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Das Problem sind wir

Ein Bürgermeister in Sachsen kämpft für die Demokratie

AutorDirk Neubauer
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783641250928
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Demokratie kann nur gelingen, wenn alle daran mitarbeiten - Bürgermeister Dirk Neubauer zeigt, wie es gehen kann
Wir haben verlernt, wie Gesellschaft geht - und zwar nicht nur im Osten Deutschlands. Das sagt Dirk Neubauer, seit 2013 Bürgermeister der sächsischen Kleinstadt Augustusburg. Was er nach seiner Wahl in der Stadt vorfand, waren Intransparenz, Politikverdrossenheit und ein Gefühl der Verlorenheit. Neubauer ist überzeugt, dass das politische System - entgegen landläufiger Meinung - von innen heraus zu verändern ist und dass wir wieder lernen können, was es heißt, Eigenverantwortung zu tragen, statt sie an den Staat abzugeben. Seine Projekte für Augustusburg, die auf Bürgerbeteiligung setzen, zeigen: Das Engagement der Bürger, das früher wenig beachtet wurde, wächst langsam, aber stetig.

Dirk Neubauer, geboren 1971, ist seit Oktober 2013 Bürgermeister der Stadt Augustusburg - 20 Kilometer östlich von Chemnitz. Parteilos gestartet, wurde er 2017 SPD-Mitglied. Der gebürtige Hallenser schlug 1993 zunächst den Weg in den Journalismus ein und war rund zehn Jahre als Reporter und später Geschäftsführer eines lokalen Fernsehsenders tätig. Nach zwei Jahren als Marketingchef bei mdr jump und sputnik wechselte er in die Selbstständigkeit. Er entwickelte Konzepte für Portallösungen von Zeitungshäusern. Für die sächsische SPD schreibt er derzeit an einem Konzept für mehr Bürgerbeteiligung auf Landesebene und setzt sich für ein landesweites Digitalkonzept ein. Für Augustusburg hat er das Projekt #diStadt ins Leben gerufen. Mit seiner Familie lebt Dirk Neubauer in Augustusburg.

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Leseprobe

2

Wir, der öffentliche Stillstand


Wenn ich mit Bürgern meiner Stadt rede – und dies tue ich viel und auf allen zur Verfügung stehenden Kanälen –, dann kann ich vor allem eines immer wieder feststellen: Wir teilen unsere Gesellschaft messerscharf in »die da oben« und »wir hier unten«. Das ist einfach und erklärt sich schnell, je nachdem, wo man sich einsortiert. Arbeitet man »richtig«, also »zahlt Steuern« und »tut wirklich was«, gehört man zur Gruppe »wir hier unten«. Ist man in einem Amt beschäftigt, hängt die Zugehörigkeit zu Oben oder Unten davon ab, wie groß die dort ausgeübte Verantwortung ist und ob man sonst im Ort beliebt ist. Kann man dem Nachbarn noch vermitteln, dass man »ja nur ausführt, was andere wollen«, dann gehört man noch zu »wir hier unten« dazu. Bei allen Ebenen darüber ist es bereits schwierig. Amtsleiter oder Mitarbeiter in führender Funktion in Landkreisverwaltungen oder Ministerien sind nicht selten auf einen ähnlich gelagerten Freundeskreis angewiesen, um zwischen den Welten nicht zu vereinsamen.

Abgeordnete der sogenannten etablierten Parteien sind bereits eindeutig Bestandteil der Gruppe »die da oben«. Wobei die Sympathie des Bürgers sich meist umgekehrt proportional zur Entfernung des Einsatzorts des Abgeordneten vom eigenen Wohnort verhält. Das bedeutet: Landtag geht noch. Berlin ist schlimmer. Brüssel geht gar nicht. Leistung oder Einstellung des Einzelnen sind dabei weitgehend uninteressant, wie das Beispiel der CDU-Bundestagsabgeordneten Veronika Bellmann bei der letzten Bundestagswahl belegt. Bellmann, eine engagierte Politikerin, hat für ihren Wahlkreis sehr viel erreicht und sich in der umstrittenen und maßgeblich wahlbeeinflussenden Flüchtlingskrise sogar öffentlich von Kanzlerin Merkel distanziert. Diese Abgeordnete, die gefühlt mit mindestens einem Bein nahe des AfD-Lagers stand, musste doch um ihren Wiedereinzug in den Deutschen Bundestag bangen und erreichte diesen per hauchdünnem Direktmandatsgewinn. Mit einem Vorsprung von 1400 Stimmen vor dem AfD-Konkurrenten.

Als Bürgermeister hat man, sofern man für seine Stadt wirklich da ist und sich kümmert, meist noch das Glück, in das Segment »einer von uns«, also als Teil der Menge »wir hier unten«, einsortiert zu werden. Macht man seine Arbeit wirklich gut, wird einem dabei sogar die Mitgliedschaft in einer der sogenannten etablierten Parteien verziehen. Fortan wird man bei grundsätzlichen Debatten mit Äußerungen wie »Das meint jetzt nicht dich persönlich« oder »Du bist ja einfach nur in der falschen Partei« quasi in Schutz genommen. Mitglied in einer Partei zu sein, bedeutet in der Wahrnehmung der breiten Masse ohnehin, nicht ganz normal zu sein. Verbunden wird diese Wahrnehmung mit Zusätzen, die von »vermutlich Altlast« (Die Linke) bis »will ja nur Karriere machen« (CDU) reichen. Das ist die einfache Aufteilung unserer Welt. Frei nach dem Motto: Ist der Feind bekannt, hat der Tag Struktur.

Diese merkwürdige Stimmungslage war der Grund dafür, dass ich selbst in eine Partei eintrat, obwohl ich als komplett unabhängiger Kandidat drei Jahre zuvor die Wahl zum Bürgermeister gewonnen hatte. Ich wollte und will zeigen, dass nicht das demokratische System, sondern die darin handelnden Personen das Problem sind. Die Wahl der Partei war dabei keine reine Herzensangelegenheit. Im Gegenteil: Für einen, der selbst denkt und versucht, Logik und Vernunft walten zu lassen, ist eine Partei derzeit ohnehin nicht wirklich gemacht. Zu eng sind die Denkbandagen, Fraktionszwänge und zu beliebig ist die Vielstimmigkeit zwischen Landes- und Bundesebene, die – jedenfalls für den Wähler – kaum noch nachzuvollziehen ist und deshalb auch als das wahrgenommen wird, was sie ist: Kalkulation und Selbstzweck der Parteien. Beispiele dafür gibt es viele. Das klarste und beliebteste ist wohl jenes der Koalitionsverhandlungen. Was im Land gutgeheißen wird, damit man beispielsweise eine eigene Regierung auf die Beine und damit den Ministerpräsidenten stellen kann, das wird auf Bundesebene ausgeschlossen. Die Linke kann hiervon wohl ein langes Lied singen.

Ich entschied mich für die SPD, da mir hier die Schnittmenge mit meinen eigenen Ansichten am größten erschien. Der Tag meines Beitritts war zunächst einer der Freude bei den sächsischen Genossen, denn sie gewannen ohne eigenes Zutun einen Bürgermeister und damit eine Stadt im ansonsten eher christdemokratischen, konservativ zu verortenden Sachsen. Dass dieser Tag aber auch der Beginn einer langen und öffentlichen Debatte werden würde, ahnte damals wahrscheinlich nur ich. Inzwischen wissen es auch meine Genossen. Was mit reiner Freude begann, hat bis heute ganz individuelle Wege des Umgangs mit mir gefunden. Eines aber kann ich mit Sicherheit sagen: Das Ansinnen, etwas zu bewegen, nimmt Fahrt auf. Auch wenn dem einen oder anderen Mandatsträger gelegentlich beim Grüßen beinahe die Hand abfällt – inhaltlich haben die vielen Debatten, Briefe und Diskussionen wirklich einiges bewegt. Und ich stelle fest: Mich für die SPD zu entscheiden, war nicht die schlechteste Wahl gewesen, auch wenn die Partei momentan ein eher trauriges Gesamtbild abgibt, was zu großen Teilen der ebenso ziellos wie herzlos agierenden Bundesspitze zugeschrieben werden darf. Derzeit ist die SPD zumindest im Freistaat die diskussionsfreudigste und veränderungsoffenste Partei. Ihr trauriger Umfragestatus im einstelligen Prozentbereich erstickt zudem jeden Vorwurf, ich hätte mit diesem Parteieintritt nur Karriere machen wollen, noch bevor er ausgesprochen werden kann. Hier in Sachsen in der SPD zu sein, ist weit entfernt von jeglicher Komfortzone und schon gar nicht vergnügungssteuerpflichtig.

So gewinnt mein Weg der Veränderung durch Mitmachen als Gegenmodell zur sinnfreien Protestwahl an Glaubwürdigkeit, was mir in meinen Diskussionen zur Lage enorm hilft. Ein Selbstläufer ist dieser Parteieintritt aber nicht, denn der grundsätzliche Veränderungswille hält sich auch bei der SPD in Grenzen. Vieles endet nach tief greifenden und ehrlichen Debatten doch nur als Überschrift in der Zeitung oder in einer der Politik eigenen, eigenartigen Unverbindlichkeit: dem politischen Konjunktiv.

Stillstand durch Angst und Mutlosigkeit


Ein Beispiel für den politischen Konjunktiv ist die sogenannte Digitalisierung, der digitale Wandel, der in Sachsen noch immer ein äußerst theoretischer Prozess ist. Die Digitalisierung wird behandelt wie eine böse Schwiegermutter. Alle reden über sie, sind aber gottfroh, wenn sie nicht da ist. Mein Steckenpferd ist eben dieser digitale Wandel. Zum einen, weil ich lange Jahre in einem Unternehmen tätig war, das Strategien und Geschäftsmodelle für Zeitungsverlage entwickelte, auf dem Weg vom Papier zum digitalen Produkt. Zum anderen, weil ich verstanden habe, dass dieses Thema eben nicht die viel zitierte Revolution darstellt, sondern es sich um einen evolutionären Prozess handelt, der alles, restlos alles, in unserem Leben verändert. Der Unterschied zwischen diesen beiden Begrifflichkeiten ist so einfach wie grundlegend: Eine Revolution kann man aufhalten, beispielsweise mit einem Panzer auf dem Marktplatz. Eine Evolution hingegen ist unaufhaltsam. Wer sich ihr verweigert, der wird von ihr aussortiert. Ganz einfach.

Diesem leidenschaftlichen Credo folgend, versuchte ich, »Digitalisierung« in meiner Partei zu platzieren – als Chance und zugleich wichtigstes Thema der Zukunft. Denn genau das ist die Digitalisierung, wenn man sie anpackt. Ich schrieb an einem Leitantrag für einen Landesparteitag 2018 mit, der die Digitalisierung für ein künftiges Regierungsprogramm umreißen sollte. Dabei textete ich klar und eindeutig, verwendete Formulierungen wie »wir müssen« und »wir werden«. Als der Antrag schließlich im Rahmen einer fünfminütigen Rede vom zuständigen Fachabgeordneten präsentiert wurde, waren aus diesen verbindlichen Termini wachsweiche Alternativen geworden. »Wir wollen« und »wir streben an«. Es klang nicht mehr wirklich wie ein ernst zu nehmender Ansatz, wenn Worten auch Taten folgen sollen. Da war er, der politische Konjunktiv: Ein »man könnte«, was alles bedeuten kann und nichts festschreibt. Von meiner Grundidee, meine Partei möge sich an die Spitze dieser zukunftsebnenden Bewegung stellen, blieb nicht viel übrig, denn das Thema ist in der Bevölkerung gerade nicht sehr beliebt und wird vorrangig mit Datenklau und Cyberspionage assoziiert. Es macht den Menschen Angst. Und Angst gewinnt keine Stimmen, jedenfalls dann nicht, wenn man versucht, dagegen anzugehen und Mut zu erzeugen. Angst gewinnt nur dort, wo sie benutzt wird und Mut fehlt, was die AfD mit ihrer Überfremdungsdebatte ja erfolgreich und exemplarisch praktiziert.

Der Anspruch, dass Politik nicht dafür da ist, den Menschen pausenlos zu sagen, was sie hören wollen, sondern ihnen vielmehr sagen muss, was sie wissen müssen, bleibt dabei auf der Strecke. Und damit auch die Zukunft, die einen langen Atem braucht und im Jetzt begründet werden muss, damit sie sich morgen entfalten kann. Genau so ist es bei der Digitalisierung. Während der Leitantrag so ist, wie er eben ist, nehme ich nun den nächsten Anlauf, bei diesem Thema Angst durch Mut zu ersetzen. Veränderung braucht eben Geduld, Kraft und einen langen Atem.

Stillstand in den Filterblasen und Echokammern


Gehen wir noch einmal zurück zum eingangs behandelten Thema »ihr da oben, wir hier unten«. Auch wenn es diese Spaltung schon immer gab, so wird die Diskussion darüber in Zeiten sozialer Netzwerke, moderner Kommunikation und »Mario Barth deckt auf« (und ähnlich...

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