Sie sind hier
E-Book

Das Vaterunser

AutorFriedrich Rittelmeyer
VerlagVerlag Urachhaus
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl159 Seiten
ISBN9783825161064
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Seit seinem Erscheinen im Jahr 1935 gehört dieses Buch über das Vaterunser zu den Klassikern der religiösen Literatur und zum Bedeutendsten, was über dieses Urgebet der Christenheit geschrieben wurde. Voraussetzungslos und in klarer und verständlicher Sprache erschließt es seinen Lesern die Tiefendimensionen des Textes und regt zur eigenen meditativen Erarbeitung an.

Friedrich Rittelmeyer, geboren 1872 in Dillingen an der Donau, wuchs in der Atmosphäre eines protestantischen Pfarrhauses auf. Nach dem Studium der Theologie und Philosophie 1890 bis 1894 in Erlangen und Berlin promovierte er mit einer Arbeit über Nietzsche und das Erkenntnisproblem. Von 1903 bis 1916 war er in Nürnberg als Prediger tätig, danach in Berlin, bis er 1922 die Christengemeinschaft mitbegründete, deren Leitung er bis zu seinem Tod im Jahr 1938 innehatte.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

    VATER UNSER, DER DU BIST IN DEN HIMMELN


Wichtig ist bei Gebeten, viel wichtiger, als man gemeinhin denkt, die Anrede. Viele Gebete der Menschen von heute haben keine Anrede mehr. Oder, wo sie noch da ist, ist sie doch nicht mehr da. Ihr Inhalt macht sich nicht geltend in der Seele. So versäumt es der Mensch, sich die Welt erst einmal bewusst zu machen, in die er eintritt. Er geht in den Tempel nicht durch das Tor mit der Überschrift, sondern gerät aus dem Alltag wie aus Versehen ins Tempelgehege. Viele, sehr viele Gebete würden nicht gesprochen werden, wenn man sich über die Anrede besänne. Und alle Gebete würden sich ändern.

Andere Gebete bestehen nur aus Anrede. Prachtvolle Hymnen sind darunter. Wir lernen aus ihnen, wie Menschen vergangener Jahrhunderte in der reinen Anbetung wohnen konnten. Sie schauten ihren Gott an, mit ihrem Geist, stundenlang, und waren genesen.

Oft aber tragen solche Gebete auch in der Anhäufung der göttlichen Namen und Eigenschaften die Zeichen des Verfalls an der Stirne. Man denkt an Goethes Vater, der seine Geige länger stimmte, als er auf ihr spielte.

Die Anrede des Vaterunsers ist kurz, aber schwer von Himmel und Erde. Sie ist klar, nicht verschwimmend nebelhaft. Sie wählt die einfachsten, allgemein verständlichsten Worte, aber sie umspannt die Weite des Weltalls und erschöpft seine Tiefe. Man kann keine schlichtere und größere Anrede erfinden. Sie ist für alle Völker und Zeiten.

Gebete, die von großen Menschheitsführern gegeben sind, erziehen die Menschheit. Sie bilden an den Grundlebensgefühlen. Wenn sie vieltausendmal im Laufe der Jahrhunderte gebetet werden, dann greifen sie tief in das Menschenwesen ein. Langsam wird der Mensch erschaffen, wie er nach dem Willen seiner großen Führer werden soll.

Wie ganz anders war die Menschheitserziehung im alten Indien und im alten Israel! Wie ganz anders in den ägyptischen Sonnenliedern und im Koran! Den Geist der Gebete atmen ganze Generationen ein, selbst wenn ihr Beten ins halb-bewusst Mechanische abgleitet.

Die Grundstimmungen, die schon durch die Anrede des Vaterunsers im Menschen herangebildet werden, geben dem Menschen ein neues Lebensgefühl mit dem Wort »Vater«. Sie geben ihm ein neues Weltgefühl mit dem Wort »unser«. Sie geben ihm ein neues Menschgefühl mit dem Wort »in den Himmeln«.

Diese Anrede stellt den Menschen neu hinein in Raum und Zeit. Der Mensch blickt in die Vergangenheit, in sein eignes Geworden-Sein und in das Werden der Welt und sagt: Vater.

Er blickt in die Zukunft, erkennt seine Würde und Bestimmung und sagt: Himmel.

Wie er aber eine neue Zeit bekommt, so empfängt er auch einen neuen Raum, einen geistigen Raum, in dem er fortan leben kann. Er blickt in die Tiefe, auf der er steht, und sagt: Vater. Er blickt in die Weite, die ihn umgibt, und sagt: unser. Er blickt in die Höhe, die sich über ihm wölbt, und sagt: Himmel.

Neu steht der Mensch in Raum und Zeit.

Aufrecht steht der Mensch da in der Anrede des Vaterunsers. Ja er fühlt wirklich: Ich werde mit meinem ganzen Wesen aufgerichtet, wenn ich das Wort Vater aussprechen darf. Was ich als Kind unbewusst vollzog, dass ich mich aufrichtete von der Erde und Mensch wurde, das vollziehe ich jetzt frei, bewusst, vollmenschlich. Das äußere Aufrichten von einst war ein Bild für das, was einmal aus dem Ich heraus geschehen soll. Wer sich aber nicht aufrichtet, kriecht am Boden dahin und vermag nur nach den Seiten zu schauen.

Wie das Wort »Vater« das rechte Aufrechtstehen bringt, die wahre Menschenwürde, so führt das Wort »unser« zu einem neuen Sprechen-Lernen. Erst wenn das Brudergefühl gegen alle Wesen ihm den Sinn öffnet und die Sprache der Seele schenkt, lernt der Mensch die anderen Geschöpfe wirklich hören, lernt er zu ihnen reden. Es gibt nur eine Sprache, die alle Wesen verstehen, das ist die Liebe. Wer sie nicht lernen will, bleibt ein Fremdling in dieser Welt. Denn diese Welt ist aus der Liebe geboren.

Die »Himmel« aber lehren ihn, sich selbst zu finden. Nur wenn er sein eigenes Wesen herabholt aus unsichtbaren Reichen, löst er die Frage seines Daseins. Unser Name ist »im Himmel geschrieben«. Sonst bleibt der Mensch beim Tier. Er weiß nicht, »woher er gekommen und wohin er geht«. Er irrt als ewiges Rätsel umher. Auch durch die Dinge, die er sieht, muss der Mensch hindurchblicken, auf ihre »Idee«, auf ihren »geistigen Hintergrund«. Er muss sie dort aufsuchen, wo sie aus dem »Geist« kommen, wenn er »erkennen« will. – So lernt er, nun in einem höheren Sinn, was das Kind als seine dritte Kunst in den ersten drei Jahren gelernt hat: Ich-Sagen und damit das Feld des Denkens betreten.

Wirklich: Der Mensch vollbringt in Freiheit wesenhaft, was er sich selbst als Kind vormachte, als er sich aufrichtete, sprechen lernte, Ich sagte.

Die Anrede des Vaterunsers ist des Menschenrätsels Lösung. Wir finden den Menschen durch das Wort »Vater«. Wir finden die Menschlichkeit durch das Wort »unser«. Wir finden das Menschentum durch das Wort »Himmel«. –

So sinken nun auch die drei Vorwürfe zusammen, die gegen das Gebet immer erhoben worden sind. Das Gebet versklave den Menschen und raube ihm seine Menschenwürde. Wir sahen, wie der Mensch gerade seine Menschenwürde erhält durch das Wort »Vater«. – Das Gebet entfremde den Menschen dem Leben und mache ihn unbrauchbar. Wir sahen, wie der Mensch die rechte Lebensfähigkeit gewinnt durch das Wort »unser«. – Das Gebet sei unnütz und verdumme den Menschen. Wir sahen, wie der Mensch zu seiner Bestimmung erwacht durch das Wort »Himmel«.

Durch die Anrede des Vaterunsers schimmert auch das größte Erlebnis durch, das je ein Mensch auf der Erde gehabt hat. Mit diesen Worten hat Rudolf Steiner die Stunde geschildert, in der Jesus zu Christus wurde in der Jordan-Taufe.

Die Bibel erzählt es in drei Sätzen.

»Die Himmel taten sich auf.« Unendliche Perspektiven öffneten sich hinter dem alltäglichen Sinnessein. Und alles war Geist, und alles war Güte. Aus allen Hintergründen des Daseins sprach die Stimme des »Vaters«. – Im Wort »Vater« des Vaterunsers hat uns Christus dieses Erlebnis zurückgelassen.

Was aber die Stimme des Vaters zu sagen hatte in der Geistessprache, ist uns in der Menschensprache zweifach überliefert. »Du bist mein geliebter Sohn, heute habe ich dich gezeugt!« Und: »Du bist mein geliebter Sohn, auf dem mein Wohlgefallen ruht!« – Geisteserlebnisse gewaltiger Art haben eine Inhaltsfülle, die sich in menschlicher Sprache mannigfach ausdrücken lässt. Aber das Wort »geliebter Sohn« ist immer da und steht im Mittelpunkt. Eine Wolke unausdenklicher Weltenliebe hat Christus in diesem Augenblick voller Güte eingehüllt.

Als Christus über die Erde ging, nannte er die Menschen, die sich zu ihm fanden, seine »Jünger«. Als er zu ihnen reden konnte von den Geheimnissen seines Werkes, ernannte er sie zu seinen »Freunden« (Joh. 15,15). Als er auferstanden zu ihnen zurückkehrte, erhob er sie zu seinen »Brüdern« (Joh. 20,17). Der »geliebte Sohn« hat uns zu seinen Brüdern ernannt. – Das lebt weiter in dem Wort »unser« der Anrede. Dieselbe unausdenkliche Weltenliebe hüllt auch uns ein.

Aus dem aufgetanen Himmel aber kam der Geist herab und blieb fortan auf ihm ruhen. Darin blieb der Himmel auf der Erde, auch wenn die »aufgetanen Himmel« ihre Unendlichkeiten wieder verschlossen. Nun nicht bloß der Himmel über ihm, sondern der Himmel in ihm. Der »Heilige Geist« ist der Himmel auf der Erde, will der Himmel in uns werden.

Wir haben also in den ersten Worten des Vaterunsers den Nachglanz des größten Erlebnisses, das je ein Mensch hatte. Wir haben in diesen Worten das Christus-Erlebnis selbst, so wie Christus es seinen Jüngern, Freunden, Brüdern als Geschenk zurückgelassen hat. Wir können in diesen Worten immer wieder selbst eine Christus-Taufe empfangen.

Aber meinen wir, das Christus-Erlebnis bei der Jordan-Taufe sei nur einmalig gewesen und dann für immer dahingegangen? In ihm ist uns vielmehr der Himmel geschildert, der allezeit über Christus stehen blieb.

Jeder Mensch hat seinen eigenen Himmel. Schon äußerlich. Wenn zwei Menschen nebeneinander stehen, ist der Himmel über ihnen schon nicht ganz der gleiche. Und welche verschiedenen Himmel haben der Schwarze und der Eskimo, der Amerikaner und der Chinese.

Jeder Mensch hat auch seinen eigenen inneren Himmel, der sich aus seinen Idealen wölbt. Könnten wir diese inneren Himmel – was manchmal möglich ist – durch die Augen der Menschen hindurch erahnen: Wie viel größer noch wären die Verschiedenheiten! Der Himmel über einem Buddha – und der Himmel über einem Goethe! Und der Himmel über einem kanadischen Farmer!

In der Anrede des Vaterunsers treten wir unter den inneren Himmel Christi. Wir sind bei ihm in seiner Welt. Wir atmen mit ihm die gleiche Luft. Wir beten an unter demselben Geistgewölbe. Das wölbt sich nach der Höhe: Vater in den Himmeln. Und nach der Weite: unser.

Es ist wirklich der innere Himmel Christi. Denn wir sehen ja seinen Widerschein auf allen seinen Worten und Taten.

Ob der äußere Himmel draußen hell oder trüb...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Nachschlagewerke Philosophie

Nietzsche-Wörterbuch Bd 1

E-Book Nietzsche-Wörterbuch Bd 1
Abbreviatur, einfach Format: PDF

Das Nietzsche-Wörterbuch ist das erste umfassendes Lexikon speziell zu Nietzsches Vokabular. Insgesamt werden etwa 300 Begriffe eingehend erläutert, 67 davon im ersten Band. Berücksichtigt werden u.…

Leben mit Lärm?

E-Book Leben mit Lärm?
Risikobeurteilung und Regulation des Umgebungslärms im Verkehrsbereich Format: PDF

Verkehrslärm ist lästig und leistungsmindernd; er birgt darüber hinaus auch gesundheitliche Risiken. Die kontinuierliche Zunahme des Verkehrs entfacht daher gesellschaftliche Konflikte um Mobilität…

Leben mit Lärm?

E-Book Leben mit Lärm?
Risikobeurteilung und Regulation des Umgebungslärms im Verkehrsbereich Format: PDF

Verkehrslärm ist lästig und leistungsmindernd; er birgt darüber hinaus auch gesundheitliche Risiken. Die kontinuierliche Zunahme des Verkehrs entfacht daher gesellschaftliche Konflikte um Mobilität…

Leben mit Lärm?

E-Book Leben mit Lärm?
Risikobeurteilung und Regulation des Umgebungslärms im Verkehrsbereich Format: PDF

Verkehrslärm ist lästig und leistungsmindernd; er birgt darüber hinaus auch gesundheitliche Risiken. Die kontinuierliche Zunahme des Verkehrs entfacht daher gesellschaftliche Konflikte um Mobilität…

Leben mit Lärm?

E-Book Leben mit Lärm?
Risikobeurteilung und Regulation des Umgebungslärms im Verkehrsbereich Format: PDF

Verkehrslärm ist lästig und leistungsmindernd; er birgt darüber hinaus auch gesundheitliche Risiken. Die kontinuierliche Zunahme des Verkehrs entfacht daher gesellschaftliche Konflikte um Mobilität…

Konflikt

E-Book Konflikt
Format: PDF

Ziel des vorliegenden Bandes ist es, das Thema Konflikt umfassend und in seiner ganzen Breite aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen zu behandeln. Wie gehen Primaten, Menschen wie Tiere,…

Konflikt

E-Book Konflikt
Format: PDF

Ziel des vorliegenden Bandes ist es, das Thema Konflikt umfassend und in seiner ganzen Breite aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen zu behandeln. Wie gehen Primaten, Menschen wie Tiere,…

Konflikt

E-Book Konflikt
Format: PDF

Ziel des vorliegenden Bandes ist es, das Thema Konflikt umfassend und in seiner ganzen Breite aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen zu behandeln. Wie gehen Primaten, Menschen wie Tiere,…

Konflikt

E-Book Konflikt
Format: PDF

Ziel des vorliegenden Bandes ist es, das Thema Konflikt umfassend und in seiner ganzen Breite aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen zu behandeln. Wie gehen Primaten, Menschen wie Tiere,…

Wer bin ich - und wenn ja wie viele?

E-Book Wer bin ich - und wenn ja wie viele?
Eine philosophische Reise Format: ePUB

'Fragen zu stellen ist eine Fähigkeit, die man nie verlernen sollte.' (Richard David Precht)Eine faszinierende Reise in die Welt der Philosophie - Richard David Prechts Buch bietet Antworten auf die…

Weitere Zeitschriften

arznei-telegramm

arznei-telegramm

Das arznei-telegramm® informiert bereits im 53. Jahrgang Ärzte, Apotheker und andere Heilberufe über Nutzen und Risiken von Arzneimitteln. Das arznei-telegramm®  ist neutral und ...

BEHINDERTEPÄDAGOGIK

BEHINDERTEPÄDAGOGIK

Für diese Fachzeitschrift arbeiten namhafte Persönlichkeiten aus den verschiedenen Fotschungs-, Lehr- und Praxisbereichen zusammen. Zu ihren Aufgaben gehören Prävention, Früherkennung, ...

Card-Forum

Card-Forum

Card-Forum ist das marktführende Magazin im Themenbereich der kartengestützten Systeme für Zahlung und Identifikation, Telekommunikation und Kundenbindung sowie der damit verwandten und ...

dental:spiegel

dental:spiegel

dental:spiegel - Das Magazin für das erfolgreiche Praxisteam. Der dental:spiegel gehört zu den Top 5 der reichweitenstärksten Fachzeitschriften für Zahnärzte in Deutschland (laut LA-DENT 2011 ...

Deutsche Tennis Zeitung

Deutsche Tennis Zeitung

Die DTZ – Deutsche Tennis Zeitung bietet Informationen aus allen Bereichen der deutschen Tennisszene –sie präsentiert sportliche Highlights, analysiert Entwicklungen und erläutert ...

dima

dima

Bau und Einsatz von Werkzeugmaschinen für spangebende und spanlose sowie abtragende und umformende Fertigungsverfahren. dima - die maschine - bietet als Fachzeitschrift die Kommunikationsplattform ...

e-commerce magazin

e-commerce magazin

PFLICHTLEKTÜRE – Seit zwei Jahrzehnten begleitet das e-commerce magazin das sich ständig ändernde Geschäftsfeld des Online- handels. Um den Durchblick zu behalten, teilen hier renommierte ...

Eishockey NEWS

Eishockey NEWS

Eishockey NEWS bringt alles über die DEL, die DEL2, die Oberliga sowie die Regionalligen und Informationen über die NHL. Dazu ausführliche Statistiken, Hintergrundberichte, Personalities ...