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Das Wunder von Berlin

1936: Wie neun Ruderer die Nazis in die Knie zwangen

AutorDaniel James Brown
VerlagRiemann
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl496 Seiten
ISBN9783641093303
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Der Millionenseller aus den USA
Von Beginn an ist es eine Reise mit unwahrscheinlichem Ausgang: Neun junge Männer aus der amerikanischen Provinz machen sich 1936 auf den Weg nach Berlin, um die Goldmedaille im Rudern zu gewinnen. Daniel James Brown schildert das Schicksal von Joe Rantz, einem Jungen ohne Perspektive, der rudert, um den Dämonen seiner Vergangenheit zu entkommen und seinen Platz in der Welt zu finden. Wie er und seine Freunde vor den laufenden Kameras Leni Riefenstahls den Nazis ihre Propagandashow stehlen, ist ein atemberaubendes Abenteuer und zugleich das eindringliche Porträt einer Ära. Eine unvergessliche wahre Geschichte von Entschlossenheit, Überleben und Mut.

Daniel James Brown, geboren und aufgewachsen an der Bucht von San Francisco, lehrte Kreatives Schreiben in Stanford und an der San Jose State University, bevor er sich als Schriftsteller und Lektor selbstständig machte. Als Sachbuchautor wurde er mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Heute lebt er mit seiner Familie in der Nähe von Seattle. Sein Buch »Das Wunder von Berlin« stand monatelang auf Rang 1 der New-York-Times-Bestsellerliste.

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Leseprobe

Kapitel 2

Diese Baumriesen sind ein eindrucksvoller Anblick. Einige stehen seit tausend Jahren hier, und sie alle zeugen von einem jahrhundertelangen Überlebenskampf. Die Jahresringe im Holz verraten, was für Zeiten sie durchgemacht haben. In manchen Jahren sind sie fast eingegangen und kaum gewachsen, in anderen war das Wachstum viel ausgeprägter.

– George Yeoman Pocock

Der Weg, den Joe Rantz an diesem Nachmittag 1933 über den Campus und zum Bootshaus zurücklegte, war nur der letzte Abschnitt eines viel längeren, härteren und zeitweise auch dunkleren Wegs, den er in seinem bisherigen, noch jungen Leben gegangen war.

Dabei hatte es durchaus verheißungsvoll angefangen. Joe war der zweite Sohn von Harry Rantz und Nellie Maxwell. Harry war großgewachsen, deutlich über ein Meter achtzig, mit großen Händen und Füßen und muskulösem Körper. Er hatte ein offenes Gesicht mit nicht weiter auffälligen, aber freundlichen und regelmäßigen Gesichtszügen. Frauen fanden ihn attraktiv. Er sah sein Gegenüber ernst und ruhig an, doch hinter dem ruhigen Blick verbarg sich ein ungewöhnlich lebhafter Geist. Harry war ein unverbesserlicher Tüftler und Erfinder, ein Liebhaber technischer Spielereien, der alle möglichen Maschinen und Vorrichtungen erfand und große Träume hegte. Er stellte sich mit Vorliebe schwierigen Aufgaben und war stolz auf neue Lösungen und Ideen, die anderen Menschen nicht in einer Million Jahre eingefallen wären.

Für Harry Rantz lag auf der Hand, dass man mit genügend Grips und Tatkraft so gut wie alles fertigbringen konnte. Noch vor Jahresende hatte er ein eigenes Auto entworfen und gebaut und fuhr damit vor den staunenden Blicken seiner Nachbarn stolz die Straße entlang. Zum Lenken benützte er statt eines Steuerrads eine Pinne.

Im Jahr 1899 hatte er telefonisch geheiratet, nur weil es so aufregend neu war, sich mittels der spektakulären neuen Erfindung des Telefons von zwei verschiedenen Städten aus ein Eheversprechen zu geben. Nellie Maxwell war Klavierlehrerin und Tochter eines Priesters der Disciples of Christ. Der erste Sohn des Paars, Fred, wurde Ende 1899 geboren. 1906, auf der Suche nach einer angemessenen Wirkungsstätte für Harry, verließ die junge Familie Williamsport in Pennsylvania, brach nach Westen auf und ließ sich in Spokane im Bundesstaat Washington nieder.

Spokane war damals in vielerlei Hinsicht noch nicht weit von der unzivilisierten Holzfällerstadt entfernt, die es im 19. Jahrhundert gewesen war. Der kalte, klare Spokane River stürzte weiß schäumend einige niedrige Wasserfälle hinunter, die Umgebung bestand aus Kiefernwäldern und offenem Gelände. Die Sommer waren glühend heiß, die Luft war trocken und duftete nach dem Vanillearoma der Kiefernrinde. Im Herbst fuhren von den endlosen Weizenfeldern im Westen her manchmal braune Staubstürme über das Land. Die Winter waren bitterkalt, das Frühjahr dauerte nur kurz und kam erst spät. An Samstagabenden versammelten sich das ganze Jahr über Cowboys und Holzarbeiter in den Bars und Spelunken der Stadt, tranken Whiskey und torkelten anschließend schimpfend nach Hause.

Harry, Fred, Nellie und Joe Rantz, um 1917

Doch nach Ankunft der Northern Pacific Railway Ende des 19. Jahrhunderts, die zum ersten Mal Zehntausende von Amerikanern in den Nordwesten brachte, war die Bevölkerung von Spokane rasch auf über 100000 gestiegen, und so entstanden neben der alten Holzarbeiterstadt vornehmere Viertel. Am Südufer des Flusses entwickelte sich ein blühendes Geschäftszentrum einschließlich prächtiger Hotels, stattlicher Banken und einer Vielzahl vornehmer Kaufhäuser und Geschäfte. Nördlich des Flusses entstanden Wohnviertel mit kleinen Holzhäusern auf gepflegten Rasenstücken. Harry, Nellie und Fred Rantz zogen in ein solches Haus in der Nora Avenue Nr. 1023, und hier wurde im März 1914 Joe geboren.

Harry eröffnete eine Werkstatt, in der er Autos baute und reparierte. Er konnte so gut wie jedes Auto reparieren, das stotternd oder von einem Maultier gezogen vor seinem Garagentor auftauchte. Doch spezialisierte er sich auf die Herstellung neuer Autos. Manchmal baute er das beliebte, mit einem Einzylindermotor ausgestattete McIntyre Imp Cyclecar, manchmal ein selbsterfundenes neues Auto. Kurz darauf sicherten er und sein Partner Charles Halstead sich auch die örtlichen Verkaufsrechte für sehr viel größere Autos – brandneue Franklins –, und da die Stadt boomte, hatten sie in Werkstatt und Verkauf bald alle Hände voll zu tun.

Harry stand jeden Morgen um halb fünf auf und ging in die Werkstatt. Oft kehrte er erst nach sieben Uhr abends von dort zurück. Nelly gab wochentags Kindern aus der Nachbarschaft Klavierunterricht und versorgte Joe. Sie liebte ihre beiden Söhne über alles und machte es sich zur Aufgabe, sie vor Sünde und Torheit zu bewahren. Fred ging zur Schule und half samstags im Geschäft aus. Am Sonntagmorgen besuchte die ganze Familie die Central Christian Church. Nellie war dort erste Pianistin, Harry sang im Chor. An Sonntagnachmittagen unternahmen sie einen Ausflug. Insgesamt war es ein sehr zufriedenstellendes Leben – wenigstens teilweise hatte Harry den Traum verwirklicht, dessentwegen er in den Westen gekommen war.

Joe hatte seine frühe Kindheit allerdings ganz anders im Gedächtnis. Für ihn bestand sie aus ganz verschiedenen Erinnerungsfetzen, angefangen im Frühjahr 1918, kurz vor seinem vierten Geburtstag, mit einer Erinnerung an seine Mutter, die auf einem verwilderten Feld neben ihm stand und heftig in ein Taschentuch hustete. Das Taschentuch verfärbte sich dabei leuchtend rot. Er erinnerte sich weiter an einen Arzt mit einer schwarzen Ledertasche und an den ständigen Kampfergeruch im Haus. Ein anderes Mal saß er mit baumelnden Beinen auf einer harten Kirchenbank, während seine Mutter weiter vorn in einer Kiste lag und nicht mehr aufstehen wollte. Er erinnerte sich, wie er in seinem Zimmer in der Nora Avenue auf dem Bett lag und sein großer Bruder Fred bei ihm saß, während der Frühlingswind am Fenster rüttelte. Fred hatte leise über das Sterben und über Engel gesprochen, über die Universität und warum er Joe nicht nach Osten, nach Pennsylvania begleiten konnte. Als Nächstes hatte er mutterseelenallein tage- und nächtelang stumm in einem Zug gesessen, und draußen vor dem Fenster waren blaue Berge, grüne, morastige Felder, rostige Gleise und schwarze Städte mit vielen Kaminen vorbeigezogen. Ein rundlicher Schwarzer mit Glatze und einer gebügelten blauen Uniform hatte im Zug auf ihn aufgepasst, ihm belegte Brote gebracht und ihn abends in seiner Koje zugedeckt. Dann hatte er eine Frau kennengelernt, die sich als seine Tante Alma vorstellte. Und unmittelbar anschließend hatte er einen Ausschlag auf Gesicht und Brust bekommen, außerdem Halsweh und hohes Fieber. Wieder war ein Arzt mit einer schwarzen Ledertasche erschienen. Die Tage waren zu Wochen geworden, und er hatte nur in einer fremden Dachkammer bei ständig heruntergezogenen Jalousien im Bett gelegen – ohne Licht, ohne Bewegung und ohne ein Geräusch, von dem einsamen Rattern eines Zuges in der Ferne abgesehen. Keine Mama, kein Papa, kein Fred. Nur das gelegentliche Rattern des Zuges und ein fremdes Zimmer, das sich um ihn drehte. Damals hatte er die Last zum ersten Mal gespürt – eine Last von Sorgen, Zweifeln und Ängsten, die schwer auf seinen schmalen Schultern und seiner ständig verstopften Brust lastete.

Während er scharlachkrank in der Dachkammer einer Frau lag, die er kaum kannte, lösten sich in Spokane die letzten Reste seiner bisherigen Welt auf. Seine an Kehlkopfkrebs gestorbene Mutter lag in einem Grab, um das sich niemand kümmerte, Fred war fortgegangen, um sein Studium zu beenden. Sein Vater Harry war nach dem Scheitern seiner Träume in die kanadische Wildnis geflohen. Er verkraftete nicht, was er in den letzten Stunden seiner Frau hatte mitansehen müssen. Nie hätte er gedacht, dass in einem Körper so viel Blut Platz hatte, mehr Blut, als er je aus seinem Gedächtnis löschen konnte.

Ein gutes Jahr später, im Sommer 1919, saß der fünf Jahre alte Joe zum zweiten Mal in seinem Leben im Zug. Diesmal kehrte er nach Westen zurück. Fred ließ ihn holen. Er hatte sein Studium inzwischen abgeschlossen und, obwohl erst einundzwanzig, in Nezperce in Idaho eine Stelle als Schulinspektor bekommen. Außerdem hatte er geheiratet. Seine Frau Thelma LaFollette, die eine Zwillingsschwester hatte, stammte aus einer wohlhabenden Familie, die Weizen im Osten des Bundesstaates Washington anbaute. Fred wollte seinem kleinen Bruder das Zuhause geben, das sie beide bis zum Tod ihrer Mutter und bis zur Flucht ihres untröstlichen Vaters nach Norden gehabt hatten. Als ein Schaffner Joe in Nezperce aus dem Zug half und ihn auf dem Bahnsteig absetzte, erinnerte er sich kaum noch an Fred. Thelma kannte er überhaupt nicht. Er hielt sie für seine Mutter, rannte auf sie zu und schlang die Arme um ihre Beine.

Im Herbst desselben Jahres kehrte Harry Rantz unerwartet aus Kanada zurück, kaufte ein Grundstück in Spokane, begann dort ein Haus zu bauen und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Um aus dem Haus ein richtiges Zuhause zu machen, brauchte er wie sein älterer Sohn eine Frau. Er fand, was er suchte, in dem anderen LaFollette-Zwilling. Thelmas Schwester Thula war einundzwanzig, ein bildhübsches, schlankes Mädchen mit dem zarten Gesicht einer Elfe, einem widerspenstigen Schopf schwarzer Locken und einem bezaubernden Lächeln. Harry war siebzehn Jahre älter als sie, was aber weder ihn noch sie störte. Warum Harry sich zu Thula hingezogen fühlte, lag auf der Hand. Seine Anziehungskraft für Thula war weniger klar und ihren Angehörigen einigermaßen rätselhaft.

Harry...

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