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Definitheit im Deutschen und im Chinesischen

AutorTingxiao Lei
VerlagNarr Francke Attempto
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl228 Seiten
ISBN9783823300496
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis46,40 EUR
Definitheit ist ein Begriff, der in der Sprachwissenschaft eng mit der Verwendung des Artikels verbunden ist. Es ist jedoch umstritten, welche Rolle Definitheit in Sprachen ohne Artikel spielt. In ihrem Band geht die Autorin von dem semantisch-pragmatischen Konzept der Identifizierbarkeit aus, das in Sprachen mit Artikel als Definitheit grammatisch realisiert wird, aber auch in artikellosen Sprachen zum Ausdruck kommt. Vor diesem Hintergrund untersucht sie für das Chinesische, wie tragfähig die bisherigen Annahmen zur Markierung von Definitheit überhaupt sind und wie Sprecher die Identifikation des gemeinten Referenten durch den Hörer sicherstellen bzw. wie Hörer den intendierten Referenten identifizieren, wenn Identifizierbarkeit nicht eindeutig markiert wird.

Tingxiao Lei lehrt Germanistik an der Nankai-Universität in Tianjin, VR China.

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Leseprobe

2.4 Definitheit


Definitheit ist ein Begriff, der eng mit der Verwendung des Artikels verbunden ist. In Artikelsprachen werden NPn mit definitem oder indefinitem Artikel als prototypische Beispiele für definite und indefinite NPn angesehen. In der Literatur wird bereits viel und kontrovers über Definitheit diskutiert, es herrscht jedoch kein Konsens über eine einheitliche Definition. Der Grund besteht darin, dass die bisherigen Erklärungsversuche unterschiedliche Gebrauchsweisen des definiten Artikels als Ausgangspunkt wählen und versuchen, die damit verbundene Bedeutung auf die anderen Gebrauchsweisen auszudehnen (Hauenschild 1993:988). Die bekanntesten unter ihnen sind die Unikalitäts- (Russell 1905) sowie die Familiaritätstheorie (Christopherson 1939). Während die erstere eine lange Tradition im Bereich der logischen oder formalen Semantik hat, ist die letztere vor allem in der linguistischen Pragmatik und Diskursanalyse von Bedeutung (Lyons 1999:125f.). Die meisten aktuellen Ansätze gehen von einem der beiden Konzepte aus und entwickeln daraus neue Perspektiven. Die folgenden Abschnitte sollen einen kurzen Überblick über ausgewählte Ansätze geben. Bevor darauf näher eingegangen wird, sollen zunächst die Verwendungsweisen des definiten Artikels vorgestellt werden, die die Basis von Definitheitstheorien bilden.

2.4.1 Verwendungsweisen des definiten Artikels


Eine detaillierte Darstellung von Gebrauchstypen des definiten Artikels bietet Hawkins (1978:106148), der auf der Basis von Christophersen (1939) und Jespersen (1949) sechs grundlegende Verwendungsweisen unterscheidet, nämlich anaphorischer (68a, b), unmittelbar-situativer (69a, b), abstrakt-situativer (70a-c), assoziativ-anaphorischer Gebrauch (71a, b), nicht-familiäre Gebrauchsweisen (72a-d) sowie NPn mit semantisch vereindeutigenden Adjektiven (76a-c). Falls nicht anders vermerkt, stammen alle Beispiele in 2.4.1 aus Hawkins 1978.

Unter anaphorischer Verwendung versteht man, dass eine vorher im Diskurs oder Text genannte Entität durch eine NP mit dem definiten Artikel wieder aufgenommen wird. Die rückverweisende NP kann das gleiche Nomen (68a) oder ein referenzidentisches Nomen wie das Antezedens sein (68b):

In der unmittelbar-situativen Gebrauchsweise ist der Referent der NP direkt in der Kommunikationssituation gegeben, wobei der intendierte Referent für den Hörer sichtbar (69a) oder nicht sichtbar (69b) sein kann:

Im abstrakt-situativen Gebrauch (engl. larger situation uses) ist der intendierte Referent weder in der Äußerungssituation noch im sprachlichen Kontext gegeben, sondern ist allgemein oder zumindest einem bestimmten Personenkreis bekannt. Die Referenz ist durch das allgemeine Weltwissen oder durch das spezifische, von Sprecher und Hörer geteilte Wissen gesichert.

Es ist allgemein bekannt, dass es für die Erde nur einen Mond gibt. Deswegen kann jeder wissen, worauf sich die NP the moon bezieht. Dagegen setzt 70b Wissen voraus, das allen Mitgliedern einer Gemeinschaft zugänglich ist. Zwei Engländer, die sich vorher nie getroffen haben, können von the Prime Minister reden, ohne dass Kommunikationsprobleme auftreten. Bei 70c müssen die Sprechaktteilnehmer ganz spezifisches Wissen teilen, zum Beispiel sitzen sie im selben Büro und wissen genau, dass es da nur einen Drucker gibt.

Nach Hawkins unterscheidet sich die abstrakt-situative Verwendung von der unmittelbar-situativen darin, dass im ersteren Fall immer ein gewisses Wissen über die Existenz von bestimmten Objekten in unterschiedlichen Situationen vorausgesetzt wird, im letzteren Fall dagegen nicht.1 Zum Beispiel wusste der Hörer bei 69b vorher gar nicht, dass es in dieser Situation einen Hund gibt. Erst mit der definiten NP the dog wird er über die Existenz des gefährlichen Hundes informiert.

In der assoziativ-anaphorischen Verwendungsweise steht der intendierte Referent der NP in einem Assoziationsverhältnis zu einer vorausgehenden NP. Zwischen den beiden Ausdrücken liegt häufig eine metonymische Relation vor, wie z.B. Teil-Ganzes, Gegenstand-Material, Ort-Bewohner, Zeit-Ereignis, Gruppe-Mitglied (Winston et al. 1987). Die vorausgehende NP setzt den Rahmen, innerhalb dessen die anaphorische NP interpretiert wird.

Bei 71a ist es einfach, eine assoziative Beziehung zwischen den beiden NPn herzustellen, weil es zum Allgemeinwissen gehört, dass ein Auto einen Auspuff hat. Dagegen sind car und dog in 71b nicht direkt miteinander assoziiert. Die Verwendung des definiten Artikels ist nur dann gelungen, wenn der Hörer weiß, dass es einen Hund gibt, der vorbeifahrende Autos anbellt. Das heißt, dass bei 71b spezifisches, von Sprecher und Hörer geteiltes Wissen erforderlich ist, um eine Assoziation herzustellen.

Laut Hawkins besteht der Unterschied zwischen der assoziativ-anaphorischen und der abstrakt-situativen Verwendung darin, dass Assoziationen im ersteren Fall durch eine NP hervorgerufen werden, im letzteren Fall hingegen durch eine von Sprecher und Hörer geteilte Situation. Bei 70b hängt die Referenz der NP the Prime Minister zum Beispiel davon ab, welche Nationalität die beiden Gesprächsteilnehmer haben bzw. in welchem Staat der Satz geäußert wird. Der Äußerungssituation entsprechend können unterschiedliche Assoziationen geweckt werden.

Unter den nicht-familiären Gebrauchsweisen (unfamiliar uses) werden vier unterschiedliche Verwendungen des definiten Artikels zusammengefasst, die nach Hawkins Gegenbeispiele für Christophersens Familiaritätstheorie darstellen und sich nicht in eine der ersten vier Verwendungsweisen einordnen lassen. Sie sind NPn mit etablierendem Relativsatz (72a), NPn mit genitivischem Attribut (engl. Associative Clauses) (73), NPn mit Komplementsatz (74) sowie NPn mit nominalem Attribut (75).

Der Relativsatz in 72a etabliert einen definiten Referenten für den Hörer, obwohl der Referent vorher nicht erwähnt ist. Etablierende Relativsätze sind vor allem durch drei Eigenschaften gekennzeichnet: Erstens lässt sich 72a in 72b umwandeln, wobei die beiden pragmatisch äquivalent sind. Zweitens verknüpfen etablierende Relativsätze neue, unbekannte Referenten entweder mit Objekten im vorangehenden Diskurs oder mit Sprechaktteilnehmern, oder sie identifizieren Objekte in der unmittelbaren Sprechsituation. In 72a wird der neue Referent z.B. mit einem bereits erwähnten Objekt, nämlich Bill, in Verbindung gesetzt. Drittens, wenn der Relativsatz weggelassen wird, ist die Referenz der NP nicht eindeutig. NPn mit genitivischem Attribut charakterisieren sich dadurch, dass zwischen dem Kopfnomen und dem nominalen Attribut ein Assoziationsverhältnis besteht. Zum Beispiel enthält die NP the beginning of the war in 73 sowohl den Auslöser als auch das Produkt der Assoziation. Für eine erfolgreiche Referenz spielt das Genitivattribut eine entscheidende Rolle, weil es den Rahmen setzt, in dem der Referent der definiten NP identifiziert werden soll. Bei NPn mit Komplementsatz oder mit Apposition erklärt der Komplementsatz oder die Apposition die NP weitgehend und ermöglicht die Identifizierung ihres Referenten.

Zu den semantisch vereindeutigenden Adjektiven (engl. ‚unexplanatory‘ modifiers) gehören zum Beispiel same, identical, next, other, only usw. NPn, die solche Modifikatoren enthalten, müssen als definit markiert werden, obwohl ihre Referenten nicht vorerwähnt sind.

Im Unterschied zu Hawkins vertreten viele Sprachwissenschaftler die Ansicht, dass die letzten zwei Gebrauchsweisen unter den ersten vier subsumiert werden können. Nach Himmelmann (1997:38) stellen NPn mit etablierendem Relativsatz einen Spezialfall des anaphorischen Gebrauchs dar, während die anderen dem abstrakt-situativen Gebrauch zugeordnet werden sollen. Als Begründung wird folgendes angeführt:

Etablierende Relativsätze stellen den Bezug zum Vortext her. Sie geben verankernde Information (vgl. Fox & Thompson 1990), erfüllen also in etwa dieselbe Rolle wie der vorangehende Kontext bei anaphorischem Gebrauch. Die anderen Attribute dagegen vereindeutigen semantisch die Referenz des Nukleus, schaffen also Ausdrücke, die abstrakt-situativ (aufgrund des Sprach- und Weltwissens) als Unika zu interpretieren sind.

Es sind aber auch andere Zuordnungsmöglichkeiten denkbar. Lyons (1999:5) hat die NPn mit etablierendem Relativsatz sowie die mit Genitivattributen dem assoziativ-anaphorischen Gebrauch zugeordnet. Nach ihm setzen Relativsatz und Genitivattribut den Rahmen, in dem die definite NP interpretiert wird. Dagegen werden NPn mit Komplementsatz zu den kataphorischen Verwendungsweisen gezählt, weil sich...

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