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Das Verhältnis von Religion und Tod in der modernen Gesellschaft und seine Auswirkungen auf die individuelle Bearbeitung der Sterblichkeitsproblematik

AutorAntje Kahl
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2004
Seitenanzahl105 Seiten
ISBN9783638330381
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2004 im Fachbereich Kulturwissenschaften - Allgemeines und Begriffe, Note: 1,3, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) (Kulturwissenschaftliche Fakultät), 115 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Der Tod ist eine anthropologische Tatsache, an der kein Mensch vorbei kommt. Genauer gesagt: Die menschliche Sterblichkeit ist eine anthropologische Tatsache. Der Tod selbst 'läßt sich nicht umstandslos als Erkenntnisgegenstand konstituieren' (Macho 2000: 91), da er nicht reflektierbar ist. Was der Tod ist und wann er eintritt, ist eine Definitionsfrage, deren Antwort je nach Kultur und Zeit verschieden ausfällt. Den Tod an sich gibt es nicht, jedenfalls ist er der soziologischen Beobachtung nicht zugänglich. Was untersucht werden kann, ist der Tod als Ereignis des Lebens, der Umgang der Lebenden mit dem Tod und seine Deutung durch sie. Nach Berger und Luckmann (1969) stellt der Tod die oberste Grenzsituation im menschlichen Leben dar. Grenzsituationen muss ein Platz innerhalb der Lebenswelt zugewiesen werden. Sie müssen mit Sinn versehen werden, damit der Mensch auch in ihrem Angesicht sein Dasein nicht als sinnlos und die Wirklichkeit der Alltagswelt nicht als ungesichert und zweifelhaft empfindet. Der Tod muss demzufolge deutend legitimiert werden, um die Wirklichkeit der Alltagswelt nicht ins Wanken zu bringen. Im Großteil der Menschheitsgeschichte geschah dies mit Hilfe von Religion, wobei die jeweiligen religiösen Deutungsmuster sowohl in verschiedenen Zeiten als auch von Gesellschaft zu Gesellschaft variierten. Der Zusammenhang von Religion und Tod lässt sich leicht herstellen: Religion als die Beschäftigung mit dem Transzendenten, Nicht-Sinnlichen bietet beste Bedingungen für die Auseinandersetzung mit dem Tod als dem Ende des sinnlich erfahrbaren Lebens. Der Tod wird durch die Religion besonders wirkungsvoll legitimiert, da es aufgrund ihrer Fähigkeit zur Transzendierung durch sie möglich ist, die gesamte Wirklichkeit der Alltagswelt zu überhöhen und in einen kosmischen Bezugsrahmen zu setzen, in dem jedes menschliche Phänomen seinen festen Platz hat (Berger 1973). Je fester die Plausibilitätsstrukturen einer Religion in der Gesellschaft verankert sind, desto effektiver kann der Tod religiös legitimiert werden. Durch gesellschaftliche Differenzierungsprozesse ist jedoch diese allumfassende religiöse Plausibilitätsstruktur in der modernen Gesellschaft nicht mehr gegeben, da zum einen die funktionale Differenzierung zu einem religiösen Monopolverlust führt und zum anderen viele Handlungs- und Erlebensfelder privatisiert und damit verbindlichen kollektiven Vorgaben entzogen werden. Infolgedessen entsteht eine Pluralität der Weltanschauungen.

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Leseprobe

Der für die deutsche Situation wichtigste säkularisierungskritische Ansatz ist die Individualisierungsthese. 17 Ihre Grundannahme, aufbauend auf einer strikten Trennung von Religion und Kirche, besteht darin, dass im Zuge der Modernisierung zwar von einem institutionellen Bedeutungsrückgang der Religion ausgegangen werden kann, ein subjektiver Bedeutungsverlust von Religion dabei allerdings ausgeschlossen wird. Auf die Frage, ob Religion in der modernen Gesellschaft einen generellen Bedeutungsverlust erleide, antworten die Vertreter der Individualisierungsthese mit einem klaren Nein. De-Institutionalisierung und Individualisierung 18 führen nicht zu einer zunehmenden Säkularisierung des Individuums. Die Befürworter der Individualisierungsthese führen als Argument für ihre Einschätzung der Situation eine vermehrte außerkirchliche Religiosität, das Erstarken charismatisch-

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Gruppierungen an. Durch den Zuwachs solch individueller Religionsformen wird laut Individualisierungsthese der Verlust kirchlich-institutionalisierter Religiosität ausgeglichen. Man spricht dann von einer „Wiederverzauberung der Moderne“, die jedoch im Grunde genommen nie entzaubert war, da Säkularisierung selbst zum Mythos erklärt wird (Knoblauch 1989: 504). 19 Einer der Hauptvertreter dieser Theorie ist Thomas Luckmann, der ebenso wie Berger davon ausgeht, dass moderne Religion privatisierte Religion ist, im Gegensatz zu Berger aber damit nicht auf einen allgemeinen Bedeutungsverlust der Religion schließt (Luckmann 1972). Egal wie sehr die Religion in den Privatbereich gedrängt wird und wie gering damit ihre Transzendenzspannweite auch sein mag - religiöse Sinnintegration findet auch in modernen Gesellschaften noch statt. Möglich macht ihm diese Ansicht sein weit gefasster Religionsbegriff. Für Luckmann ist Religion die Transzendierung des rein biologischen Daseins und damit „das, was den Menschen zum Menschen werden läßt“ (Luckmann 1972: 5) und dementsprechend eine anthropologische Konstante. „In meinen Augen verdienen es diejenigen Vorgänge, als wesentlich religiös angesehen zu werden, in denen ein Organismus ein historisches Wesen mit einer eigenen persönlichen Identität wird“ (Luckmann 2002: 285). Wenn Religion jedoch das ist, was den Menschen erst zum Menschen werden lässt, ist damit die Möglichkeit eines religiösen Bedeutungsverlustes von vornherein ausgeschlossen. Zwar sieht auch Luckmann den gesellschaftlichen Monopolverlust der Religion, jedoch sollte man diese „Schwächung ihrer Vorherrschaft“ (2002: 289) nicht als Säkularisierung, sondern als Auftreten einer neuen, privatisierten Form von Religion ansehen (ebd.). Anstelle eines allgemeinen Bedeutungsrückgangs der Religion steht bei Luckmann dann auch ihr Bedeutungswandel und eine damit entstehende neue Sozialform der Religion: die unsichtbare, weil ent-institutionalisierte und entspezialisierte, Religion. 20 Da „moderne Religiosität [...] weder spezifisch institutionalisiert noch als Ganzes gesellschaftlich vorgeformt“ (Luckmann 1970: 127) ist, ist sie radikal privatisiert. Jeder Sinnzusammenhang muss individuell „zusammengebastelt“ werden. Da der Einzelne im Zuge der Individualisierung und der Pluralisierung des religiösen Marktes praktisch gezwungen ist, sich seinen eigenen Sinnzusammenhang aus den unterschiedlichen Angeboten

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gebundene Religiosität wird durch andere, neue, nicht traditionell institutionalisierte Religionsformen kompensiert.

Individuum zwar die Möglichkeit zur Wahl seiner eigenen Religiosität hat, dass es diese Wahlmöglichkeit aber gar nicht in Anspruch nimmt, da es (wie von der Säkularisierungstheorie behauptet) der Religiosität in der modernen Gesellschaft zunehmend indifferent gegenübersteht. 21 Der Frage, inwieweit außerkirchliche, individuelle Religionsformen wirklich genutzt bzw. geglaubt werden, sind Detlef Pollack und Gert Pickel nachgegangen (1999). Ihr Fazit: Die Zunahme der Individualisierung sowie die Abnahme christlich-institutionalisierter Religiosität lassen sich empirisch nachweisen. Allerdings lässt sich die Aussage der Individualisierungstheorie, der Bedeutungsrückgang institutioneller Religion würde durch eine Zunahme der Nutzung alternativer religiöser Angebote kompensiert werden, empirisch nicht bestätigen. „Der Rückgang der gesellschaftlichen Bedeutung von Religion ist somit in allen Dimensionen festzustellen und es besteht keine grundlegende Differenzierung zwischen der institutionell geprägten Dimension und [der] individuellen Überzeugungsdimension. Einzig in die Kirche Hochintegrierte individualisieren sich etwas. Von einer Differenzierung zwischen individualisierter und institutionalisierter Religiosität kann nach diesen Belegen nicht gesprochen werden“ (Pickel 2000: 78). Das heißt, „De-Institutionalisierungsprozesse auf dem religiösen Feld [...] müssen durchaus nicht zwangsläufig Prozesse der religiösen Individualisierung nach sich ziehen. Es kann ebenso sein, dass die De-Institutionalisierung des Religiösen Haltungen religiöser Indifferenz oder der Ablehnung von Religion zur Folge hat“ (Pollack/Pickel 2000: 247). Alternative religiöse Angebote werden häufig gerade von der Kirche nahestehenden Personen genutzt. Menschen, die sich gänzlich von der Kirche abwenden, scheinen in geringerem Ausmaß auf alternative religiöse Angebote zurückzugreifen. Ebertz (2000: 99) merkt an, dass „solche privaten ‚Synkretismen’ [...] vorzugsweise unter kirchennahen Katholiken ausgemacht worden“ sind und „daß sich die Mitglieder und Sympathisanten okkulter und esoterischer Gruppen zu etwa einem Drittel aus Kirchgängerinnen und Kirchgängern rekrutieren“. Die Shell-Jugendstudie 2000 stellt fest, dass die am häufigsten angewandten spirituell-okkulten Praktiken (hier:

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den Jugendlichen ohne Religionszugehörigkeit genutzt werden. Zwischen dem persönlichen Gebet und der Ausübung von spirituell-okkulten Praktiken besteht laut Shell-Studie ebenfalls eine positive Korrelation (2000: 175). Auch Pollack (1997: 219, 2000a: 25f.) konnte eine hochsignifikante Korrelation zwischen Religiosität und Kirchlichkeit nachweisen. Das heißt, dass die Abkehr von traditionell christlicher Religiosität vielfach einhergeht mit der völligen Abkehr von Religion und nicht durch die Zuwendung zu alternativen Religionsformen kompensiert wird. 22 Weitere zentrale Kritikpunkte an der Individualisierungsthese sind die Weite des verwendeten Religionsbegriffes und der von den Vertretern dieser These konstatierte „religiöse Boom“ 23 außerkirchlicher Religiosität. Diesbezüglich wird eingewendet, dass entsprechende Prozesse überschätzt werden und nicht in der Lage sind, die Verluste der traditionellen Religionsformen zu kompensieren (vgl. Pollack 2000a: 22ff.). Die Shell-Jugendstudie von 2000 gelangt beispielsweise in der Frage, inwieweit spirituell-okkulte Praktiken 24 von Jugendlichen genutzt werden, zusammenfassend zu folgender Ansicht: „Bei allen Vorgaben des Bereichs der spirituell-okkulten bzw. abergläubischen Praktiken gibt nur ein kleiner Teil der Befragten an, daß er sie ausübt. Aus diesem Grunde fassen wir die Antwortkategorien ‚sehr oft’, ‚oft’ und ‚selten’ zusammen, um sie der großen Mehrheit derer gegenüberzustellen, die sie nie ausüben. [...] Nur ein sehr kleiner Teil der Jugendlichen befaßt sich mit mehreren dieser Praktiken mindestens hin und wieder; ein einschlägiges Milieu ist also, wenn es denn existiert, sehr klein“ (Shell 2000: 174). 25 Barz stellt in seiner Untersuchung ebenfalls eine große Unkenntnis und fehlendes Interesse in Bezug auf esoterisch-okkulte Vorstellungen und Praktiken, vor allem bei den Jugendlichen in den neuen Bundesländern, fest (1993: 178ff.).

den z.B. von Pollack und Pickel verwendeten Religionsbegriff dahingehend kritisieren, dass

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sich diese Kritik am „viel zu engen Religionsbegriff (und einem viel zu unsensiblen methodischen Apparat)“ bei Knoblauch (2002: 296) sowie bei Wohlrab-Sahr und Krüggeler (2000). Dort heißt es: „Man kann am Ansatz Luckmanns zwar kritisieren, dass ein solch weiter Religionsbegriff problematisch, weil nicht mehr trennscharf und überdies empirisch kaum überprüfbar sei. Man kann aber nicht eine Theorie, die auf einem weiten Religionsbegriff basiert, mit einer engen Operationalisierung widerlegen“ (2000: 241). Das ist sicherlich richtig, wobei wohl jeder alternative Religionsbegriff im Vergleich zu Luckmanns den Vorwurf „zu eng gefasst“ aushalten muss. Problematisch ist jedoch, dass die Luckmannsche Religionstheorie damit grundsätzlich nicht widerlegbar ist. „Es ist eine Blindstelle der Individualisierungsthese, dass sie die Möglichkeit zur Einnahme areligiöser oder religiös gleichgültiger Orientierungen nicht erlaubt“ (Pollack/Pickel 2000: 247).

der beiden theoretischen Perspektiven auf Religion die tatsächliche momentane Situation in Deutschland adäquater beschreibt als die andere, soll an dieser Stelle nicht darüber geurteilt werden, welche der beiden das ist. Stattdessen wird vermutet, dass...

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