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Das verhängnisvolle Dreieck

Rasse, Ethnie, Nation

AutorStuart Hall
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783518759332
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR

Flaschenpost an die Zukunft! In diesem postum veröffentlichten Buch über das verhängnisvolle Dreieck von Rasse, Ethnie und Nation zeichnet der große Soziologe und Begründer der Cultural Studies, Stuart Hall, nach, wie alte Hierarchien in unseren Gesellschaften aufgebrochen wurden und unterdrückte Minderheiten neue Repräsentationsformen von kultureller Identität durchzusetzen begannen - und wie sich dagegen immer wieder Widerstand formierte.

Von der Renaissance bis zur Aufklärung und darüber hinaus diente der Begriff »Rasse« dazu, soziale Unterschiede aufgrund von Hautfarbe als natürlich und unwandelbar darzustellen. Auch heute findet die rassistische Fundierung von ethnischer und politischer Zugehörigkeit im Zeichen der Identitätspolitik wieder verstärkt Zuspruch. Die Neudefinitionen, die im 20. Jahrhundert von der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und von Migrantinnen und Migranten in westlichen Gesellschaften durchgesetzt wurden, zeigen für Hall jedoch, wie Identitäten und Vorurteile im Medium der Sprache transformiert werden können. Sie geben Grund zur Hoffnung, dass in der migrantischen Diaspora immer wieder neue Anstöße entstehen, um den Bedrohungen des Fundamentalismus und des Nationalismus zu begegnen. Ein Vermächtnis von brennender Aktualität.



<p>Stuart Hall (1932-2014) war ein jamaikanisch-britischer Soziologe. Als Gr&uuml;ndungsherausgeber der New Left Review z&auml;hlte er zu den einflussreichsten Intellektuellen Gro&szlig;britanniens und gilt als Vordenker des Multikulturalismus. Seine Werke sind in zahlreiche Sprachen &uuml;bersetzt.</p>

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Leseprobe

9Vorwort
Henry Louis Gates, Jr.


Als die Europäer der Alten Welt im fünfzehnten Jahrhundert zum ersten Mal auf die Völker und Kulturen der Neuen Welt stießen, stellten sie sich selbst eine gewichtige Frage, allerdings nicht »Bist du nicht ein Sohn und ein Bruder, eine Tochter und eine Schwester?« […], sondern: »Sind dies echte Menschen? Gehören sie zu derselben Art wie wir? Oder sind sie die Ausgeburt einer anderen Schöpfung?«

Stuart Hall

 

 

Stuart Hall hielt seine Du Bois Lectures im April 1994 in Harvard nicht, um nur das zu bestätigen, was wir eh schon wussten. Es ging ihm auch nicht darum, alten Argumenten neues Leben einzuhauchen oder in den Chor jener Gelehrten einzustimmen, die »Rasse« über Jahrzehnte hinweg wacker als soziales Konstrukt enttarnt haben, als sprachliches Phänomen, das kaum etwas mit Biologie und dafür sehr viel mit Macht zu tun hat.1 Hall war über diese Ansicht bereits hinausgelangt; in einer Welt, die rasant auf die Globalisierung zusteuerte, war 10das, was ihn faszinierte, die Zentralität und Beharrlichkeit von »Rasse« als einer Markierung essentieller biologischer Unterschiede, die fortwirkte, obwohl sich so viele der klügsten Köpfe mindestens von W. ‌E. ‌B. Du Bois bis Kwame Anthony Appiah darum bemüht haben, dies zu widerlegen. Selbst wenn wir wüssten, dass »Rasse« als wissenschaftliches Konzept eine Lüge war, so würde uns, wie Hall bemerkte, der Augenschein doch nicht belügen, und solange Menschen Unterschiede in den Hautfarben, ganz zu schweigen von Haarstrukturen und anderen körperlichen Eigenschaften, sehen und auf sie hindeuten können, würde es schwer sein, sie von vorschnellen Schlüssen darüber abzuhalten, worin die Ursprünge dieser Unterschiede liegen und was sie eigentlich zeigen ‒ angefangen von gruppenspezifischen Differenzen des IQ-Wertes, die vermeintlich in der Genetik begründet liegen, bis hin zur »natürlichen« Eignung zur Produktion von Kultur und der Verwirklichung von Zivilisation, eine Idee, die so alt ist wie die Aufklärung.

Was wir als »Halls Dilemma« bezeichnen können ‒ die Aufgabe, die Menschen davon abzuhalten, »Rasse« auf der Grundlage oberflächlicher, augenfälliger Differenzen als Kategorie biologischer Differenz zu deuten ‒, ist so alt wie einige der frühesten europäischen Begegnungen in der Moderne (die vor fünfhundert Jahren begonnen hat) mit »dem Anderen« in Afrika und der Neuen Welt, wobei Unterschiede der Kultur und des Phänotyps bald mit ökonomischen Wünschen und wirtschaftlicher Ausbeutung verschmolzen sind, um »den Afrikaner« als einen neuen und großteils negativen Signifikanten zu produzieren. Und diese toxische Mischung hat jahrhundertelang in unseren ureigensten menschlichen Instinkt hineingespielt, uns selbst durch einige der 11augenfälligsten, oft »messbaren« Unterschiede wie der Farbe unserer Haut, der Größe unseres Schädels, der Breite unserer Nase oder durch andere Körperteile zu definieren, die allesamt wahllos unter die Kategorie der »Rasse« summiert wurden, die ihrerseits zu verschiedenen Zeiten selbst entweder ein Amalgam von Ethnizität, Religion und Nationalität oder etwas davon Verschiedenes sein konnte.

Durch das, was Hall als lose, aber tödliche »Äquivalenzenkette« bezeichnet (ein Begriff, den er vom argentinischen politischen Philosophen Ernesto Laclau entliehen hat), die zwischen dem verläuft, was die Augen sehen und was der Geist erfassen kann, sind hierarchische Strukturen der einen oder anderen Art errichtet worden, in denen die Mächtigen die Autorität an sich ziehen, das Wissen darüber zu produzieren, was jene willkürlich über andere Menschen verhängten Differenzen bedeuten, und sich dann diesen Differenzen oder Differenzenketten entsprechend verhalten ‒ mit verheerenden Auswirkungen in der Realität.

Zudem beeindruckte es Hall, wie unterdrückte Gruppen im Zuge vermeintlicher Akte der Selbstbefreiung selbst diese Kategorien umkehrten, ohne sie zu verwerfen, und stattdessen einem rassischen oder ethnischen Stolz das Wort redeten, so als ob sie der Meinung gewesen wären, dass, nachdem man die tödlichen Auswirkungen der Essentialisierung überlebt hat, die effizienteste Weise, beispielsweise einen gegen Schwarze oder Braunhäutige gerichteten Rassismus oder Kolonialismus zu bekämpfen, darin bestünde, das Ganze umzukehren, körperliche Unterschiede zu affirmieren und sich selbst zu essentialisieren. Und so wurden die Grenzen zwischen Nationen-in-Nationen gezogen, mit denen im Zentrum 12und jenen an der Peripherie als verstrickt in einen Kampf um die Macht statt um die diskursiven Termini, die diesen Kampf ausdrücken oder widerspiegeln. Anders formuliert, in einer chaotischen Welt der Vermischung und der Migrationen bemerkt Hall, dass die Grenzen von Rasse, Ethnizität und Nationalität ihren je eigenen Charakter auf irgendeine Weise bewahren ‒ eine Entwicklung, die nicht nur an Halls kosmopolitischen Empfindsamkeiten rührte, sondern ihn auch insofern in Sorge versetzte, weil er sich auf der Suche nach einem besseren, gerechteren, verlässlicheren Signifikanten für kulturelle Differenz befand.

Die Dringlichkeit von Halls Vorhaben rührte daher, dass die Welt Mitte der 1990er Jahre rapide zusammenschrumpfte und sich der Jahrhundertwechsel in einer Zeit zunehmenden technologischen Wandels, gegenseitiger ökonomischer Abhängigkeiten und der Massenmigration abspielte, einhergehend mit einem Anschwellen rassischer, ethnischer, nationaler und religiöser Fundamentalismen. Hoffnungsschimmer lagen für ihn in den schöpferischen Sehnsüchten marginalisierter Gruppen, die neue Ansprüche auf »Identifikationen« und »Positionalitäten« erhoben und aus einer geteilten historischen Erfahrung heraus »Signifikanten einer neuen ethnisierten Moderne« entwarfen, die »nahezu an der vordersten Front einer neuen Ikonographie und der neuen Semiotik stehen, die ›das Moderne‹ selbst neu definierten« (vgl. die zweite Vorlesung) ‒ ein Thema, dem Hall in seinem wegweisenden Essay »Neue Ethnizitäten« nachgegangen ist, der erstmals 1988 als Beitrag zu einer Konferenz am Institute of Contemporary Arts in London präsentiert wurde.

Zugleich stellte er jedoch fest, dass es erheblichen An13lass zu der Sorge gab, dass die Welt an jenen alten, verschlissenen Nahtstellen in dem Augenblick zerreißen könnte, in dem sie gerade begonnen hatte, zusammenzuwachsen, mit starren Kategorien rassischer, ethnischer und nationaler Differenz, die sich mit der Aussicht auf ‒ oder der Bedrohung durch ‒ erhebliche Veränderungsprozesse noch verhärten könnten. Hall, so der Historiker James Vernon, »sprach sich für ein anderes, postkoloniales Verständnis von Multikulturalismus aus«. »Dabei handelte es sich um eines, das den hybriden und mongrelisierten Charakter der Kulturen feierte, die die Sklaverei und der Kolonialismus sowohl hervorgebracht als auch verdrängt haben. Die koloniale Geschichte hat dafür gesorgt, dass es nicht mehr möglich war, spezifische Gemeinschaften oder Traditionen mit definierten und feststehenden Grenzen zu denken.«

Obgleich Stuart Hall ein Realist mit Blick auf die Potenz und die unzweifelhafte Resilienz rassischer, ethnischer und nationaler Konzepte war, kam er, wie ich bereits angemerkt habe, im April 1994 nicht nach Harvard, um Altbekanntes zu wiederholen. Vielmehr erschien er dort, um, wie er es in seiner ersten Vorlesung formuliert, die in der Gesellschaft nach wie vor fortwirkenden Ideen von Rasse, Ethnizität und Nation ‒ also das, was er im Titel der Vorlesungsreihe als »verhängnisvolles Dreieck« bezeichnete ‒ »zu verkomplizieren und ins Wanken zu bringen« und neue Möglichkeiten dafür zu eröffnen, unser Ich des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu definieren. Hall lehrte uns nicht nur, dass diese alten Differenzkategorien dabei versagten, die Unbestimmtheit der menschlichen Existenz, die ungezählten Überschneidungen von Identitäten, Vergangenheiten und Hintergründen zu erfassen, sondern er hat auch deutlich ge14macht, dass diese alten Kategorien dadurch, dass sie vorgeben, so etwas wie scharfe Grenzen zwischen Gruppen zu repräsentieren, Unterdrückungsgeschichten aufwiesen und ein gefährliches Gruppendenken aufrechterhielten, während sie zugleich hierarchische Vorstellungen von kultureller Differenz bestätigten. Es musste folglich ein Neuanfang gemacht werden, und Hall hatte den Schlüssel...

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