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Das Trainingsraumprogramm. Ein Modell zur Förderung der Eigenverantwortlichkeit der Schüler oder ein Disziplinierungsinstrument der Lehrer?

Ein Modell zur Förderung der Eigenverantwortlichkeit der Schüler oder ein Disziplinierungsinstrument der Lehrer?

AutorNadja Kamlage
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl183 Seiten
ISBN9783640623143
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis39,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 2008 im Fachbereich Pädagogik - Schulpädagogik, Note: 1,0, Universität Osnabrück, Sprache: Deutsch, Abstract: Das Trainingsraumprogramm ist ein Konzept für Schulen, das den Umgang mit Unterrichtsstörungen und Disziplinproblemen erleichtern will und die Schülerinnen und Schüler Schritt für Schritt zu mehr Eigenverantwortung und Respekt gegenüber anderen bringen soll. Dieses Konzept findet in deutschen Schulen immer mehr Anhänger, sodass mittlerweile deutschlandweit über 100 Schulen mit diesem Programm arbeiten und ein Ende dieses Trends nicht absehbar ist. In der hier vorliegenden Arbeit möchte ich mich der kontrovers geführten Diskussion um das Trainingsraumprogramm zuwenden. Zuerst werde ich die für die Debatte um das Trainingsraumprogramm grundlegenden Begriffe Eigenverantwortung und Disziplin erläutern. Im dritten Kapitel werde ich auf die amerikanischen Wurzeln des Konzepts eingehen, um dann im nächsten Kapitel den Blick auf Deutschland zu richten. Hier geht es um die Konzepte von Stefan Balke und Heidrun Bründel und Erika Simon, mit denen an deutschen Schulen hauptsächlich gearbeitet wird. In diesem vierten Teil möchte ich auch die Ergebnisse empirischer Studien zum Trainingsraum darstellen, um einen Einblick in die Wirksamkeit dieses Programms zu geben. Im fünften Kapitel werden die möglichen Chancen und Stolpersteine des Trainingsraumprogramms fokussiert. Die leitenden Fragen hier sind: Inwieweit ist das Trainingsraumprogramm geeignet, um eigenverantwortliches Denken und Handeln zu fördern? Oder: Ist das Trainingsraumprogramm nur ein Disziplinierungsinstrument, das die Schüler zu Anpassung und Gehorsam zwingt, um damit den Lehrern den Schulalltag zu erleichtern? Im empirischen Teil der Arbeit möchte ich von der Theorie zur Praxis, indem ich mir den Trainingsraum an zwei Schulen anschaue und mit Schülern und Lehrern dieser Schulen über das Programm und dessen Umsetzung spreche. Das Hauptaugenmerk liegt hier in der Erforschung der Einstellungen von Schülern zu diesem Programm. Um dies zu erreichen, werde ich in Gruppendiskussionen einige Schüler zu Wort kommen lassen, die Erfahrungen mit diesem Programm an ihrer Schule sammeln konnten. Die Ergebnisse dieser qualitativen Interviews sind nicht repräsentativ, sie stellen vielmehr mögliche Sichtweisen der Adressaten dieses Programms dar, die bisher zu wenig zu Wort gekommen sind und die der Diskussion um das Trainingsraumprogramm neue Impulse geben könnten.

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Leseprobe

3 Die Grundlagen des Trainingsraumkonzepts


 

3.1 Die „Perceptual Control Theory" nach William T. Powers


 

Das Trainingsraumkonzept beruht auf den Erkenntnissen der „Perceptual Control Theory" wie sie William T. Powers formuliert hat. William T. Powers, Physiker und Psychologe an der Northwestern University, war im Fachbereich Astronomie tätig und stand dort außerdem dem Zentrum für Lehrerbildung beratend zur Seite. Seine Arbeit im Bereich der medizinischen Physik legte den Grundstein für seine langjährigen Forschungen im Bereich der Kontrolltheorie. Er veröffentlichte zahlreiche Artikel zu den Themen Künstliche Intelligenz, Kontrollsysteme und Verhaltenstheorie. 1973 erschien sein erstes Buch mit dem Titel: „Behavior, the control of perception", in dem er eine Alternative zu behavioristischer und psychoanalytischer Verhaltenstheorie darlegt, die er später „Perceptual Control Theory", also Wahrnehmungskontrolltheorie nannte.[24] Seine Theorie basiert auf den Prinzipien der allgemeinen Kontrolltheorie, die die Kybernetiker[25] Wiener und Ashby in den 50er Jahren in ihren Arbeiten darstellten.[26] Powers ist seit den 80er Jahren Mitglied der Control Systems Group, in der sich verschiedene Akademiker zusammengefunden haben, um sich mit der Kontrolltheorie auseinanderzusetzen, zu forschen und sie weiterzuentwickeln. Powers veröffentlichte 1998 sein fünftes Buch mit dem Titel: „Making sense of behavior. The Meaning of control".[27]

 

Die Wahrnehmungskontrolltheorie beschreibt die Kontrollfunktion des Verhaltens. Verhalten wird nicht verstanden als Reaktion auf äußere Ereignisse und Zustände, wie es in den Lerntheorien[28] der Fall ist und auch nicht als Folge von inneren, kognitiven Plänen und Berechnungen, wie das die kognitiven Theorien[29] beschreiben. Nach Powers kontrolliert das Verhalten die Wahrnehmung, so die Grundannahme dieser Theorie, mit der Powers die Lücke zwischen den genannten Verhaltenstheorien schließen will.[30]

 

Der Begriff der Kontrolle ist hier so zu verstehen, dass für jeden störenden Einfluss eine Handlung ausgeführt wird, die dieser Störung entgegenwirkt. In der deutschen Übersetzung würden die Begriffe „auf etwas aufpassen" oder „auf etwas achten" den Sachverhalt am besten beschreiben. Dabei wird nicht nur Störungen entgegengewirkt, sondern es wird ein bestimmtes Ergebnis angestrebt und zwar unabhängig von Störungen in der Umgebung, die die Handlung beeinflussen. Die Theorie über Kontrollsysteme zeigt, wie ein Verhaltenssystem es schafft, zuverlässige und wiederholbare Ergebnisse zu erreichen, in einer Umgebung, die ein großes Ausmaß an Unvorhersehbarkeit hat, in der wirklichen Welt.[31] Die Idee hinter dieser Theorie ist „[...]dass ein Verhaltenssystem Ergebnisse kontrolliert und nicht die Handlungen, die zu den Ereignissen führen [.. .][32]".

 

Das Gehirn erfasst eine Situation bzw. ein Ergebnis (kontrollierte Variable) der Umwelt über die Wahrnehmung und vergleicht dieses mit dem inneren Bild (Referenzsignal), das es von dem Ergebnis hat. Wahrnehmung und Vorstellung werden verglichen und so kann die Abweichung festgestellt und durch das entsprechende Handeln eine Übereinstimmung von äußerem Zustand und innerer Vorstellung erreicht werden. Das Gehirn plant also, welche Wahrnehmung es erreichen möchte und nicht, welche Handlungen ausgeführt werden sollen. Beim Auto fahren plant das Gehirn nicht welche Lenkbewegungen der Fahrer ausführen muss, um seine Einfahrt zu erreichen, es gibt nur das Signal, wie der Endzustand aussehen soll und der Fahrer richtet seine Handlung dementsprechend aus. Dabei kann die entsprechende Lenkbewegung immer ein wenig anders ausfallen, je nach dem, welche Störbedingungen, z.B. Seitenwind, von der Umwelt ausgehen. Das Ergebnis wird aber trotzdem so ausfallen, dass es mit dem Referenzsignal übereinstimmt, insofern es dem Fahrer möglich ist die Störbedingungen durch sein Handeln auszugleichen.[33]

 

Auf das alltägliche menschliche Verhalten bezogen sieht die beschriebene Kontrollfunktion so aus. Die Umwelt, in der wir leben verändert sich ständig, Bereiche dieser Veränderungen können zum Beispiel das Hungergefühl, Nähe oder Distanz zu Sachen und Personen, das Sozialverhalten eines Schülers und vieles mehr sein. Ist eine dieser Variablen für einen Menschen von Bedeutung, wählt er für diese einen seinen Kriterien entsprechenden optimalen Bereich oder einen besten Zustand aus (z.B. der Schüler sollte kooperativ sein). Diese Auswahl kann unbewusst erfolgen. Im nächsten Schritt wirkt der Mensch in geeigneter Weise auf sich und seine Umwelt ein, um eine Wahrnehmung zu erzeugen, die mit diesem optimalen Bereich übereinstimmt. Werden Störungen wahrgenommen, die die Zielerreichung negativ beeinflussen, wird der Mensch versuchen Handlungen durchzuführen, die diese störenden Einflüsse ausgleichen.[34]

 

Menschliches Verhalten ist somit zielstrebig, wobei mit dem Begriff Ziel, Überzeugungen, Einstellungen und konkrete Absichten bezeichnet werden. Überzeugungen und Einstellungen sind allgemeine Ziele, die konkrete Ziele festlegen, die, je konkreter sie sind umso leichter zu verändern sind. Sie werden dann verändert, wenn es zur Erreichung eines allgemeineren Ziels notwendig ist. Der Mensch kontrolliert also die Zielerreichung auf verschiedenen Ebenen mit Hilfe der Wahrnehmung und handelt so, dass der erwünschte Zustand auf den verschiedenen Ebenen erzeugt wird, möglichst bestehen bleibt oder wiederhergestellt wird.[35] Der Trainingsraum arbeitet mit dieser Zielstrebigkeit des Menschen, sie wird an den verschiedenen Entscheidungspunkten des Programms genutzt. Hier soll durch das Programm bei den Schülern das Ziel im Klassenraum zu bleiben und sich an die Regeln zu halten, über ihren anderen Zielen stehen, so dass sich ihr Verhalten danach orientiert, dass sie diesen Zustand erreichen.

 

3.2 Das „Responsible Thinking Program" nach Edward E. Ford


 

Der Ursprung des Trainingsraumprogramms liegt in Phoenix, Arizona. Dort wurde es 1994 von dem Sozialarbeiter Edward E. Ford auf der Grundlage der Wahrnehmungskontrolltheorie entwickelt und an einer Schule in Arizona erstmals eingeführt. Mittlerweile hat sich das Programm sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in anderen Ländern verbreitet.[36]

 

Edward Ford war in der US Navy, arbeitete dann als Journalist und später in einem Büro einer Stahlfirma. Schließlich unterrichtete er sechs Jahre an einer Highshool, machte seinen Abschluss in Sozialarbeit und war beratend für verschiedene Einrichtungen tätig. Während dieser Zeit ließ er sich in „Reality Therapie[37]" ausbilden und war als Trainer und Berater an Schulen und anderen Institutionen in Ohio tätig. In den letzten dreißig Jahren war Ford in der Alkohol- und Drogentherapie, psychiatrischen Einrichtungen, in zahlreichen Schulbezirken und an der Fakultät für Sozialarbeit der Arizona State University's School als Lehrer und Berater tätig. Außerdem ist er Leiter der „Control System Group" die für die Entwicklung und Verbreitung der „Perceptual Control Theory" zuständig ist, und hat bisher 13 Bücher veröffentlicht. Nicht zuletzt berät und trainiert er Schulen, die den „Responsible Thinking Process" an ihren Schulen einführen möchten.[38]

 

Das „Responsible Thinking Program" entwickelte Ford für den Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die Probleme haben, sich angemessen zu verhalten. Angemessen meint hier, sich an die in den entsprechenden Umgebungen geltenden Verhaltensregeln zu halten und anderen Menschen respektvoll zu begegnen. Voraussetzung für ein angemessenes, nicht störendes Verhalten ist, so die Grundidee, die Fähigkeit verantwortungsvoll (eigenverantwortlich) zu denken und zu handeln, also sein Handeln im Kontext der jeweiligen Umwelt und der jeweiligen Rechte und Bedürfnisse anderer Menschen zu reflektieren und so zu handeln, das eigene Ziele erreicht werden, ohne die Rechte anderer zu verletzen. Eigenverantwortliches Denken, so Ford, bildet die Grundlage für ein zufriedenes Leben und ist die Voraussetzung für ein angenehmes Miteinander in Familie, Schule und anderen Institutionen, in denen Menschen miteinander umgehen und leben.[39]

 

Die Grundgedanken und Umsetzungsmöglichkeiten seines Programms beschreibt Ford in drei Büchern, die den Titel „Discipline for home and shool" tragen. Wie im Titel deutlich wird, ist der „Responsible Thinking Process" nicht nur für die Schule anwendbar, sondern auch als Elterntrainingsprogramm gedacht. Ich möchte hier aber in erster Linie auf das Konzept für Schulen eingehen, da dies die Grundlage für das deutsche Trainingsraumprogramms darstellt.

 

Ford ist ein Anhänger der Reality Therapie, die auf der Grundlage der Wahltheorie davon ausgeht, dass Menschen ihre psychologischen Bedürfnisse nach Liebe, Geborgenheit, Stärke, Freude und Freiheit auch als ein physiologisches Bedürfnis nach Überleben oder Arterhaltung erfüllen wollen. Das Verhalten würde nicht von der Außenwelt oder der Vergangenheit determiniert, so die Grundidee, sondern das Verhalten wird als Wahl oder Entscheidung des Menschen betrachtet. Ein Mensch wählt entsprechend dieser Theorie funktionales oder disfunktionales Verhalten, um ein zur Zeit nicht erfülltes Bedürfnis zu erfüllen. Im Gegensatz zu Glassers Wahltheorie, die die Bedeutung der Bedürfnisse des Menschen betont, misst...

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