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E-Book

Das Pariser Bistro

Eine Liebeserklärung

AutorMarc Augé
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl118 Seiten
ISBN9783957573018
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Morgens ein Café au lait, ein Croissant und dazu die aufgeschlagene Le Monde, abends angeregte Diskussionen über Gott und die Welt bei einem Pastis : Wenn der Eiffelturm das architektonische Aushängeschild der Seine-Metropole ist, dann stehen die Pariser Bistros für ihre Lebensart. In seiner persönlichen Annäherung an die Eckcafés seiner Heimatstadt ergründet der große Anthropologe Marc Augé den magischen Reiz der Bistros und beobachtet das bunte Treiben um den Tresen. Dabei lässt er seine eigenen Erlebnisse während der Studienzeit in den 50 er Jahren im Quartier Latin Revue passieren, wo er Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre traf, beschreibt den Wandel der Beziehungen der Gäste parallel zum Wandel der Stadt und erzählt mit liebevollem, aber immer ungetrübten Blick von seinem jahrelangen Stammbistro mit dem Wirt François, der Aushilfe Julie und den täglichen Besuchern, die mit dem Bistro älter werden. Eine leichtfüßige Untersuchung und gleichzeitig eine ganz und gar unsentimentale Liebeserklärung - nicht nur an die Bistros, sondern an eine ganze Lebensart.

Marc Augé, 1935 geboren, lehrte Anthropologie und Ethnologie an der Pariser École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS), deren Präsident er lange Jahre war. Weit über die Fachgrenzen bekannt wurde er mit seinem Essay Nicht-Orte. Er verstarb 2023.

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Leseprobe


Bistro, das ist zunächst ein Wort ungewisser Herkunft, aber relativ neuen Datums, das weltweit beachtliche Verbreitung gefunden hat und wie der Cancan und der Eiffelturm vom Glanz Frankreichs zeugt. Der Petit Robert führt zwei mögliche Etymologien an, die anderen Quellen zufolge allerdings zweifelhaft sind: bistouille, eine Ende des 19. Jahrhunderts in Nordfrankreich gebräuchliche Bezeichnung für minderwertigen Alkohol oder einen mit Schnaps versetzten Kaffee (angelehnt an das Verb touiller, »umrühren«), und das russische bystro (»schnell!«), das demnach an den Aufenthalt der nach Siegen und Alkohol dürstenden Kosaken in Paris erinnert. In jedem Fall wirft die erstaunliche Karriere eines Wortes, dessen Ursprung man nicht kennt und das rasch in aller Welt zum Symbol für einen Lebensstil à la française wurde, Fragen auf.

Bistro: ein Mischling, der sich aufgemacht hat, die Welt zu erobern.

Troquet, Bistroquet, Mastroquet, Caboulot … – es mangelt im Französischen nicht an ungefähren, mehr oder weniger umgangssprachlichen Synonymen, aber nur Bistro hat sich als ein vertrautes, sympathisches, allgemein bekanntes und daher in terminologischer wie geografischer Hinsicht kolonialistisches Wort durchgesetzt. Es wird nicht nur für kleine Trinklokale verwendet, sondern ist in die Domäne der Gastronomie vorgedrungen, hat nach und nach die Bedeutung des Wortes »Restaurant« ausgehöhlt und die Qualitäten des Einfachen und Natürlichen angenommen, die man von einer »bürgerlichen« Küche mit Recht erwartet. Gleichzeitig hat es sich in ausländische Großstädte eingeschlichen und ist zu einer gängigen Bezeichnung geworden, ein wenig wie »Pizzeria«. Während eine Pizzeria außerhalb Italiens sich jedoch auf ihren nationalen oder regionalen Ursprung beruft, gilt dies nicht für alle »Bistros«: Natürlich findet man auch im Ausland von Franzosen betriebene Bistros (zum Beispiel das French Little Bistro in Miami Beach oder das Bistro Les Amis in New York), aber bemerkenswert ist gerade, dass sich das Wort häufig ganz allein auf die Reise gemacht hat, so als führte es als solches eine Gewähr für lokale Authentizität mit sich. In Turin gibt es viele »Bistros«, namentlich ein Bistrot de Turin, das auf Gerichte und Weine aus dem Piemont spezialisiert ist. In einem internationalen Flughafen habe ich einmal ein Bistrot Américain gesehen, dessen Spezialitäten ich mangels Zeit nicht kosten konnte, und in Berlin wimmelte es von »Bistros«, in denen das Bier in Strömen floss. Mit dem Wort »Bistro« hat Frankreich ein flexibles, anpassungsfähiges Modell lokaler Authentizität exportiert, eine französische Façon, die eigene Herkunft – egal welche – durch Vorlieben und Geschmäcker auszudrücken und unverfälscht man selbst zu sein, gleich wo und wer man ist.

Was ist ein Bistro, und was nicht? Ein Troquet ist eine kleine Bar, in der man trinkt. In ein Troquet oder auch Bistroquet geht man nicht auf einen Sekt, sondern eher auf ein Glas Rot- oder Weißwein oder ein Bier. Man bleibt dort nicht lange um des Vergnügens willen; nur selten nimmt man Platz. Das Café dagegen ist eine Institution, die mit gewissen Weihen versehen ist und hier und da schon mal Spezialitäten zu bieten hat. An dem Wort haftet ein Hauch europäischer Distinktion: Die Literatencafés haben sich einen historischen Ruf erworben; andere, manchmal auch dieselben, waren Orte des politischen Lebens. Die Bistros sind irgendwo zwischen den schlichtesten Troquets und den kultiviertesten Cafés angesiedelt.

Solche Cafés sind zu vornehm, um sich Bistro zu nennen, es sei denn, sie bedienen sich einer Art sprachlicher List ähnlich den Riten der Inversion, aus denen sich seit einigen Jahren das Phänomen der »Bobos« (bourgeois-bohème), der Salonlinken, speist. Das Auftauchen der Bobos in alten Arbeitervierteln von Paris wie dem 19. und 20. Arrondissement stellt einen Prozess der Eroberung oder Rückeroberung dar: Als wohlhabende Leute kaufen sie dort relativ günstig Wohnungen, die sie sich in dieser Größe in den »guten Vierteln« nicht leisten könnten, und lassen sich nieder. Nach eigenem Bekunden schätzen sie an diesen Quartiers das Lebendige und Pittoreske. Sie finden Nachahmer, und die Bistros folgen ihnen wie in Turin, Berlin oder anderswo, allerdings mitten in Paris. Als ein Exportprodukt, das in diesem Fall für den internen Gebrauch bestimmt ist und gleichsam zurück an den Absender geschickt wurde, ist das Bistro der Bobos eine Art potenziertes Bistro. Das Menü wird betont leger auf eine Tafel geschrieben. Am Tresen kann man Weine von ausgesuchten Kleinwinzern kosten und an Stehtischen mittags für unter 35 Euro essen. Als Gipfel des Bobo-Schicks werden manchmal typische Fastfood-Gerichte, zum Beispiel Burger, mit einer neuen gastronomischen Würde versehen. Gefördert wurde diese Entwicklung von einigen bekannten Sterneköchen, die seit einer Weile neben den Restaurants, denen sie ursprünglich ihren Ruhm verdanken, schlichtere und günstigere Lokale betreiben und sie mit leicht affektierter Bescheidenheit »Bistros« getauft haben, auch wenn es sich dabei um eine offenkundig missbräuchliche Bezeichnung handelt.

Das Bistro, das wahre Bistro zeichnet sich dadurch aus, dass es zu den unterschiedlichsten Zeiten zur Verfügung steht: Es ist vom Morgen bis in den Abend, bereits recht früh und noch recht spät, in jedem Fall aber durchgehend geöffnet.

Für Lokale, die einen bestimmten geografischen Ursprung reklamieren und dies in einer entsprechend begrenzten Speisekarte zum Ausdruck bringen, kommt die Bezeichnung Bistro jedoch nicht in Betracht. Dies gilt zum Beispiel für die bretonischen Crêperien am Gare Montparnasse, von denen man – schenkt man naiv ihren lauter unterschiedliche Herkunftsorte heraufbeschwörenden Schildern Glauben (Fouesnant, Beg-Meil, Douarnenez, Pont-Aven …) – sogar meinen könnte, dass sie jeweils unterschiedliche Produkte anbieten, aber auch für die vielfältigen asiatischen Restaurants: Chinesen, Japaner, Thailänder, Koreaner, Kambodschaner, Inder oder Pakistaner. So hervorragend sie mitunter sind, um Bistros handelt es sich nicht. Nicht aufgrund ihres Ursprungs, sondern weil ihr Angebot an Speisen von vornherein durch eine lokale Tradition beschränkt wird. Es gibt berühmte Crêperien, und chinesische wie japanische Restaurants sind den Parisern sowohl in luxuriösen als auch in unzähligen einfachen Varianten zunehmend vertraut. Man geht zum Beispiel gerne in das kleine chinesische Ecklokal, doch so familiär – und insofern bistroartig – es dort wenigstens zu den Essenszeiten zugehen mag, nie betritt man es, weil man ein Gläschen trinken möchte; es behält schon allein aufgrund der räumlichen Anordnung etwas Exotisches: Statt eines Tresens erstreckt sich eine Vitrine in den Raum – im rechten Winkel zur Straßenfront, um den Kundenverkehr zu erleichtern –, in der die Tagesgerichte zum Mitnehmen oder zum sofortigen Verzehr bereitstehen. Das Fehlen eines Tresens ist ein getreuer Ausdruck des Verzichts auf den Anspruch, ein Bistro zu sein.

Auch die französischen Bistros sind nicht abgeneigt, einen regionalen Ursprung zur Schau zu stellen, ganz im Gegenteil. Die Bougnats – aus dem Massif cen­tral stammende Kohlenhändler, die in ihren Lagern und Schenken Rotwein anboten – gehören heute zur Folklore der guten alten Zeit, aber noch immer stammen die Betreiber vieler Hotels und Cafés in der Stadt ursprünglich aus dem Aveyron und halten dies hoch. Und dann sind da die Namen: Au Petit Sancerre, Le Trou normand, L’Aquitaine, La Bourgogne, Le Relais breton … Lauter Schilder, die eine authentische Schlemmerei versprechen, in der sich der Geschmack eines Weines oder Schnapses mit dem Duft einer raffinierten Spezialität vermählt. Wenn man in eine traditionelle Brasserie geht, kann man nahezu sicher sein, dass dort Blutwurst mit Äpfeln und Kartoffeln oder Kalbskopf mit Sauce gribiche, ein Frikassee oder Sauerkraut angeboten werden. Die Biermarken mögen deutsche sein, aber die Anbaugebiete der Weine, über die die Karte minutiös Auskunft gibt, liegen mehrheitlich in Frankreich. Die Brasserien sind sich sicher genug, die Tradition zu verkörpern, um mit Nachdruck ihren Anspruch auf Präsenz in einem bestimmten Pariser Stadtteil geltend zu machen, den sie, an der Kreuzung mehrerer Hauptverkehrsadern gelegen, durch ihren Namen sogar zu symbolisieren behaupten: La Rotonde, Le Canon de Grenelle, Le Canon de la Nation, Le Canon des Gobelins …

Tatsache ist, dass das Wort »Bistro« eine unmittelbare Sympathie transportiert, bei der es auf eine allzu strenge Definition nicht ankommt. Eine solche Definition liefe Gefahr, die Wirklichkeit zu verstümmeln, die in dem Wort zusammenströmt. Doch worin besteht seine Kraft? Welche Bedürfnisse weckt es in uns – Bedürfnisse, die sich vielleicht eher unbewusst ausdrücken, wenn wir uns in einem Bistro verabreden, einen Freund fragen, ob er Zeit für ein Gläschen im Bistro gegenüber hat, oder uns zu einem Abendessen in einem Bistro in der Nachbarschaft entschließen? Es scheint, als ob bereits der Gebrauch des Wortes an sich die Garantie wäre, dass der Lokalbesuch in Nachbarschaft der Wohnung oder des Arbeitsplatzes gesellig, angenehm und belebend wird.

Erinnerungen


Jugendjahre


Alleine ins Bistro zu gehen, war in meiner Jugend eines der ersten Zeichen von Unabhängigkeit, in denen sich das nahende Erwachsenenalter ankündigte. An der Erinnerung an meine ersten Bistrobesuche haftet bis heute der Geruch des Verbotenen: Als Neuntklässler am Lycée Louis-le-Grand liefen wir nach Schulschluss zu zweit...

Blick ins Buch

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