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Das Leben in 90 Minuten

Eine Philosophie des Fußballs

AutorGünter Gebauer
VerlagPantheon
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783641147969
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Die Wahrheit liegt auf dem Platz
Warum darf man im Fußball die Hände nicht benutzen und muss mit dem schwächeren Körperteil, den Füßen, kommunizieren? Wie kommt es zu dem blinden Verständnis, das das Spiel der Topmannschaften prägt? Warum kann schon der kleinste Fehler ein Spiel drehen? Und wenn man auf die Ränge schaut: Wie kommt es, dass sich wildfremde Menschen in den Armen liegen und den Sieg ihrer Mannschaft feiern? Der Philosoph und Sportdenker Gunter Gebauer entwickelt mit großer Lust am Spiel eine Philosophie des Fußballs, die uns das Geschehen auf dem Platz und drum herum nicht besser, aber anders verstehen lässt.

'Man sollte den Fußball so ernst nehmen wie möglich. Aber auch nicht ernster.' Dieses Zitat von Albert Einstein, leicht abgewandelt, ist für Gunter Gebauer Geleit, den Fußball selbst als eine Art philosophisches Denken zu betrachten. Schließlich handeln die einzelnen Spieler aus individuellen Absichten, erzeugen dabei aber eine tiefere Bedeutung des Spiels insgesamt, die keiner von ihnen beabsichtigt hat. Gegen die traditionelle Auffassung von Philosophie setzt Gebauer eine Philosophie des Körpers und der Praxis, eine Philosophie des praktischen Handelns. Im Kern stehen dabei die Fragen, was der Fußball für unser Mensch-Sein und im Speziellen für uns Deutsche bedeutet. Ein Buch nicht nur über den Sport und das Spiel, sondern gleichermaßen ein Buch über unser Denken und Handeln.

Gunter Gebauer, 1944 in Timmendorfer Strand geboren, ist einer der profiliertesten Philosophen Deutschlands, im TV und in den Tageszeitungen wird er regelmäßig zu den wichtigen Themen befragt. Seit 1978 hält er den Lehrstuhl für Philosophie und Sportsoziologie an der Freien Universität Berlin inne, 1993 wurde er Sprecher des Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, zuletzt bei Pantheon »Das Leben in 90 Minuten. Eine Philosophie des Fußballs' (2016).

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Leseprobe

Die Sprache der Philosophie ist schon eine gleichsam durch zu enge Schuhe deformierte.

LUDWIG WITTGENSTEIN

Prolog: Fußball und Philosophie, ein ungleiches Paar?

Vor dem Spiel. Die Spieler sitzen in der Kabine auf den Bänken, konzentrieren sich mit halb geschlossenen Augen auf ihre Gegner; sie hören die Gesänge, Sprechchöre, Slogans der Fans. In den Kurven bereiten diese sich auf ein wildes Fest vor. Die Spannung, die die Stimmung in der Arena steigen lässt, ist bis in die Kabine zu spüren. Auf die Aufforderung des Schiedsrichters hin bewegen sich die Spieler durch den Gang, der zum Stadion führt. Das Geräusch der Stollen unter ihren Schuhen klingt wie das Scharren von Pferdehufen. Sie warten stehend, bevor das Zeichen zum Einlaufen kommt – ein kurzer Augenblick der mentalen Vorbereitung, der Konzentration, des Unterdrückens von Angst. Die Muskeln spannen sich unter der Haut; es ist, als könnten sie es nicht erwarten, ihre Arbeit zu beginnen. Mit seinen Emotionen ist jeder allein. Jeder hat aber einen bestimmten Platz in der Mannschaft, eine Aufgabe, die jetzt auf ihn zukommt und die er zu lösen hat. Wehe, wenn er in der Arena vor Aufregung versagt, wenn er gleich zu Beginn einen Fehlpass spielt oder sich vom Gegenspieler täuschen lässt. Ein schnelles Tor gleich zu Beginn kann den besten Plan, die beste Vorbereitung zum Scheitern bringen, wie im Rückspiel des Achtelfinales der Champions League 2015, als die Dortmunder Abwehr ausgerechnet Tévez, den besten Turiner Spieler, frei zum Schuss kommen ließ: Das 1:0 in der 3. Minute war schon die Entscheidung über das Dortmunder Schicksal. Niemals würde die Mannschaft diesen Rückstand wiedergutmachen können. Ausgeschieden durch ein schnelles Tor, abgeschlagen in der Bundesliga – für die Zukunft war ein bitteres Schicksal zu erwarten.

Im vollen Stadion werden die Zuschauer unwillkürlich von Erregung ergriffen. Sie kommt aus der Tiefe des Körpers, der sie nicht länger in seinem Inneren komprimieren kann – wie im Konzertsaal, wo man die Luft anhält und das Husten unterdrückt. Im Stadion würde der Brustkorb zerspringen – die Spannung wird herausgerufen, -geschrien, -gesungen. Die wichtigsten Orte im Stadion sind die Fankurven. Hier befindet sich das Triebwerk der Begeisterung; die Fans schieben die Stimmung des ganzen Stadions an und bringen sie während des Spiels immer wieder in die Höhe. Das gewöhnliche Publikum spürt ihre Impulse als Resonanz im eigenen Körper. Sie ist eine gemeinsam geteilte Emotion: Man fühlt wie die anderen, reagiert auf ihre Erregung, und ist doch ganz bei sich. Es entsteht eine Gemeinschaft zwischen Menschen, die sich kaum kennen und vielleicht nie wiedersehen. Dennoch ist sie kein flüchtiges Ereignis. Manchmal erinnert man sich an einen großen Moment im Stadion, wenn man Jahrzehnte später jemanden kennenlernt, der damals zufällig dabei war: »Waren Sie 1963 auch im Stadion, als Holstein Kiel in den letzten Minuten des Spiels aus einer 2:0-Führung von Hildesheim noch ein Unentschieden machte?« – »Ja, klar, ich war aber schon frustriert gegangen; auf dem Nachhauseweg hab ich die Menge gehört, wie sie zwei Mal brüllte.« (Eine wahre Geschichte.)

Jubelnde Fans – so fern und doch so nah

Alle schauen auf die Öffnung in der Mitte der Haupttribüne: Wenn die Spieler aus dem Kabinengang hervortreten, sich langsam zu einer Reihe formieren und dann mit einem Schwung auf die hell erleuchtete Rasenfläche laufen, bricht die Begeisterung aus den Zuschauern heraus: »Ihre« Spieler sind da; man sucht seine Idole mit den Augen in der Reihe der einlaufenden Mannschaft.

In den Stadien erlebt man Momente der Begeisterung, die an den Jubel von gerade befreiten Gefangenen in Sandalenfilmen erinnern. Im Fußball wird die Befreiung nicht inszeniert; sie wird mit allen Sinnen erfahren. In den großen Arenen werden gemeinschaftliche Emotionen ausgelebt, die an Religion denken lassen. Sie seien die »Kathedralen der Moderne«, behaupten die Architekten Jacques Herzog und Volkwin Marg unabhängig voneinander, beide Konstrukteure bedeutender Stadien. Ist dies eine richtige Einschätzung oder eine berufstypische Übertreibung von Architekten, die mit gewaltigen Mitteln weltweit Bühnen für die Machtentfaltung von Staaten und Potentaten errichten? In den Stadien ereignet sich ein Mitfühlen der Anhänger, aber nur mit »ihrer« Mannschaft. Von dieser großen Welle der Empathie wird nur die eine Hälfte der Zuschauer erfasst; die andere wehrt sie energisch ab und lässt ihrerseits eine Gegenwelle entstehen. Die Anhänger einer Gruppe werden sich emotional ähnlich; die gegnerischen Fanblöcke überbieten einander mit Jubel für die eigene und Schmähungen der anderen Mannschaft. Im Gegeneinander der beiden Gruppen entwickelt sich ein bewegteres Leben als in den Kirchen unserer Tage. Bei hohen kirchlichen Ereignissen übernehmen die Gläubigen sogar Formen der Verehrung aus den Fußballarenen: Nach der Wahl des Deutschen Joseph Ratzinger zum Papst skandierten die deutschen Fans »Bene-detto, Bene-detto«, als wäre der Nachfolger Petrus’ als Bischof von Rom ein Fußballstar – sehr zum Leidwesen des Bejubelten. In ihrer Parteilichkeit sind die Anhänger einer Mannschaft hemmungslos ungerecht. Von ihnen geht jedoch eine stabile, verlässliche Kraft aus, ohne die es keine Helden und großen Momente des Fußballspiels geben würde. Sie sind kein Vorbild ethischen Verhaltens; sie wollen unterstützen, indem sie mit ihrem Geschrei die Moral der eigenen Leute stärken und die der Gegner zerstören. Von »ihrer« Mannschaft verlangen sie Haltung. Wenn diese ihre Ehre verteidigt hat, verzeihen sie ihr jede Niederlage und trauern mit ihr. Vom Spiel auf dem Rasen werden unmittelbare Reaktionen der Zuschauer hervorgerufen. Ihre Wahrnehmung des Spielgeschehens ist zugleich eine Deutung und Wertung der Aktionen: Sie sehen, dass der Gegner Hand gemacht, ein Foul begangen hat, dass er im Abseits steht, dass ein Tor erzielt wurde. Die Unmittelbarkeit zeigt sich im gemeinsamen Triumph des Siegs und im kollektiven Leid einer Niederlage. Der Ausgang des Spiels wird von den Zuschauern als körperlicher Zustand erlebt – als Hochgefühl der Freude oder als totaler Spannungsabfall, der die Muskeln und die Lebenskraft erschlaffen lässt. Eine Straßenbahn voller Fans einer Mannschaft, die gerade aus der Bundesliga abgestiegen ist, fährt wie ein Leichenzug durch die Stadt.

Im Stadion lebt man in der absoluten Gegenwart. Dies scheint ein Anachronismus zu sein in einer Zeit, in der sich gemeinsame Präsenz in inselhafte Räume von Individuen auflöst, die telefonieren, ihre Mails checken oder permanent Nachrichten empfangen. In der Hochspannung eines Spiels geschieht das Unerwartete: dass die Anwesenden im gegenwärtigen Moment eingeschlossen sind. In solchen Augenblicken gibt es nichts anderes als diese eine Zeit und diesen einen Ort, wo – vielleicht – ein Tor fällt. Was in der Welt außerhalb des Spiels geschieht, und sei es noch so wichtig – Geburt eines Kindes, Tod eines Verwandten, Lottogewinn, Abschleppen des Autos –, erreicht den hartgesottenen Fan während des Spiels nicht. Der entsprechende Aufruf des Stadionsprechers, den falsch geparkten Wagen wegzufahren, wird souverän ignoriert.

Es wäre deutlich übertrieben, die Innenwelt des Fußballs als eine sympathische zu beschreiben. Vor solchen faszinierenden Spielen hat die Philosophie immer gewarnt: Im Geist des Spielers ist alles weggewischt, was nicht das Spiel ist. Alle Erinnerung an das Dasein außerhalb des Spiels ist ausgehängt. Die Zukunft jenseits des aktuellen Spielgeschehens verliert ihre Denkmöglichkeit, damit auch ihre Wirkung auf die Gegenwart. Die Spieler erfahren eine reine Präsenz.1 Der Philosophie ist die Gedankenlosigkeit dieser Haltung suspekt: Wer im Spiel versunken ist, hat kein Bewusstsein von dem, was um das Spiel herum geschieht; er oder sie ist unfähig, das Handeln im Spiel von außen zu beurteilen. Es gibt zwar eine Erinnerung an vergangene Spiele, Tore, Szenen usw.; diese ist sogar deutlich hypertrophiert. Die soziale Zeit hingegen, die Zeit der Politik, der gesellschaftlichen Ereignisse, Gesetze und Verpflichtungen, ist aus dem Spiel ausgeschlossen.

Wer ausschließlich in der Unmittelbarkeit des Spiels lebt, fühlt selten eine ethische Verantwortung für das eigene Handeln. Was im Spiel geschieht, hat in seinen Augen nur Folgen im Spiel: Die Verletzung eines Gegenspielers wird mit einem Strafstoß, aber nicht juristisch geahndet und nur in Fällen brutaler Gewalt moralisch verurteilt. Ohne Bezug auf die geltenden moralischen Normen nutzt der Spieler alle Möglichkeiten, die ihm eine zufällige Spielkonstellation zuschanzt. Was mag der Gedankenkontext von Thierry Henry gewesen sein, nachdem er mit einem klaren Handspiel der französischen Nationalmannschaft den Weg zur Fußball-WM in Südafrika 2010 geöffnet hatte? Der Schiedsrichter hat mein Handspiel sicher nicht gesehen; er bestimmt, was im Spiel geschieht und was nicht wirklich ist – also existiert es auch nicht, also zählt mein Tor. In der Unmittelbarkeit des Spiels tritt der ethische Hintergrund des Handelns nicht ins Bewusstsein. Er liegt jenseits des Augenblicks. Selbst bei einem ansonsten vorbildlichen Spieler wie Thierry Henry kommen die Bedenken erst nach dem Spiel. Wer sich eine solche Amnesie, als Spieler oder als Präsident eines Clubs, angeeignet hat und sich von diesem Gedächtnisverlust habituell bestimmen lässt, riskiert es auch, sie in anderen ernsten Spielen einzusetzen. Erst wenn ein Richter ihn mit dem rechtlichen und ethischen Hintergrund seines Handelns konfrontiert, wird er aus seinem Spiel...

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