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Das vergebliche Ringen um politische Teilhabe. Die Frühphase der britischen Arbeiterbewegung (1820?1850) anhand William Lovett

AutorFrank A. Hoffmann
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl100 Seiten
ISBN9783656850748
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis27,99 EUR
Masterarbeit aus dem Jahr 2014 im Fachbereich Geschichte Europa - and. Länder - Neuzeit, Absolutismus, Industrialisierung, Note: 1,8, FernUniversität Hagen (Historisches Institut), Veranstaltung: Studiengang: Master Europäische Moderne, Sprache: Deutsch, Abstract: 'Lovett's carreer [...] is an epitome of the social confusion in which the working classes were plunged during the passage of industry from the old order to the new' schrieb R.H. TAWNEY 1920 in der Einführung zur Neuauflage der Autobiographie William Lovetts (1800?1877) aus dem Jahre 1876. Die Zeitspanne von 1820?1850 deckt Lovetts politisch aktivste Phase ab und beinhaltet innerhalb des 'aufhaltsamen Aufstiegs der britischen Arbeiterklasse, 1815?1880' ? wie MANN ihn nannte ? 'die ohnmächtige Revolte der Arbeiterschaft (1830?1847)' . Unmittelbar nach Peterloo umfasst die Frühphase der britischen Arbeiterbewegung neben fortgesetzter Selbstfindung der Arbeiterklasse u.a. die Aufhebung der Combination Laws und die Wiederzulassung von Gewerkschaften, die Great Reform Bill von 1832, die Genossenschaftsbewegung sowie den Chartismus. Zudem habe in England in jener Phase tatsächlich die Gefahr einer Revolution bestanden. Lovett beschreibt viele dieser Ereignisse und Strömungen. Er war mehr oder minder beteiligt: Als Angehöriger der Arbeiterklasse, als Beobachter, Handelnder, Initiator oder Führungsperson sowie als Partner oder Gegner zeitgenössischer Protagonisten. Autobiographien sind zweifellos nicht frei von Subjektivität, haben jedoch den Vorteil der Unmittelbarkeit, der Beobachtung aus erster Hand. Die Auswahl an Berichtenswertem lässt Rückschlüsse auf Eigenschaften, Werte und Anschauungen des Beobachters zu und bildet so ein wertvolles Zeitzeugnis. Für TAWNEY ist Lovetts Autobiographie sogar 'more than the mere autobiography which its title might suggest' . Die folgende Arbeit unternimmt den Versuch, die Frühphase der britischen Arbeiterbewegung anhand Lovetts Leben zu verfolgen. Deren wesentliche Strukturen, Ereignisse oder Entwicklungen sollen an seinem Leben gespiegelt und beispielhaft vertieft werden oder als Komplement dienen, wenn seine Erfahrungen oder Handlungen (zu) singulär sind. Die Betrachtung muss eine gewisse Spannbreite zulassen, die von unmittelbarer Beteiligung an Ereignissen, Strukturen und Entwicklungen der Hauptströmung bis zur Bekämpfung, Gegenposition oder paralleler Aktivität reicht, die ggf. auch erst nach dem Betrachtungszeitraum wieder in die britische Arbeiterbewegung einmündet. Lovetts Darstellungen werden nicht als alleinige Grundlage herangezogen und plausibilisiert. [...]

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Leseprobe

3. Kindheit, Jugend und Lehrzeit der labouring poor


 

Kinder waren schon in der vorindustriellen Zeit früh in den Arbeitsprozess eingebunden. „Das Kind war ein wesentlicher Bestandteil der ländlichen und gewerblichen Wirtschaft [schon] vor 1780 und blieb es, bis es durch die Schule gerettet wurde“[23]. Da das Einkommen der Kinder für die Familien notwendig war, hatte deren schulische Erziehung keine Priorität. „The poorer families were unable or unwilling to sacrifice the wages that their children could earn to add to the familiy income“[24]. Sog. dame−schools wurden von einer einzelnen Dame geführt, die eher Kinderhüterin als ausgebildete Lehrerin war. Sie nahm die Kinder in ihrem eigenen Haus in Obhut, erhielt einige Pennies pro Woche, um den Kindern das Alphabet oder das Nähen beizubringen. Die Kinder spielten, aber lernten nicht sehr viel.[25] In Sonntagsschulen, die die Kirchen betrieben, sollten die Kinder den christlichen Glauben kennenlernen. Lesen war dafür eine notwendige Fähigkeit, den Kindern das Schreiben beizubringen dagegen „ein schrecklicher Mißbrauch des Sabatts“[26]. Die eigentlichen Schulen der Armen waren – wenn es welche gab[27] − die ragged schools, Einraumschulen, oft in alten Scheunen. Die angebotene Erziehung

 

was of poorest quality. Schoolmasters were often men or women who had been disabled by accidents in the factory, or failed to earn their livelyhood in any other occupation [...] sometimes they could not even write themselves. [28]

 

Ältere Kinder, die über Grundkenntnisse verfügten, wurden als Mentoren für die jüngeren eingesetzt, um Geld zu sparen. Lovett schreibt über seine Schulbesuche, die mit 6 oder 7 Jahren begannen:

 

I was sent to all the dame−schools of the town before I could master the alphabet. [...] I was instructed to read by my great−grandmother [...]. I was then sent to a boy’s school to learn ‚to write and cypher’, thought at that time to be all the education required for poor people. [29]

 

Die Schulausbildung Lovetts ist mit der anderer Arbeiterkinder und auch anderer, späterer, politischer Akteure der Arbeiterschaft vergleichbar.[30] Der Schumacher und Gewerkschaftler Abraham Hanson „had no formal education to speak of, joking that he had been schooled in the ‚College of Nature“[31].

 

Kinder mussten zum Teil sehr früh anfangen zu arbeiten. So schildert z.B. ein betagter Töpfer in seinen Memoiren seine schwere und gefährliche Arbeit als er sieben Jahre alt war.[32] Richard Pilling (1800−1874), Sohn eines Handwebers in Lancashire, musste vom 10. Lebensjahr an als Weber arbeiten, über seine Schulbildung ist nichts bekannt. Im Alter von 20 hatte er so schon ein Jahrzehnt an Arbeitserfahrung als Handweber, mit 25 fand er Arbeit in einer Maschinenweberei.[33]

 

Kinder, die nicht unmittelbar Geld für die Familie verdienen mussten, begannen mit 12 oder 13 Jahren eine Lehre. Diese hatte seit der elisabethanischen Gesetzgebung eine vorgeschriebene Dauer von 7 Jahren; der Lehrherr durfte in einigen Berufen nur eine Höchstzahl von Lehrlingen beschäftigen.[34] Die Durchschnittsgröße einer Handwerkerwerkstatt lag bei dem Meister und 3−7 Lehrlingen. „Then childhood was over, they began contributing to the familiy income“.[35]

 

Lovett erlernte als Sohn einer Fischerfamilie ohne Vater, der vor seiner Geburt verstarb, ab dem 13. Lebensjahr in einer Hafenstadt Cornwalls (Newlyn) das Seilerhandwerk bei einem Onkel als einer von zwei Lehrlingen für 5s pro Woche.[36] Der Onkel hatte bis dahin Erfolg in seinem Beruf. Im Handwerk kannte man noch keine Arbeitsteilung, Lovett musste so alle Facetten des Berufs erlernen. Die Lehrzeit war hart. Manchmal mochte er abends vor Müdigkeit kaum noch essen. Er hatte handwerkliches Geschick und fand noch die Zeit, gelegentlich bei einem Tischler am Ort auszuhelfen. Er baute sich selbst eine Drehbank und machte sich mit den Werkzeugen und fachlichen Anforderungen eines Tischlers vertraut, indem er Kästchen und Kleinmöbel fertigte. Sein Meister bekam zunehmend geschäftliche Schwierigkeiten. Seile wurden immer mehr durch Ketten ersetzt. Durch den Magistrat musste er gezwungen werden, seinem Lehrling Lovett ausstehenden Lohn zu zahlen. Da Seilerei keine Zukunft hatte und wegen seiner eigenen Probleme, löste der Meister Lovett aus dem Ausbildungsvertrag. Aufgrund unüberwindbarer Seekrankheit konnte er nicht in die Fischerei und versuchte es bei einem Tischler, der seine handwerklichen Fähigkeiten kannte. Doch andere Lehrlinge gingen dagegen vor, weil ein Seiler nicht bei einem Tischler arbeiten durfte. Der Tischlermeister hatte Angst vor gesetzlichen Konsequenzen, und so war Lovett wieder arbeitslos. Er ging auf Arbeitssuche nach London. Durch den Verkauf eines Damenkleinmöbels und einiger Teewagen hatte er 30s Startkapital in der Tasche als er 1821 mit 21 Jahren dort ankam. Er versuchte vergeblich, als Seiler zu arbeiten. Ein paar Gelegenheitsarbeiten als Tischler hielten ihn gerade so über Wasser, er lebte von penny loafs[37], die er noch mit Leidensgenossen teilte, und Wasser aus öffentlichen Brunnen. Nach einigen Fehlschlägen hatte er sogar schon trotz seiner Abneigung gegen die See auf einem Schiff anheuern wollen. Er kam schließlich durch einen Freund bei einem Möbeltischler für ein Jahr und 21s pro Woche unter. In die Berufsvereinigung der Möbeltischler durfte er als Seiler nicht eintreten. Die Kollegen wollten ihn aus der Werkstatt vertreiben, da er das Handwerk nicht gelernt hatte. Lovett überzeugte sie, ihn zu dulden, musste dafür aber einen großen Teil seines Lohnes (7s/Woche) abgeben und sie regelmäßig mit Getränken versorgen. Er hielt 5 Jahre durch, die für den Beitritt zur Möbeltischlervereinigung erforderlich waren, wurde Mitglied (später sogar Präsident) und hatte jetzt den Abschluss in einem Fachhandwerk mit besseren Zukunftsaussichten. Dabei wurde bei den Schneidern, Schuhmachern, Möbeltischlern u.a. in London ein ehrenhafter und ein unehrenhafter Sektor unterschieden. Der eine stand für Luxusgüter und Höchstqualität, der andere für billige und schmutzige Arbeit, also z.B. einfache oder furnierte Möbel, Unterauftragsnehmerarbeit beim Kirchenbau, für Behörden oder die Armee.[38] LOVETT macht dazu keine weiteren Ausführungen. Nach WIENER gehörten die Möbeltischler nicht zu den Arbeiteraristokraten, sie waren weniger angesehen als andere Fachhandwerker.[39]

 

Das Absolvieren einer Lehre war das Grundunterscheidungsmerkmal innerhalb der Arbeiterschaft im 18. Jahrhundert gewesen.[40] Neben dem gelernten Arbeiter, dessen Karriere über den Gesellen zum kleinen Meister − oft in einer Berufsvereinigung organisiert − verlaufen konnte, mühte sich der ungelernte Arbeiter ohne formale Ausbildung und − vor der weiteren Verbreitung der Gewerkschaften − ohne irgendeine Organisation, die ihn schützen konnte. Die zum Ende des 18. Jahrhunderts aufkommende Fabrikarbeit verlangte neue Fertigkeiten (z.B. Maschinenbedienung), die sich oft in Wochen statt in Jahren erlernen ließen, auch Frauen und Kinder konnten sie sich aneignen. Einer formalen Lehrlingszeit (mit Ausnahmen wie z.B. bei den Maschinenbauern) bedurfte es nicht. Dadurch boten sich auch Chancen für die, die durch den Wandel in der Wirtschaft in alten Berufsfeldern in Bedrängnis geraten waren.

 

Der Pfarrerssohn Thomas Dunning arbeitete mit 13 drei Jahre als Hausdiener, um danach eine Lehre als Schuh− und Stiefelmacher zu absolvieren.[41] Im Gegensatz zum Handwerker Lovett und dem gelernten Schuhmacher Dunning gehörte John James Bezer, Sohn eines trunksüchtigen Friseurs, nach schwerer Erkrankung des Vaters zu den ungelernten sog. outdoor paupers, den Armen, die Unterstützung von der Gemeinde zum Lebensunterhalt erhielten. Er musste von Kindesbeinen an mit seiner Mutter Geld hinzuverdienen, um mit der Gemeindeunterstützung von 4s/Woche zu überleben. Er verkaufte Brötchen auf der Straße und bettelte im Alter von 9 Jahren halb verhungert Spaziergänger um einen Job als Botenjunge an. Eine seinerzeit nicht unübliche Karriere für Jungen in London, die bis zu 17 Stunden am Tag 6 Tage die Woche arbeiten mussten. Er beschrieb seine Wohnsituation in einem Keller als:

 

A room, or rather a cell (we paid 2s. 3d. rent weekly, for the blessed privilege of breathing in the accumulated filth below); a hole in which the bugs held a monster public meeting every night.[42]

 

Er wechselte die Arbeitgeber, war Handlanger und Hilfsarbeiter, arbeitslos und bettelnder Straßensänger. Bei der Geburt seines ersten Kindes wurde er als town traveller erfasst. Er schlug sich danach ohne Lehre mit wechselnden Berufsbezeichnungen durchs Leben.

 

Lovett, Dunning und Bezer gehörten alle der Unterschicht an, zählten zu den working classes. Sie mussten sich dennoch auf ganz unterschiedliche Weise den Herausforderungen der Industrialisierung stellen. Lovett lebte in London als Fachhandwerker, der zwar um seine Existenz kämpfen musste, aber kein Elend erlebte, wie es in Industriestädten herrschte. Dunning lebte in der Provinz und Bezer als einer der 100000 Armen Londons.

 

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