„Wir leben in einer ernsten Zeit. Die Daseinsbedingungen und die Lebensgewohnheiten der Menschen haben sich im letzten Jahrhundert ganz allmählich, aber konstant, und zwar meist zuungunsten der Gesundheit verschoben. Das atemlose Jagen nach Besitz, nervöse Arbeitshast und Streben, der kräftige Wettbewerb auf allen Gebieten bedingen Kraftanspannungen, wie sie in früheren Jahrhunderten ganz und gar unbekannt waren. “[30]
Die Ausführungen in den drei folgenden Abschnitten beschreiben Entstehungsbedingungen des Hygiene-Museums. Die geraffte Darstellung des deutschen Hygienediskurses bildet den Referenzrahmen für die Geschichte des DHMD. Der Facettenreichtum der Hygienebewegung würde es erlauben von ganz verschiedenen Seiten zu beginnen. Umso nahe liegender ist es mit den die Hygiene begründenden Entdeckungen der naturwissenschaftlichen Medizin im 19. Jahrhundert zu beginnen. Darauf aufbauend wird die Hygienebewegung in ihren Grundzügen geschildert.
In der Einleitung zu dem Sammelband Jahrhundertwende entspinnt sich zwischen den Historikern Hörl, Peukert, Ritter, und Nitschke ein fiktives Gespräch darüber, was Wesensmerkmale der Zeit seien, die heute Fin de siecle, Jahrhundertwende oder Moderne genannt wird.[31] Es werden eine Reihe von Innovationen, wie das entfernungs- und körperrythmenzerstörende Flugzeug und das Automobil, das Informations- und damit auch teilweise Schichtendifferenzen nivellierende Radio als Stellvertreter für die Massenmedien, betrachtet. Auch setzten sie sich mit modernen Künstlern wie Schönberg und Klee auseinander und gelangen zu der Schlussfolgerung, dass mit den Innovationen um die Jahrhundertwende eine Veränderung der Wahrnehmung und eine Steigerung der nervlichen Anspannung einherging.[32] Die Mobilität und die Kommunikation, zwei grundlegende menschliche Lebensbedingungen, hatten sich „durch die Technik fundamental verändert“. [33] An den Menschen dieser Zeit stellte sich der Anspruch den Umgang mit der neuen Technik zu erlernen und zwar dadurch, „daß sie ihr
eigenes Nervenkostüm neu schneidern“[34]. Neben der Technik war die Organisation Merkmal dieser Zeit. Durchrationalisierung und Bürokratisierung betrafen zunehmend alle Bereiche der Gesellschaft. Alle vorgenannten Entwicklungen boten dabei sowohl Chancen als auch Gefahren. Sie sind auch in dem engen Nebeneinander von neuer „Welterkenntnis“ und „Möglichkeit zur totalen Weltzerstörung“ Ausdruck des zwiespältigen oder sogar widersprüchlichen Charakters der Epoche.[35]
„Der Mensch von heute ist so ganz andersartiger Beanspruchung ausgesetzt und von unendlichen Gefahren umlauert, die der Industrialisierung und dem Tempo des heutigen Verkehrs entspringen.
Er kann nicht sorg- und verantwortungslos den hygienischen Forderungen gegenüber aufwachsen, sondern muß bestrebt sein, das Kapital, das Natur ihm auf den Weg gab, seinen Körper und dessen Gesundheit, zu pflegen.“[36]
„Das kostbarste Kapital der Staaten und der Gesellschaft ist der Mensch. Jedes einzelne Lebewesen repräsentiert einen bestimmten Wert. Diesen zu erhalten und ihn bis an die unabänderliche Grenze möglichst intakt zu bewahren, das ist nicht bloß ein Gebot der Humanität, das ist auch in ihrem eigensten Interesse die Aufgabe der Gemeinwesen. “[37]
II.1.1.1 Vorraussetzungen für die Entwicklung der Hygiene
Die beiden vorstehenden Zitate von Rosenhaupt und Rudolf von habsburg
beschäftigen sich mit den von Zeitgenossen wahrgenommenen, tiefgreifenden Veränderungen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Hygiene auf Basis der naturwissenschaftlichen Medizin versprach einen Weg mit ihnen umzugehen. Die rapide Entwicklung der Naturwissenschaften und die damit verbundene Genese der Medizin zur Wissenschaft werden nun kurz skizziert.
Das fin de siecle zeichnete sich durch eine enorme Fortschrittsgläubigkeit und die „Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche“[38] aus. Du Bois-Reymond (1818-1886), Physiologe und Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften, war überzeugt, dass die Erkenntnis der Naturgesetze und der Fortschritt der Naturwissenschaften im Ganzen dem Menschen nur Gutes bringen und diesen sogar zu einem höheren Wesen adeln können. Tatsächlich waren „[...] Gelehrten tiefe Einsichten in die Naturzusammenhänge gelungen [...], mit denen sich die Auffassung des Naturgeschehens grundlegend gewandelt hatte. “[39] Man war bestrebt, die Funktionszusammenhänge der Naturgesetze allgemein bekannt zu machen und sie an die Stelle von Glauben zu setzen. Dass „[...] sich anstelle des weitgehend überwundenen Aberglaubens ein neuer ,Wissenschaftsaberglaube‘ entwickelte“[40] wurde begrüßt. „Die naturwissenschaftlichen Denkkategorien verschafften sich weit über die Naturwissenschaften hinaus Anerkennung und beeinflussten das gesamte geistige und politische Leben.“[41] So wird unter Medikalisierung der Gesellschaft die Erfassung gesellschaftlicher Phänomene (zum Beispiel Alkoholismus und Prostitution) unter medizinischen Gesichtspunkten verstanden. Der Sozialdarwinismus und die sich in dessen Folge entwickelnde Eugenik als eine Unterströmung der Hygienebewegung sind zwei Beispiele dafür.
Grundlagen für diese Entwicklung der Naturwissenschaften zu einem maßgeblichen Kategoriensystem für Weltwahrnehmung und gestaltung waren deren rasanter Fortschritt im 19. Jahrhundert, die produktive Verknüpfung von wissenschaftlichem Entdeckungen mit industriellen Innovationen, sowie der universale Geltungsanspruch der naturwissenschaftlichen Gesetze. Vorreiter und Leitdisziplinen waren Physik und Chemie, mit Mathematik als Grundlage, sowie die Medizin, besonders die Physiologie. Die deutsche Wissenschaft war, im Vergleich zu anderen Ländern in Europa, auf diesen Gebieten führend.[42] Eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Disziplinen entstand im 19. Jahrhundert. Ein herausragendes Innovationsfeld war die Biologie. Charles Darwin (1809-1882) steht hier für eine der weitreichensten und stabilsten neuen Theorien.[43] Zoologie und Botanik erweiterten ihre klassischen Aufgabengebiete der Beschreibung und Systematisierung des
Lebendigen. Die Biologie entstand als übergeordnete Disziplin, als „[...] eine allgemeine Wissenschaft vom Leben, seinen Grundelementen und -prozessen, seiner Struktur, seinen Zusammenhängen, seiner Geschichte.“[44] Nicht zuletzt durch die alles Lebendige umfassende Theorie Darwins und die überall einziehenden naturwissenschaftlich-experimentellen Methoden näherten sich Biologie und (Human-)Medizin an.
Die Medizin war eines der Wissenschaftsgebiete, das sich am schnellsten entwickelte.[45] Die raschen Fortschritte der Physiologie und der Zellforschung bildeten die Grundlage für eine verstärkt naturwissenschaftlich geprägte Medizin. Diese wurden von deutschen Medizinern - oft in der Doppelfunktion von Arzt und Forscher mit ausgeprägtem Professionalisierungsinteresse - stark voran gebracht. Die Medizin vereinigte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Physiologie, Chirurgie, Pharmakologie und Psychiatrie miteinander zu einer Wissenschaft. Diese versuchte Leistung und Funktion des Menschen zu erklären und Krankheiten umfassender als zuvor zu begegnen. Virchows (1821-1902) Erkenntnisse zur Zellpathologie[46] „[...] hatten im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts die Kenntnis vom gesunden und kranken Körper auf eine ganz neue wissenschaftliche Grundlage gestellt.“[47] Bakteriologie und später Mikrobiologie, wesentlich durch die Erkenntnisse von Pasteur (1822-1895) und Koch (1843-1910) begründet, gewannen auf dieser Grundlage geradezu dominierenden Einfluss in der Medizin. Dies wirkte sich besonders auf die Hygiene aus (siehe Unten). Große Erfolge konnte die deutsche Wissenschaft bei der Endeckung einer Reihe von Krankheitserregern erzielen.[48] Wichtige Fortschritte auf dem Gebiet der klinischen Medizin waren die Einführung der Anti- und Asepsis[49], sowie Verbesserungen in der Anästhesie. Auch beeinflusst durch diese Entwicklungen formierte sich eine neue Teildisziplin der Medizin: die Hygiene. Wie kam es dazu?
II.1.1.2 Die Entwicklung der Hygiene
„Die Bedrohung durch Epidemien und Seuchen gehörte zu den typischen Existenzbedingungen der Menschen vor dem spektakulären Anstieg der Lebenserwartung in den letzten hundert Jahren.“ [1990][50]
Mitte des 19. Jahrhunderts war die Gefahr von epidemischer Krankheiten in den sich industrialisierenden Städten am höchsten. Die Belastung insbesondere der wachsenden Stadtbevölkerung durch schlechte Lebensbedingungen war gravierend. Urbanisierung, als Folge von Industrialisierung, Bevölkerungszuwachs[51] und Bevölkerungswanderung, ging einher mit immer bedrückenderen Arbeits- und Lebensverhältnissen. Dahinter verbarg sich nicht zuletzt ein gesamtgesellschaftlicher Wandel hin zur Massengesellschaft; weg von der agrarisch dominierten, hin zur von Industrie und Dienstleistung dominierten Wirtschaft. Es entwickelte sich, neben dem städtischen Bürgertum, die moderne Arbeiterschaft als...