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E-Book

Delhi

Im Rausch des Geldes

AutorRana Dasgupta
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl462 Seiten
ISBN9783518738900
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Im Dezember 2000 zieht Rana Dasgupta nach Delhi, weil dort die Frau lebt, die er liebt - und landet in einem Moloch, der direkt der Phantasie von Zola, Brecht oder Scorsese entsprungen sein könnte. Die wirtschaftliche Öffnung Indiens im Jahr 1991 hat Kräfte entfesselt, die seither mit der Gewalt einer Naturkatastrophe über die Stadt und ihre Einwohner hinwegfegen: Kapitalistische Räuberbarone stecken aggressiv ihre Claims ab, Bargeld wird lastwagenweise durch die Straßen gekarrt, Premierminister Manmohan Singh, der einst die Liberalisierung des Landes angestoßen hat, lässt beim lokalen Lamborghini-Händler anrufen - er kann nicht mehr schlafen, seit die Neureichen vor seiner Residenz ihre Luxuskarossen ausfahren. Mit dem Einfühlungsvermögen und der Sprachgewalt eines großen Erzählers schildert Dasgupta die Welt hinter den Fassaden der scheinbar endlos nach oben weisenden Wachstumsraten. Er trifft Milliardäre und Slumbewohner, Drogendealer und Metallhändler, Sozialarbeiter und Gurus und stellt fest, dass in der Heimat seiner Vorfahren heute vor allem eines regiert: das Geld.

<p>Rana Dasgupta, 1971 im englischen Canterbury geboren, veröffentlichte bislang die Romane <em>Solo </em>und <em>Die geschenkte Nacht</em>. <em>Solo </em>wurde 2010 mit dem Commonwealth Writers' Prize für den besten Debütroman ausgezeichnet. Er lebt in Delhi.</p>

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Leseprobe

Erstes Kapitel


 

 

 

Von den indischen Städten sagt man, das 19. Jahrhundert sei das Jahrhundert der einstigen britischen Hauptstadt Kalkutta gewesen, das 20. das Jahrhundert Bombays, des Zentrums der Filmindustrie und der Konzerne, das 21. aber sei das Jahrhundert Delhis.

 

Bis 1911, als die Briten ihren Regierungssitz nach Delhi verlegten, war das in der östlichen Provinz Bengalen gelegene Kalkutta die Hauptstadt Indiens. Jahrzehntelange Wechselbeziehungen mit den Angehörigen der Kolonialverwaltung hatten dort eine anglisierte Mittelschicht entstehen lassen, die den Briten eine Vielzahl von Beamten und Experten zuführte. Einer von ihnen war der Vater meines Vaters, der als Buchhalter für britische Firmen in ganz Nordindien tätig war.  

Durch die Teilung von 1947 zerfiel das britische Territorium in die beiden neuen Staaten Indien und (Ost- und West-)Pakistan. Mein Großvater war damals Hauptbuchhalter bei der Commercial Union Assurance in Lahore, und dorthin reichen die frühesten Erinnerungen meines Vaters zurück. Es sind schöne Erinnerungen: Die Familie war wohlhabend, die Stadt harmonisch. Mein Vater denkt voller Wärme an das lebendige Miteinander von Hindus, Muslimen und Sikhs an seiner Schule zurück, an den gütigen muslimischen Schulleiter ebenso. Im Verlauf seines zehnten Lebensjahres aber wurde deutlich, dass politische Umtriebe dieses friedliche Leben zunichtemachen würden. Als die Teilung näherrückte, begann sich Allauddin Kahn, Polizeichef von Lahore und Bridgepartner meines Großvaters, um die Sicherheit seines Hindu-Freundes zu sorgen. Er schickte ihm seinen Wagen, ließ ihn mit seiner Familie zum Bahnhof bringen und ordnete Wachen ab, die sie im Zug bis nach Amritsar auf der anderen Seite der künftigen Trennlinie begleiteten. Wahrscheinlich hat Allauddin Kahn ihnen das Leben gerettet, denn während der späteren Ausschreitungen wurde das Haus, in dem sie gewohnt hatten, nieder44gebrannt. Der Hausbesitzer, ein Hindu, und seine Familie wurden ermordet.

Die Familie meines Vaters kehrte nach Bengalen zurück, wo die andere, die östliche Teilung im Gange war, und mein Vater fand sich auf der anderen Seite des Spiels wieder. Er erinnert sich an den unwirklichen Anblick niedergemetzelter Muslime, die wie Trophäen in den Straßen Kalkuttas aufgereiht lagen.

Irgendetwas scheint nach diesen Umwälzungen in meinem Großvater zerbrochen zu sein. Er wurde schwermütig und zog sich immer mehr zurück. Zwar fand er noch einmal eine gut bezahlte Stelle, gab sie aber einer Prinzipienfrage wegen bald wieder auf. Plötzlich stand seine elfköpfige Familie ohne Einkommen da. Der Strom wurde abgestellt, Nahrungsmittel oder Kerzen konnte man sich nicht mehr leisten. Mein Großvater musste sich an Geldverleiher wenden, um seine Rechnungen bezahlen zu können. Standen dann ihre Schläger vor der Tür und wollten die Schulden eintreiben, war es mein dreizehnjähriger Vater, der draußen auf der Straße um Aufschub betteln musste, weil sich mein Großvater, der von alldem nichts wissen wollte, in einem Zimmer eingeschlossen hatte, wo er Zigaretten rauchte und englische Spionageromane las.

Freunde und Verwandte hielten sich fern. Mein Vater fand einen Job, er hausierte mit Speiseöl und bewahrte so die Familie vor dem Verhungern.

Als Erstes suchte er Leute auf, die er kannte. Eines Tages klopfte er bei einer Tante an, und als sie sah, wie mager er war, setzte sie ihm ein Mittagessen vor. Anschließend trug er seine Ware zu einer anderen Tante, die ihm ebenfalls eine Mahlzeit anbot. Da er nicht wusste, wann er das nächste Mal etwas zu essen bekommen würde, nahm er die Einladung an. Als er es sich gerade schmecken ließ, kam die erste Tante zu Besuch und ertappte ihn dabei, wie er sich zum zweiten Mal den Magen vollschlug. Wenn mein Vater diese Geschichte erzählt, zittert er noch heute, sechzig Jahre später, bei dem Gedanken an die demütigende, verzweifelte Situation, in der er sich damals befand.

Doch die Dinge wandten sich zum Besseren: Mein Großvater fand wieder Arbeit, als Hauptbuchhalter bei einer britischen Traktorfirma mit Sitz in Delhi. Die Familie zog in die Hauptstadt und ließ sich 45in einem Bezirk namens Karol Bagh nieder, einem ehemaligen Mogulgarten, wie schon der Name (»bagh«) sagt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten sich dort Menschen angesiedelt, deren Dörfer man dem Erdboden gleichgemacht hatte, um Platz für die britische Stadt zu schaffen, und später waren in noch weit größerer Zahl Teilungsflüchtlinge hinzugekommen. In den fünfziger Jahren gab es in Karol Bagh noch viel Grün. Sein Schulweg führte meinen Vater, wie er sich erinnert, durch Parks und ruhige Straßen. »Delhi war schön«, sagt er. »Ich habe mir ein Fahrrad geliehen und bin auf den leeren Prachtstraßen durch die ganze Stadt geradelt.«

In einer Zeit, in der das Ideal jeder indischen Mittelschichtfamilie eine Lebensstellung war, hielt sich mein Großvater nicht länger als ein Jahr auf seinem Posten. Von Missgunst gegenüber seinem schottischen Vorgesetzten erfüllt, einem Mr. McPherson, beschloss er, sich beim Generaldirektor der Firma in Kalkutta über ihn zu beschweren. Unter Ausnutzung seiner Position als Chefbuchhalter überredete er den Finanzchef, ihm das Geld für einen Erster-Klasse-Fahrschein nach Kalkutta auszuhändigen, und machte sich auf, um Genugtuung zu erlangen. Er wurde auf der Stelle entlassen.

Mein Großvater war anglophil. Seine Maxime in der Kindererziehung lautete: »Sie müssen Englisch sprechen.« Er bestand darauf, dass bei Tisch Englisch gesprochen wurde, und wenn er unterwegs war, schrieb er seinen Kindern in fein ziselierter Schrift englische Briefe. Doch seit seiner Vertreibung aus Lahore machte ihm seine Situation in britischen Betrieben offenbar so schwer zu schaffen, dass er wegen tatsächlicher oder eingebildeter Beleidigungen regelmäßig in Rage geriet, zum Missfallen aller um ihn herum. Die Familie verarmte von Neuem und kehrte nach Kalkutta zurück. Arbeitsstellen kamen und gingen. Als ein englischer Vorgesetzter meinen Großvater aufforderte, das Rauchen im Büro zu unterlassen, verstand er das als einen antiindischen Affront und kündigte.

Meine Großmutter, die aus einer vermögenden Familie stammte, trieben diese Jahre der Angst, des Hungers und der gesellschaftlichen Ächtung fast in den Wahnsinn, Jahre, in denen die Kinder ihre Schularbeiten im Treppenhaus machen mussten, wo ein verständnisvoller Sikh-Hausmeister eigens zu diesem Zweck das Licht brennen ließ. Sie 46schwelgte endlos in Erinnerungen an das an Pakistan verlorene Lahore; dort hatten sie ihr Auskommen gehabt, dort waren sie glücklich gewesen.

Vor diesem Hintergrund fasste mein Vater den Plan, die Familie zu retten. Deutschland bot damals billige Schiffspassagen an und garantierte allen, die als Gastarbeiter ins Land kamen, einen Arbeitsplatz. Das wollte mein Vater als Brücke zu einem Studium in England nutzen. Nach seiner Rückkehr, so stellte er sich vor, würden Hunger und Arbeitslosigkeit für immer der Vergangenheit angehören.

In den Wochen vor seiner Abreise saß sein anglophiler Vater auf dem Balkon und rief den Leuten auf der Straße voller Stolz zu: »Mein Sohn geht nach England!«

Mein Vater schiffte sich in Bombay ein und verbrachte auf der Fahrt über das Arabische Meer, durch den Suezkanal und ins Mittelmeer zwei der sorglosesten Wochen seines Lebens. In Genua ging er an Land und fuhr mit dem Zug weiter nach Stuttgart, wo er sich für ein Jahr als Hilfsarbeiter in einer Papierfabrik verdingte. 1962 kam er nach London. Er studierte Rechnungswesen und arbeitete nebenher bei British Rail. Von seinem ersten Lohn kaufte er einen Parker-Füllfederhalter für seinen Vater, der ihm mit den Worten dankte: »Ich kann mit fester Überzeugung sagen, dass der Füllfederhalter, den Du mir geschickt hast, der berühmteste in ganz Indien ist. Zumindest in Kalkutta gibt es niemanden mit Augen im Kopf, der ihn noch nicht gesehen hat.«

Auf Zimmersuche in London, kam mein Vater zu einem jungen jüdischen Paar im Osten der Stadt. Die Frau war aus Hitler-Deutschland geflohen und als einziges Mitglied ihrer Familie den Vernichtungslagern der Nazis entgangen. Er mochte die beiden, und sie mochten ihn. Ein Zimmer in ihrem Haus war jedoch an einen weißen Südafrikaner vermietet, dem der Schreck in die Glieder fuhr, als er hörte, dass mein Vater einzuziehen gedachte. Bestürzt nahm er die Vermieterin beiseite: »Ich kann unmöglich mit einem Farbigen unter einem Dach leben!«

»Dann packen Sie am besten gleich Ihre Sachen«, gab sie zurück und warf ihn hinaus. Mein Vater wohnte jahrelang in dem Haus.

London, so hatte er sich vorgenommen, sollte nur eine Durch47gangsstation sein. Seine Heimat war Kalkutta, und dorthin wollte er zurück. Er vermisste seine geliebte klassische hindustanische Musik, die damals in Kalkutta eine erstaunliche Blüte erlebte – wie oft hatte er als Jugendlicher draußen vor den Fenstern gelauscht, weil er sich keine Eintrittskarte für die nächtlichen Konzerte leisten konnte. Und er hatte keinen Einspruch erhoben, als seine Familie noch vor seiner Abreise eine Verlobung für ihn arrangierte, ein Versuch, ihn für die Dauer seiner Abwesenheit gegen die verderblichen Avancen westlicher Mädchen zu impfen.

Doch das London der frühen sechziger Jahre versetzte meinen Vater in Begeisterung. Schon immer hatte er von Zwängen frei sein wollen, und nun fand er sich in einer unbeschwerten Welt voller neuer Menschen und Erfahrungen wieder. Er befasste sich mit europäischer Geschichte. Er verliebte sich in...

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