Sie sind hier
E-Book

Das Naturbild der heutigen Physik

AutorWerner Heisenberg
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl150 Seiten
ISBN9783688116898
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
? Das Naturbild der heutigen Physik ? Atomphysik und Kausalgesetz ? Über das Verhältnis von humanistischer Bildung, Naturwissenschaft und Abendland ? Historische Quellen Die Ansätze der neuzeitlichen Naturwissenschaften / Die Entstehung des mechanistischen und materialistischen Weltbildes / Die Krisis der mechanistisch-materialistischen Auffassung ? Enzyklopädisches Stichwort: Natur ? Literaturhinweise ? Namen- und Sachregister

Werner Heisenberg (1901-1976) war ein deutscher Wissenschaftler und Nobelpreisträger. Er zählt zu den bedeutendsten Physikern des 20. Jahrhunderts.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

1. Das Problem der Natur


Veränderungen in der Stellung des Forschers zur Natur


Wenden wir zunächst den Blick zurück zu den geschichtlichen Wurzeln der neuzeitlichen Naturwissenschaft. Als diese Wissenschaft im 17. Jahrhundert durch KEPLER, GALILEI und NEWTON begründet wurde, stand am Anfang noch das mittelalterliche Naturbild, das in der Natur zunächst das von Gott Erschaffene erblickt. Die Natur wurde als das Werk Gottes gedacht, und es wäre den Menschen jener Zeit sinnlos erschienen, nach der materiellen Welt unabhängig von Gott zu fragen. Als ein Dokument jener Zeit möchte ich die Worte zitieren, mit denen KEPLER den letzten Band seiner ‹kosmischen Harmonie› abgeschlossen hat: ‹Dir sage ich Dank, Herrgott, unser Schöpfer, daß Du mich die Schönheit schauen läßt in Deinem Schöpfungswerk, und mit den Werken Deiner Hände frohlocke ich. Siehe, hier habe ich das Werk vollendet, zu dem ich mich berufen fühlte; ich habe mit dem Talent gewuchert, das Du mir gegeben hast; ich habe die Herrlichkeit Deiner Werke den Menschen verkündet, welche diese Beweisgänge lesen werden, soviel ich in der Beschränktheit meines Geistes davon fassen konnte.›

Aber schon in dem Lauf weniger Jahrzehnte hat sich dann die Stellung der Menschen zur Natur grundsätzlich geändert. In dem Maß, in dem der Forscher sich in die Einzelheiten der Naturvorgänge vertiefte, erkannte er, daß man in der Tat, wie GALILEI es begonnen hatte, einzelne Naturvorgänge aus dem Zusammenhang herauslösen, mathematisch beschreiben und damit ‹erklären› kann. Dabei wurde ihm allerdings auch deutlich, welche unendliche Aufgabe der beginnenden Naturwissenschaft hierdurch gestellt wird. Schon für NEWTON war daher die Welt nicht mehr einfach das nur im Ganzen zu verstehende Werk Gottes. Seine Stellung zur Natur wird am deutlichsten umschrieben durch seinen bekannten Ausspruch, daß er sich vorkomme wie ein Kind, das am Meeresstrand spielt und sich freut, wenn es dann und wann einen glatteren Kiesel oder eine schönere Muschel als gewöhnlich findet, während der große Ozean der Wahrheit unerforscht vor ihm liegt. Man kann diese Veränderung in der Stellung des Forschers zur Natur vielleicht dadurch verständlich machen, daß in der Entwicklung des christlichen Denkens in jener Epoche Gott so hoch über die Erde in den Himmel entrückt schien, daß es sinnvoll wurde, die Erde auch unabhängig von Gott zu betrachten. Insofern mag es sogar berechtigt sein, bei der neuzeitlichen Naturwissenschaft – wie es bei KAMLAH anklingt – von einer spezifisch christlichen Form der Gottlosigkeit zu sprechen und damit verständlich zu machen, warum sich eine entsprechende Entwicklung in anderen Kulturkreisen nicht vollzogen hat. Es ist daher wohl auch kein Zufall, daß eben um jene Zeit in der bildenden Kunst die Natur für sich Gegenstand der Darstellung wird, unabhängig vom religiösen Thema. Für die Naturwissenschaft entspricht es auch ganz dieser Tendenz, wenn die Natur nicht nur unabhängig von Gott, sondern auch unabhängig vom Menschen betrachtet wird, so daß sich das Ideal einer ‹objektiven› Naturbeschreibung oder Naturerklärung bildet. Immerhin muß hervorgehoben werden, daß auch für NEWTON die Muschel deswegen wichtig ist, weil sie aus dem großen Ozean der Wahrheit stammt, ihre Betrachtung ist noch nicht Selbstzweck, sondern ihr Studium erhält seinen Sinn durch den Zusammenhang des Ganzen.

Die Folgezeit hat die Methode der Newtonschen Mechanik auf immer weitere Bereiche der Natur erfolgreich angewandt. Sie hat versucht, Einzelheiten im Naturgeschehen durch Experimente herauszuschälen, objektiv zu beobachten und in ihrer Gesetzmäßigkeit zu verstehen; sie hat danach gestrebt, die Zusammenhänge mathematisch zu formulieren und damit zu ‹Gesetzen› zu kommen, die im ganzen Kosmos uneingeschränkt gelten, und es ist ihr schließlich dadurch möglich geworden, die Kräfte der Natur in der Technik unseren Zwecken dienstbar zu machen. Die großartige Entwicklung der Mechanik im 18., der Optik, der Wärmetechnik und Wärmelehre im beginnenden 19. Jahrhundert legt Zeugnis ab von der Kraft dieses Ansatzes.

Wandlungen in der Bedeutung des Wortes ‹Natur›


In dem Maße, in dem solche Art der Naturwissenschaft erfolgreich war, erweiterte sie sich auch über den Bereich der täglichen Erfahrung hinaus in entlegene Gebiete der Natur, die erst durch die im Zusammenhang mit der Naturwissenschaft sich entwickelnde Technik erschlossen werden konnten. Auch bei NEWTON war der entscheidende Schritt die Erkenntnis gewesen, daß die Gesetze der Mechanik, die das Fallen eines Steins beherrschen, auch die Bewegungen des Mondes um die Erde bestimmen, daß sie also auch in kosmischen Dimensionen angewendet werden können. In der Folgezeit trat die Naturwissenschaft dann in breiter Form ihren Siegeszug an in diese entlegenen Bereiche der Natur, von denen wir nur auf dem Umweg über die Technik, d.h. über mehr oder weniger komplizierte Apparate, Kunde erlangen können. Die Astronomie bemächtigte sich durch die verbesserten Fernrohre immer weiterer kosmischer Räume, die Chemie versuchte aus dem Verhalten der Stoffe bei chemischen Umsetzungen die Vorgänge in atomaren Dimensionen zu erschließen, Experimente mit der Induktionsmaschine und der Voltaschen Säule gaben den ersten Einblick in die dem täglichen Leben jener Zeit noch verborgenen elektrischen Erscheinungen. So verwandelte sich allmählich die Bedeutung des Wortes ‹Natur› als Forschungsgegenstand der Naturwissenschaft; es wurde zu einem Sammelbegriff für alle jene Erfahrungsbereiche, in die der Mensch mit den Mitteln der Naturwissenschaft und Technik eindringen kann, unabhängig davon, ob sie ihm in der unmittelbaren Erfahrung als ‹Natur› gegeben sind. Auch das Wort Natur-‹Beschreibung› verlor mehr und mehr seine ursprüngliche Bedeutung als Darstellung, die ein möglichst lebendiges, sinnfälliges Bild der Natur vermitteln sollte; vielmehr wurde in steigendem Maße die mathematische Beschreibung der Natur gemeint, d.h. eine möglichst präzise, kurze, aber umfassende Sammlung von Informationen über die gesetzmäßigen Zusammenhänge in der Natur.

Die Erweiterung des Naturbegriffs, die mit dieser Entwicklung halb unbewußt vollzogen wurde, brauchte auch noch nicht als ein grundsätzliches Abgehen von den ursprünglichen Zielen der Naturwissenschaft aufgefaßt zu werden; denn die entscheidenden Grundbegriffe waren für die erweiterte Erfahrung noch die gleichen wie für die natürliche Erfahrung, die Natur erschien dem 19. Jahrhundert als ein gesetzmäßiger Ablauf in Raum und Zeit, bei dessen Beschreibung vom Menschen und seinem Eingriff in die Natur wenn nicht praktisch, so doch grundsätzlich abgesehen werden kann.

Als das Bleibende im Wandel der Erscheinungen wurde dabei die in ihrer Masse unveränderliche Materie betrachtet, die durch Kräfte bewegt werden kann. Da die chemischen Erfahrungen seit dem 18. Jahrhundert durch die aus dem Altertum übernommene Atomhypothese erfolgreich geordnet und gedeutet wurden, lag es nahe, im Sinne der antiken Naturphilosophie die Atome als das eigentlich Seiende, als die unveränderlichen Bausteine der Materie anzusehen. Wie schon in der Philosophie des DEMOKRIT erschienen damit die sinnlichen Qualitäten der Materie als Schein; Geruch oder Farbe, Temperatur oder Zähigkeit waren nicht eigentlich Eigenschaften der Materie, sondern entstanden als Wechselwirkungen zwischen der Materie und unseren Sinnen und mußten durch die Anordnung und Bewegung der Atome und durch die Wirkung dieser Anordnung auf unsere Sinne erklärt werden. So ergab sich das allzu einfache Weltbild des Materialismus des 19. Jahrhunderts: Die Atome als das eigentlich unveränderlich Seiende bewegen sich im Raum in der Zeit, und durch ihre gegenseitige Anordnung und Bewegung rufen sie die bunten Erscheinungen unserer Sinnenwelt hervor.

Die Krisis der materialistischen Auffassung


Ein erster, wenn auch noch nicht allzu gefährlicher Einbruch in dieses Weltbild geschah in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts durch die Entwicklung der Elektrizitätslehre, in der nicht die Materie, sondern das Kraftfeld als das eigentlich Wirkliche gelten mußte. Ein Wechselspiel zwischen Kraftfeldern ohne eine Substanz als Träger der Kräfte war weniger leicht verständlich als die materialistische Realitätsvorstellung der Atomphysik und brachte ein Element von Abstraktheit und Unanschaulichkeit in das sonst scheinbar so einleuchtende Weltbild. Daher hat es nicht an Versuchen gefehlt, auf dem Umweg über einen materiellen Äther, der diese Kraftfelder als elastische Verspannung tragen sollte, wieder zu dem einfachen Materiebegriff der materialistischen Philosophie zurückzukehren; jedoch hatten solche Versuche keinen rechten Erfolg. Immerhin konnte man sich damit trösten, daß auch die Veränderungen der Kraftfelder als Vorgänge in Raum und Zeit gelten konnten, die sich ganz objektiv, d.h. ohne Bezugnahme auf die Art ihrer Beobachtung, beschreiben lassen und die daher dem allgemein akzeptierten Idealbild eines gesetzmäßigen Ablaufs in Raum und Zeit entsprachen. Man konnte ferner die Kraftfelder, die ja nur in ihrer Wechselwirkung mit den Atomen beobachtet werden konnten, als von den Atomen hervorgerufen auffassen und sie gewissermaßen nur zur Erklärung der Bewegung der Atome benutzen. Insofern blieben dann also doch die Atome das eigentlich Seiende, zwischen ihnen der leere Raum, der höchstens als Träger der Kraftfelder und der Geometrie eine gewisse Art von Wirklichkeit...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Physik - Biophysik - Bionik

Grenzschicht-Theorie

E-Book Grenzschicht-Theorie
Format: PDF

Die Überarbeitung für die 10. deutschsprachige Auflage von Hermann Schlichtings Standardwerk wurde wiederum von Klaus Gersten geleitet, der schon die umfassende Neuformulierung der 9. Auflage…

Grenzschicht-Theorie

E-Book Grenzschicht-Theorie
Format: PDF

Die Überarbeitung für die 10. deutschsprachige Auflage von Hermann Schlichtings Standardwerk wurde wiederum von Klaus Gersten geleitet, der schon die umfassende Neuformulierung der 9. Auflage…

Grenzschicht-Theorie

E-Book Grenzschicht-Theorie
Format: PDF

Die Überarbeitung für die 10. deutschsprachige Auflage von Hermann Schlichtings Standardwerk wurde wiederum von Klaus Gersten geleitet, der schon die umfassende Neuformulierung der 9. Auflage…

Grenzschicht-Theorie

E-Book Grenzschicht-Theorie
Format: PDF

Die Überarbeitung für die 10. deutschsprachige Auflage von Hermann Schlichtings Standardwerk wurde wiederum von Klaus Gersten geleitet, der schon die umfassende Neuformulierung der 9. Auflage…

Strömungsmesstechnik

E-Book Strömungsmesstechnik
Format: PDF

Das Buch bietet einen komprimierten Überblick über die etablierten Strömungsmesstechniken einschließlich der neuen Entwicklungen auf dem Gebiet der bildgebenden Messverfahren. Im Vordergrund stehen…

Strömungsmesstechnik

E-Book Strömungsmesstechnik
Format: PDF

Das Buch bietet einen komprimierten Überblick über die etablierten Strömungsmesstechniken einschließlich der neuen Entwicklungen auf dem Gebiet der bildgebenden Messverfahren. Im Vordergrund stehen…

Weitere Zeitschriften

ARCH+.

ARCH+.

ARCH+ ist eine unabhängige, konzeptuelle Zeitschrift für Architektur und Urbanismus. Der Name ist zugleich Programm: mehr als Architektur. Jedes vierteljährlich erscheinende Heft beleuchtet ...

Computerwoche

Computerwoche

Die COMPUTERWOCHE berichtet schnell und detailliert über alle Belange der Informations- und Kommunikationstechnik in Unternehmen – über Trends, neue Technologien, Produkte und Märkte. IT-Manager ...

Das Hauseigentum

Das Hauseigentum

Das Hauseigentum. Organ des Landesverbandes Haus & Grund Brandenburg. Speziell für die neuen Bundesländer, mit regionalem Schwerpunkt Brandenburg. Systematische Grundlagenvermittlung, viele ...

DSD Der Sicherheitsdienst

DSD Der Sicherheitsdienst

Der "DSD – Der Sicherheitsdienst" ist das Magazin der Sicherheitswirtschaft. Es erscheint viermal jährlich und mit einer Auflage von 11.000 Exemplaren. Der DSD informiert über aktuelle Themen ...

rfe-Elektrohändler

rfe-Elektrohändler

rfe-Elektrohändler ist die Fachzeitschrift für die CE- und Hausgeräte-Branche. Wichtige Themen sind: Aktuelle Entwicklungen in beiden Branchen, Waren- und Verkaufskunde, Reportagen über ...