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E-Book

Dem Chaos eine Form geben

Eine Einführung zu Cornelius Castoriadis

AutorMartin Hagemeier
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl184 Seiten
ISBN9783738663419
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Cornelius Castoriadis (1922-1997) war politischer Aktivist, Philosoph, Sozialkritiker, Ökonom und Psychoanalytiker. Im Zentrum seines Denkens steht die Auseinandersetzung mit kreativen Elementen des Imaginären und dem politischen Streben nach Autonomie. Seine politischen Einstellungen und Theorien entwickelte er als Mitbegründer der französischen Gruppe Sozialismus oder Barbarei (1949-1967). In Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Veränderungen des 20. Jahrhunderts entwickelte er dabei nach dem Pariser Mai '68 eigene philosophische Positionen, die ihn zu einem interessanten Impulsgeber für weiterhin aktuelle Perspektiven machen. Diese Einführung gibt einen Einblick in seine Biografie und eröffnet Zugänge zu seinem kritischen Denken.

Der Autor studierte Philosophie, Politikwissenschaft und Soziologie in Münster und Berlin. Er promovierte 2010 mit einer Arbeit zu Baruch de Spinoza an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er arbeitet zur französischen Gegenwartsphilosophie und zu Elementen der Selbstlegitimation in der Moderne.

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Leseprobe

2Perspektiven durch das Labyrinth


Ein gutes Dokument für den Übergang von Sozialismus oder Barbarei zum weiteren Schaffen von Castoriadis ist das 1975 erschienene Buch Gesellschaft als imaginäre Institution. Mit dem Wiederabdruck der Serie Marxismus und revolutionäre Theorie schließt der erste Teil dieses Buches direkt an die Diskussionen aus Sozialismus oder Barbarei an. Castoriadis veröffentlicht hier nochmals seine Kritik an den theoretischen Positionen des Marxismus, so wie er ihn versteht, und entwickelt im Anschluss eine eigene Perspektive auf die Entwicklungen und Tendenzen der modernen Gesellschaft. Einzelne Teile dieser Überlegungen lagen noch im Schreibtisch und konnten wegen des Endes von Sozialismus oder Barbarei nicht mehr in der Zeitschrift veröffentlicht werden. Nach einer regen Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse und der Philosophie der Sprache überarbeitete Castoriadis den unfertigen Teil von Gesellschaft als imaginäre Institution und veröffentlichte ihn 1975 mit dem Untertitel Entwurf einer politischen Philosophie.106

Mit diesem Buch veränderten sich die theoretischen Impulse seines Denkens. Hier und in den sich anschließenden Veröffentlichungen vertieft Castoriadis seine Perspektiven auf die Philosophie, die Psychoanalyse und die Politik und entwickelt dabei eine eigenständige Sicht auf das Spannungsfeld zwischen den individuellen Menschen, der sozialen Gemeinschaft und ihren Institutionen. Castoriadis verwendet dabei den Begriff der Institution in einem sehr weiten Sinn, der sich über Normen, Werte, Sprache, Vorgehensweisen und Methoden im Umgang mit Gegenständen erstreckt.107 Mit diesem breiten Verständnis der Institutionen fragt er nach den konstitutionellen Bedingungen von Institutionen und den zugehörigen Prozessen des Instituierens. Dabei wendet er sich in Gesellschaft als imaginärer Institution sowohl der mikropolitischen Konstitution des Selbst als auch der makropolitischen Instituierung von Gesellschaften zu. Ausgehend von einer neuen Positionierung der Imagination innerhalb der philosophischen und psychoanalytischen Theoriebildung entwickelte Castoriadis dabei neue und eigenständige Perspektiven für die Beschreibung der Individuen und der Gesellschaft.108 Die zentralen Punkte dieser Auseinandersetzung fokussieren sich auf die Entwicklung einer psychoanalytischen Position, die mit den konstitutiven Bedingungen vergesellschafteter Menschen und den gesellschaftlichen Institutionen umgehen kann. In Gesellschaft als imaginärer Institution führt diese Auseinandersetzung zunächst zu einer grundlegenden Kritik der Philosophie, die an dem Konzept der Identität ansetzt, die ein Sein immer als ein bestimmtes Sein auffasst. Castoriadis’ Kritik am Konzept der Identität bildet im Weiteren die Basis für seine politische Ontologie, die er interessanterweise aus dem Kontext der mathematischen Mengenlehre entwickelt, von der er zentrale Konzepte und Begriffe übernimmt, um seine philosophische Position zur Imagination und zum Imaginären zu entwickeln.

Mit seiner Theorie der Imagination wendet sich Castoriadis gegen die sprachphilosophischen Überlegungen des französischen Strukturalismus. Anhand einer prägnanten Problematisierung des Rationalismus und der damit verbundenen theoretischen Suche nach Begründungen in der Sprache formuliert Castoriadis eine eigenständige Antwort zu den von ihm aufgeworfenen Problemen. In Hinsicht auf den Strukturalismus teilt Castoriadis vor allem nicht die Position, dass sich der Sinn von Zeichensystemen ohne eine Tätigkeit des Subjektes erklären lässt. Innerhalb der strukturalistischen Theorie entsteht der Sinn eines sprachlichen Zeichens aus der Differenz von Signifikat und Signifikant, von dem Bezeichnetem und dem Bezeichnendem, ohne weiteres Zutun eines Subjekts. Castoriadis teilt diese strukturalistische Position nicht. Für ihn ist diese Zeichenkombination nur ein gesellschaftlich-geschichtlich* instituiertes Zeichensystem, das nicht immanent aus der Relation von Bedeutendem und Bedeutetem abgeleitet werden kann, sondern in Hinsicht auf die Gründe und Intentionen analysiert werden soll, welche zu seiner Instituierung geführt haben. Was der Strukturalismus ohne Subjekt zu erklären glaubte, erklärt Castoriadis in Gesellschaft als imaginärer Institution tiefgründiger durch eine Tätigkeit des Subjekts, mit der Zeichensysteme erst instituiert werden.109 Mit dieser Abgrenzung vom Strukturalismus wird Castoriadis zugleich angreifbar für die hier vorgebrachte Kritik gegenüber dem Subjekt. Hans Joas hebt daher hervor, dass die von Castoriadis unternommene Positionierung gegenüber den dominierenden Strömungen der Geistes- und Sozialwissenschaften die Rezeption seines sozialphilosophischen Ansatzes erschwerte.110

Darüber hinaus etabliert Castoriadis in Gesellschaft als imaginärer Institution einen eigenständigen Zugang zu sozialen und historischen Veränderungen, den er in Ablehnung des starren marxistischen Geschichtsverständnisses und in Abgrenzung von der starren Psychoanalyse Lacans entwickelt. Um überhaupt wirksam werden zu können, müssen soziale und historische Veränderungen zunächst einmal entstehen, erkannt und sozial instituiert werden. In dieser Hinsicht wird für Castoriadis die Verbindung von Psychoanalyse und Philosophie bedeutsam, weil diese Veränderungen für Castoriadis immer einer schöpferischen Aktivität der menschlichen Psyche entspringen. Die Psyche konzipiert neue Bedeutungen, mit denen die Welt erfahrbar wird. Um eine solche Theorie umsetzen zu können, ist Castoriadis einerseits auf eine tragfähige Konzeption der Psyche und andererseits auf eine Theorie der sprachlichen Bedeutungen angewiesen, mit denen die externe Welt von der Psyche aus sprachlich erschlossen werden kann. Castoriadis entwickelt in Gesellschaft als imaginärer Institution eine Theorie, die diesen Spagat versucht und in einer Konzeption zusammenführt. Seine Argumentation schlägt nicht immer den einfachsten Weg ein und seine Mischung aus Psychoanalyse, Ontologie, Sprachphilosophie, Soziologie und Politik bildet einen vielschichtigen Argumentationszusammenhang.

Castoriadis nimmt in Gesellschaft als imaginärer Institution eine weitestgehend sozialphilosophische Perspektive ein, die für eine zeitgenössische Auseinandersetzung verschiedene Anknüpfungspunkte bereithält. In dieser Hinsicht sind seine Überlegungen zur gleichzeitigen Entstehung von Politik und Philosophie in der griechischen Antike ebenso interessant, wie seine Arbeiten zur neu entstehenden ökologischen Bewegung, der Psychoanalyse und seine gesellschaftskritische Grundhaltung gegenüber den Lebensweisen in den modernen Gesellschaften. Diese theoretischen Positionierungen verknüpfen sich bei Castoriadis mit den unterschiedlichen Interessengebieten, die ihre Beispiele aus der Naturwissenschaft, der Ökonomie, Soziologie und seit den 80er Jahren ebenfalls aus der Ökologie nehmen. Besonders mit seiner Kritik an einem uneingeschränkten Vertrauen in die Technik, dem ökonomisch propagierten unbegrenzten Wachstums- und Fortschrittsglauben und der Aufweichung der sozialen Bindungen durch politische Apathie in einer entpolitisierten Gesellschaft wird Castoriadis zu einem sozialtheoretischen Ansprechpartner für zeitgenössische kritische Theorien.

Es ist eigentlich nicht viel, was Castoriadis will. Er strebt nach Autonomie der Gesellschaft und er will Wege aufzeigen, wie individuelle und kollektive Autonomie begründet und erreicht werden kann. Die anschließende Darstellung ist dabei nur ein Pfad, der viele Abzweigungen vermeidet und abschließend versucht, über Anschlussmöglichkeiten an moderne Theorien mögliche Abkürzungen aufzuzeigen. Diese Abkürzungen sprechen nicht gegen Castoriadis, sondern sind Motivationen zu neuen theoretischen Ausflügen, die über den Tellerrand einer jeweiligen Forschungsfrage hinausführen sollen. Die folgenden Abschnitte setzen sich mit den psychoanalytischen, ontologischen und sprachphilosophischen Theorieelementen im Denken von Castoriadis auseinander, um seine Positionen in diesen Bereichen aufzubereiten. Im Anschluss werden unter dem Stichwort der Auswege aus dem Labyrinth die politischen Aspekte und seine politischen Positionen beleuchtet, die er aus seinem im weitesten Sinne als sozialphilosophisch zu charakterisierenden Ansatz ableitet. Castoriadis nutzt die in Gesellschaft als imaginärer Institution enthaltenen psychoanalytischen und sprachphilosophischen Elemente in seinen weiteren Schriften, um den Gedanken der Selbst-Institution der Gesellschaft weiter zu bearbeiten. Jede Gesellschaft schafft sich ihre Institutionen selbst. Diese Selbst-Institution erfordert von allen Beteiligten eine permanent selbstkritische Haltung, gegenüber den eigenen Positionen und den gesellschaftlichen Institutionen, wenn sie aus einer autonomen Perspektive erfolgen soll. Diese Aspekte rücken in den späteren Kapiteln zur Politik, zur Autonomie und zur Kultur in den Vordergrund. Zunächst aber zur Verbindung von Psychoanalyse und Philosophie.

2.1Von der Psyche zur Ontologie


Castoriadis’ Verbindung von Philosophie und Psychoanalyse findet ihren Ausgangspunkt in seiner Konstruktion der Psyche, die ihm einen theoretischen Brückenschlag zwischen der...

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