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E-Book

Das passende Leben

Was unsere Individualität ausmacht und wie wir sie leben können

AutorRemo H. Largo
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl480 Seiten
ISBN9783104903613
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Ein optimistisches, lebenspraktisches Buch, die Quintessenz des bekannten Entwicklungsforschers und Autors Remo H. Largo. Über 1 Mio. verkaufte Exemplare von ?Babyjahre? Jetzt das Lebenswerk des Entwicklungsforschers Remo H. Largo Basierend auf vierzig Jahren Forschung, u.a. den einzigartigen Zürcher Langzeitstudien

Remo H. Largo (1943-2020) studierte Medizin an der Universität Zürich und Entwicklungspädiatrie an der University of California, Los Angeles. Seit 1978 leitete er die Abteilung »Wachstum und Entwicklung« an der Universitäts-Kinderklinik Zürich. Die Zürcher Longitudinalstudien, die er dort verantwortete, sind international einzigartig und gehören zu den umfassendsten Studien in der Entwicklungsforschung. Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Arbeiten und Bestseller, die sich mit der menschlichen Entwicklung befassen. Remo H. Largos Bücher (u.a. »Babyjahre«, »Schülerjahre«, »Jugendjahre«) gelten als Klassiker der Erziehungsliteratur.

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Leseprobe

Einleitung Unsere Individualität solidarisch leben


»Jeder Mensch ist einzigartig. Seine Individualität zu leben macht den Sinn des Lebens aus«

»Entwickle dich zu dem einmaligen, unverwechselbaren, unaustauschbaren Menschen, der in dir angelegt ist.«

 

Pindar, 518442 vor Christus

Ich liebe es, Menschen jeden Alters zu beobachten, beispielsweise im Sommer auf dem Münsterplatz in der Zürcher Altstadt. Da herrscht ein ständiges Gewusel von flanierenden Touristen, eiligen Geschäftsleuten, Einheimischen, die Neuigkeiten austauschen, und spielenden Kindern. Mich fasziniert die Vielfalt der Gesichter und Gestalten, die unterschiedliche Art, wie Kinder, junge und ältere Erwachsene miteinander umgehen. Wie mannigfaltig ist doch ihre Körpersprache, etwa wenn die Großen einander begrüßen und die Kleinen hintereinander herjagen. Und wie verschieden ist das Interesse bei den Touristen an der altehrwürdigen Fraumünster-Kirche und den Auslagen der Geschäfte. Es wird mir nie langweilig zuzuschauen. Ich kann mir sicher sein, dass niemals zwei Menschen über den Platz gehen, die sich in Gestalt und Verhalten vollkommen gleichen. Denn ich weiß, dass jeder der fast acht Milliarden Menschen, die gegenwärtig auf der Erde leben, ein einzigartiges Wesen ist. Und diese Vielfalt ist keinesfalls außergewöhnlich; Pflanzen und Tiere sind innerhalb der eigenen Art genauso vielfältig. Was uns Menschen jedoch besonders und mich erst zum Beobachter macht: Nur wir sind uns – dank unserer hochentwickelten geistigen Fähigkeiten – der eigenen Individualität und der Vielfalt unter den Menschen bewusst.

Bereits im Alter von zwei Jahren beginnen wir, uns als eigenständiges Wesen zu begreifen. In den folgenden Jahren werden wir fähig, uns in die Emotionen, Gedanken und Handlungsweisen anderer Menschen einzufühlen und hineinzudenken. Dabei machen wir die Erfahrung: Jeder Mensch hat seine individuellen Eigenschaften, Begabungen und Vorstellungen. Spätestens im frühen Schulalter fangen wir an, uns mit anderen Menschen zu vergleichen, und bleiben ein Leben lang bei diesem Verhalten. Als Erwachsene messen wir uns mit unseren Mitmenschen, etwa bezüglich Aussehen, beruflicher und sozialer Stellung oder Leistung und Einkommen. Wir freuen uns an unseren Stärken und leiden an unseren Schwächen. Wir fragen uns, wie wir von den anderen Menschen wahrgenommen werden. Und wir werden immer wieder aufs Neue auf uns selbst zurückgeworfen: Was müssen wir an uns als »gegeben« akzeptieren, und was können wir verändern, wenn wir uns noch etwas mehr anstrengen? Mit den Jahren müssen wir dann einsehen: Es gibt keinen Königsweg, der uns aufzuzeigen vermag, wie wir das Leben am besten bewältigen können, obwohl uns unzählige Ratgeber genau das vollmundig versprechen. So kann auch dieses Buch keinen »Königsweg« anbieten. Es versucht vielmehr, die Individualität des Menschen und sein vielfältiges Bemühen, in dieser Welt zu bestehen, dem Leser und der Leserin näherzubringen. Denn wir tun uns immer noch schwer mit der Individualität. Wir denken und handeln, als ob wir alle gleich wären, alle die gleichen Bedürfnisse hätten und alle das Gleiche leisten könnten. Dem ist aber ganz und gar nicht so. Sein Wesen in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben, dafür gibt es keine allgemeingültigen Regeln. Es ist eine Herausforderung, die jeder Mensch nur auf seine Weise bewältigen kann.

Nicht nur die eigene Individualität zu leben ist eine Herausforderung, sondern auch mit der Vielfalt und Andersartigkeit der Mitmenschen umzugehen. Stellen wir uns vor, wir wären alle gleich, gleich groß und schwer, gleich in unserem Aussehen, wären mit den gleichen Gefühlen und Begabungen geboren und hätten die gleichen Bedürfnisse. Das Leben wäre ziemlich eintönig, aber wir hätten einige Probleme nicht, die uns die Vielfalt in Familie, Schule und Gesellschaft bereitet. Doch ohne Vielfalt gäbe es weder den Menschen noch alle anderen Lebewesen. Vielfalt und Individualität sind Grundvoraussetzungen alles Lebens.

Wie vielfältig die Menschen sind und welche Schwierigkeiten uns diese Vielfalt bereitet, war die nachhaltigste Erfahrung, die ich in meiner vierzigjährigen Tätigkeit als Wissenschaftler und klinisch tätiger Entwicklungspädiater gemacht habe. Ich hatte das Privileg, ein großangelegtes Forschungsprojekt, das 1954 am Kinderspital Zürich begonnen wurde, von 1974 bis 2005 fortzuführen. In den Zürcher Longitudinalstudien haben wir mehr als 700 normal entwickelte Kinder von der Geburt bis ins Erwachsenenalter in zwei aufeinanderfolgenden Generationen begleitet und den Entwicklungsverlauf jedes einzelnen Kindes in Bereichen wie Motorik und Sprache dokumentiert. Unsere Motivation, solche äußerst aufwendigen Studien durchzuführen, war die Überzeugung: Nur wenn wir die Vielfalt und die Gesetzmäßigkeiten der normalen Entwicklung ausreichend gut kennen, können wir den individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten der Kinder gerecht werden und sie in ihrer Entwicklung als Eltern, Therapeuten und Lehrkräfte wirksam unterstützen. Und es stellte sich bei der Auswertung der Daten aus den verschiedenen Entwicklungsbereichen tatsächlich heraus, dass es keine Fähigkeit, kein Verhalten und keine körperliche und psychische Eigenschaft gibt, die bei allen Kindern gleich ausgebildet ist. In jedem Alter herrschen große Unterschiede bei Gewicht und Größe, Kinder benötigen unterschiedlich viel Schlaf und nehmen verschieden viel Nahrung zu sich. Manche Kinder machen die ersten Schritte mit zehn, andere erst mit 20 Monaten. Es kommt vor, dass sich Kinder bereits mit drei bis vier Jahren für Buchstaben interessieren, die meisten lernen mit sechs bis acht Jahren lesen, und einigen Menschen bereitet das Lesen selbst im Erwachsenenalter noch Mühe. Die Vielfalt nimmt in jeder Hinsicht während der Kindheit ständig zu, und dies – bis zu einem gewissen Grad – auch noch im Erwachsenenalter. So gibt es Erwachsene, die in ihrem Zahlenverständnis nie über das Niveau der Grundschule hinausgekommen sind, während andere über logisch-mathematische Fähigkeiten verfügen, die sie komplexe Aufgaben im IT-Bereich lösen lassen.

Wir Menschen haben also alle ganz unterschiedliche Voraussetzungen, um die kleinen und großen Herausforderungen des Lebens zu bewältigen. Beispielsweise Luca, der mit seinen Eltern in meine Sprechstunde kam. Er fühlte sich als Versager, weil er im Alter von neun Jahren immer noch nicht lesen konnte. Er spürte schmerzlich, dass er die Erwartungen der Eltern und der Lehrerin nicht zu erfüllen vermochte. Luca war in seinem Wohlbefinden erheblich beeinträchtigt und reagierte darauf mit Unkonzentriertheit und motorischer Unruhe. Ich habe im Laufe meiner Tätigkeit Tausende von Kindern wie Luca erlebt, die uns zugewiesen wurden, weil sie von der »Norm« abwichen. Sie litten an unterschiedlichsten Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten wie nächtlichem Erwachen, motorischer Ungeschicklichkeit oder sozialem Rückzug. Der oftmals unausgesprochene Auftrag der Eltern und Lehrer an uns bestand darin, die Kinder durch Förderung in die »Norm« zu bringen, was – wie uns die langjährige Erfahrung gelehrt hat – nicht gelingen kann. Wir sahen das eigentliche Problem der Kinder darin, dass sie, weil sie den Normvorstellungen nicht entsprachen, nicht »sie selbst« sein durften. So versuchten wir, den Kindern zu helfen, indem wir ihre individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten erfassten und dann gemeinsam mit den Eltern und anderen Bezugspersonen überlegten, wie das jeweilige Kind mit seinen Stärken und Schwächen am besten unterstützt werden konnte. Das war häufig nicht leicht, schließlich hatten die Erwachsenen ihre bestimmten Erwartungen an das Kind, ihre eigenen Vorstellungen von seinen Fähigkeiten und vor allem von den Leistungen, die es erbringen sollte. Wenn es uns jedoch gelang, die Erwachsenen auf die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten des Kindes einzustellen, verbesserten sich sein körperlicher und psychischer Zustand und seine Lernbereitschaft wuchs.

Die eigene Individualität zu leben bleibt auch im Erwachsenenalter eine ständige Herausforderung. So ist beispielsweise eine Bankangestellte ebenso wie der Schüler Luca in ihrem Wohlbefinden beeinträchtigt, wenn sie die Leistungen am Arbeitsplatz nicht erbringen kann, die sie von sich selbst erwartet und die ihre Vorgesetzten und Mitarbeiter von ihr verlangen. Sie fühlt sich überfordert, gerät in einen Erschöpfungszustand und leidet schlimmstenfalls irgendwann an einem Burn-out-Syndrom. Eine Verbesserung ihres Wohlbefindens kann zumeist nicht dadurch erreicht werden, dass man ihre Leistung, wie es häufig geschieht, etwa durch eine Fortbildung zu steigern versucht. Es gilt vielmehr, ihre individuellen Begabungen zu respektieren und die Arbeitsanforderungen mit ihrer Leistungsfähigkeit möglichst in Einklang zu bringen. Dasselbe Passungsproblem stellt sich bei Unterforderung ein, kann doch das Gefühl, die erbrachten Leistungen seien unbefriedigend, ja sinnlos, das Wohlbefinden eines Menschen ebenfalls erheblich beeinträchtigen.

Mehrmals pro Tag standen wir in der Forschung und klinischen Arbeit vor der Frage: Warum fühlt sich das eine Kind wohl und entwickelt sich gut, während ein anderes in seinem Wohlbefinden beeinträchtigt ist und Auffälligkeiten in seiner Entwicklung aufweist? Antworten darauf fanden wir fast immer im Grad der Übereinstimmung zwischen dem Kind und seiner Umwelt. So stellte sich beispielsweise heraus, dass Schlafstörungen häufig...

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