlen sind wesentliche Bestandteile einer Lerneinheit in der Zahlenschule. Für das spielerische Kennenlernen der Zahlen in einer Lerneinheit hat er drei Erfahrungs- und Handlungsfelder[16] entworfen, die im Folgenden vorgestellt werden:
1. Das Zahlenhaus
Für die Dauer einer Lerneinheit wird der Raum, in dem die Zahlenschule stattfindet, zu einem sogenannten Zahlenhaus. Jede einzelne Zahl besitzt im Zahlenhaus eine Wohnung, die mit passenden Möbeln ausgestattet wird. Die Zahlen werden von Kindern gespielt, die für die Dauer einer Lerneinheit ein Stirnband mit der jeweiligen Zahl tragen. Die Möblierung der Wohnungen richtet sich nach der Zahl, die dort lebt. So hat z.B. die Eins einen Zahlentisch mit dem Würfelpunktebild der 1 und eine Wohnungsnummer in Form einer Holzfahne, die die Ziffer 1 trägt.
[17]
Außerdem wird die Wohnung mit verschiedenen Einrichtungsgegenständen wie Bällen, Steinen oder Nüssen ausgestattet. Bei der Möblierung hilft ein weiteres Kind, das die entsprechende Anzahl der Gegenstände zur Zahl bringt.
Der wesentliche Aspekt im Zahlenhaus ist die simultane Erfassung der Zahlen. Der Blick für die Zahlen soll gezielt trainiert werden und das Abzählen soll weitestgehend vermieden werden.
Weitere Aspekte, die im Zahlenhaus von Bedeutung sind:
Das Kind steht im Mittelpunkt: Von der Mitte des Zahlenhauses gehen viele Aktivitäten aus. Das Kind wendet sich mit seinen Interessen und Begabungen vollständig den Zahlen zu.
Der geometrische Aspekt: Durch verschiedene ebene und räumliche Figuren wird dieser Aspekt besonders geschult. Dadurch entwickeln die Kinder flexible Bilder von Zahlen. Auf dem folgenden Bild sind die Zahlengärtchen dargestellt. Diese dienen auch als Möbel für die Wohnungen und werden, nachdem sie mit der entsprechenden Anzahl an Perlen bestückt worden sind, der jeweiligen Wohnung zugeordnet.
[18]
Festgelegte Wohnungen der Zahlen: Dadurch, dass die Zahlen an festen Orten wohnen, erlangen die Kinder Sicherheit und Vertrautheit im Umgang mit ihnen. So können sie „einen dynamischen und vernetzten Zahlbegriff“[19] aufbauen.
Das Bild zeigt die Anordnung der Zahlen 1 bis 5 im Zahlenhaus und den Standort (Stern) bei der Begrüßung oder der Verabschiedung der Zahlen[20]
2. Der Zahlenweg
Das Bewegen auf dem Zahlenweg ermöglicht den...