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Auf dem Weg in eine andere Republik?

Neoliberalismus, Standortnationalismus und Rechtspopulismus

VerlagBeltz Juventa
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl190 Seiten
ISBN9783779950837
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
Deutschland hat sich nach der Vereinigung von BRD und DDR durch die anhaltende Hegemonie, d. h. die öffentliche Meinungsführerschaft des Neoliberalismus, den »Um-« bzw. Abbau des Wohlfahrtsstaates sowie die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich, aber auch die Folgen der globalen Finanzkrise und den erstarkenden Rechtspopulismus hinsichtlich seiner Sozialstruktur ebenso wie hinsichtlich seiner politischen Kultur tiefgreifend verändert. Befinden wir uns mithin auf dem Weg in eine andere Republik? Dieser von Christoph Butterwegge in seinem Buch »Hartz IV und die Folgen« aufgeworfenen Frage gehen die Beiträge des Sammelbandes nach, der auf einem Symposium zur Verabschiedung des Kölner Politikwissenschaftlers in den (Un-)Ruhestand geführte Diskussionen zu dieser These fortsetzt und vertieft.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2016 Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln und 2017 Kandidat der Linkspartei bei der Bundespräsidentenwahl. Gudrun Hentges, Prof. Dr., ist Professorin für Politikwissenschaft, Bildungspolitik und politische Bildung an der Universität Köln.

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Leseprobe

Umsonst gibt es gar nichts: Umverteilen tut not


Ulrich Schneider

In der Ungleichheitsdebatte gibt es einige Fakten, die sich schlecht wegdiskutieren lassen, auch wenn von interessierter Seite viel Mühe darauf verwendet wird. Dazu gehört die Tatsache, dass die quasi-amtliche Armutsquote des Statistischen Bundesamtes trotz bester wirtschaftlicher Rahmenbedingungen in den letzten Jahren eine steigende Tendenz aufweist und aktuell mit 15,7 Prozent einen Höchststand seit der Vereinigung erreicht hat. Das entspricht etwa 12,9 Millionen Einwohner(inne)n. Auch alternative Datenquellen wie das Sozio-oekonomische Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) oder die Europäische Gemeinschaftserhebung EU-SILC (European Union Statistics on Income and Living Conditions – Europäische Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen) kommen zu demselben Ergebnis. „Alle drei Datenquellen zeigen für die vergangenen Jahre den gleichen leicht steigenden Trend an“, konstatieren denn auch Markus M. Grabka und Jan Goebel (2017, S. 78) vom DIW.

„Aber da werden doch auch Studierende und Auszubildende mitgezählt oder Menschen, die nur kurzzeitig in Armut sind“, machen sich in der Regel einschlägig bekannte Schlaumeier wie Guido Böhsem (2015) und Georg Cremer (2015 und 2016, S. 47 ff.) über die Statistik her, kaum dass man sie ins Feld führt. Fachkundig ist dieser Einwand nicht. Sinn und Ziel des Einwandes liegen wohl auch eher darin, mit plakativen Einwürfen eine Statistik zu diskreditieren, die in der Tat – wie alle sozialwissenschaftlichen Statistiken – Unschärfen hat, nur halt nicht so platt und einseitig ist, wie es die Kritiker suggerieren möchten (vgl. Becker 2017). Dass nämlich auf der anderen Seite Hunderttausende Wohnungslose überhaupt nicht in diese Statistik eingehen, genauso wenig wie Pflegebedürftige oder Behinderte in Heimen und Flüchtlinge in Gemeinschaftsunterkünften, erwähnen die Kritiker wohlweislich nicht, geht es ihnen doch ganz offensichtlich vor allem darum, der Bevölkerung Sand in die Augen zu streuen. Und überhaupt: Eigentlich werde ja gar keine Armut gemessen, sondern nur etwas Ungleichheit (zur Kritik am Konzept der relativen Armut vgl. Butterwegge 2015; Schneider 2015; Sell 2015).

Wenn es bei solch bizarren Einwänden lediglich um akademische Besserwisserei ginge, wären sie einfach nur albern und nicht weiter beachtenswert. Gefährlich werden sie jedoch, wenn sie dazu benutzt werden, Armut in Deutschland kleinzureden und in ihrer Dimension zu verharmlosen (vgl. Butterwegge 2016a). Gefährlich werden sie, wenn der unzweifelhafte Skandal der Armut in diesem reichen Land entdramatisiert werden soll, um den politischen Handlungsdruck zu senken. Gefährlich ist dies deshalb, weil unsere Gesellschaft gerade auf dem besten Weg ist, sich selber zu zerlegen – mit allen sozialen und politischen Folgen, die wir derzeit nicht nur in den USA besichtigen können, wo das Phänomen wachsender Ungleichheit und Ausgrenzung von weiten Teilen der Politik sträflich entskandalisiert oder verharmlost wurde (vgl. Schneider 2017). Rhetorische Beschwichtigung, welche die Politik letztlich aus jeglicher Verantwortung entlässt, mag zwar den politisch Verantwortlichen gefallen, ist aber in der derzeitigen Situation das genaue Gegenteil von verantwortungsvollem armutspolitischem Handeln (vgl. Butterwegge 2018a).

Um bei den leidigen Fakten zu bleiben: Wir haben in Deutschland, dem es nach Ansicht von Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie ihrer Gefolgsleute in und außerhalb der Union noch nie so gut ging wie heute, ca. 860.000 wohnungslose Menschen. Fachleute schätzen, dass diese Zahl bis 2018 auf etwa 1,2 Millionen ansteigen wird (vgl. BAG Wohnungslosenhilfe 2017). Wir haben seit Jahren etwa eine Million Langzeitarbeitslose. Wir haben weiterhin rund 6 Millionen Menschen in Hartz IV, darunter ca. 2 Millionen Kinder und Jugendliche – keinesfalls nur kurzzeitig, sondern meist über viele Jahre. Insgesamt lebt fast jeder Zehnte von Sozialleistungen wie Hartz IV oder Altersgrundsicherung, die Armut wegen ihrer geringen Höhe nicht verringern oder verhindern, sondern festschreiben (vgl. Butterwegge 2018b). Niemand, der auch nur halbwegs im Leben steht, wird ernsthaft behaupten, dass man beispielsweise mit 291 Euro (Höhe des Regelbedarfs beim Sozialgeld) ein Schulkind über den Monat bekommt.

Umverteilen tut not


Und so sind denn auch alle scheinbar guten Willens: Keiner, der öffentlich in Abrede stellen würde, dass wir mehr für arme Kinder tun müssen, dass sie erheblich mehr Unterstützung benötigen auf ihrem Bildungsweg, keiner, der öffentlich widersprechen würde, dass Wohnen ein Grundbedürfnis und ein moralisches Menschenrecht ist und dass wir viel mehr sozialen Wohnungsbau brauchen. Niemand, der öffentlich abstreiten würde, dass wir viel mehr tun müssen, um auch Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen des Lebens selbstverständlich mittun zu lassen, dass wir mehr Personal in unseren Pflegeheimen benötigen und die Pflegekräfte vor Ort einfach mehr Zeit. Keiner der in Abrede stellen würde, dass es nicht nur eine Frage der Moral, sondern ebenso der Vernunft ist, die Armut in unserem Land energisch zu bekämpfen.

Doch entlarven sich derlei Bekenntnisse nur allzu oft als bloße Sonntagsreden, kommt man auf die Kostenseite einer solch moralisch gebotenen und vernünftigen Politik zu sprechen. Der Investitionsstau bei den Kommen liegt derzeit laut Kommunalpanel der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) bei über 130 Milliarden Euro: Hinter den ausstehenden Straßen- und Verkehrsinvestitionen von 36 Milliarden Euro bildet der Bereich Bildung – vom Kindergarten bis zur Volkshochschule – mit 34 Milliarden Euro gleich den zweitgrößten Block (vgl. KfW-Bankengruppe 2016). Und da sind noch keine zusätzliche Erzieherin und kein Lehrer mehr mitgerechnet. Armutsvermeidende Regelsätze bei Hartz IV und der Altersgrundsicherung würden mit rund 8 Milliarden Euro zu Buche schlagen. Für einen bedarfsgerechten sozialen Wohnungsbau werden in den nächsten Jahren nach Berechnungen des renommierten Pestel-Instituts (2015) 6,4 Milliarden Euro pro Jahr benötigt. Zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit mittels eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors sollte man noch einmal rund vier Milliarden Euro dazurechnen. Deutschland hat vieles schleifen lassen. Die Lücken zu schließen kostet zusätzliche Milliardenbeträge.

„Nun sag, wie hast du’s mit dem Teilen?“, lautet daher die Gretchenfrage der Armutspolitik. Wer ihr ausweicht, macht sich unglaubwürdig, wenn er zugleich sozialstaatliche Interventionen fordert, denn rein gar nichts gibt es zum Nulltarif. Ganz im Gegenteil. Es sind zweistellige Milliardenbeträge, die jedes Jahr aufgebracht werden müssen, um der Armut den Kampf anzusagen. Die Beantwortung der Verteilungsfrage ist daher die Nagelprobe, ist der Glaubwürdigkeitstest für jeden, der behauptet, Armut und Ausgrenzung wirkungsvoll bekämpfen zu wollen.

Umverteilen ist in der viertstärksten Volkswirtschaft auf dieser Erde nicht nur nötig, sondern auch ohne Verwerfungen möglich. Vermögen und Einkommen sind in Deutschland derart ungleich verteilt, dass man die breite Bevölkerung durchaus verschonen und stattdessen steuerpolitisch sehr gezielt bei Spitzenverdienern und Superreichen ansetzen kann, also bei denjenigen, die es nicht nur gut verkraften können, sondern bei denen man davon ausgehen kann, dass es ihren Alltag überhaupt nicht tangiert, wenn sie gezwungen sind, etwas mehr abzugeben. Es gibt nichts, auf das sie wirklich verzichten müssten. Theoretisch verfügt jeder Haushalt in Deutschland über Vermögen im Wert von etwa 160.000 Euro. Nur hat diese Durchschnittszahl keinerlei praktische Relevanz. Tatsächlich verhält es sich so, dass die reichsten 10 Prozent im Schnitt rund 1,2 Millionen Euro haben (vgl. Fratzscher 2016, S. 44). Sie teilen fast zwei Drittel des gesamten Privatvermögens in Deutschland unter sich auf (63 Prozent) – mindestens. Christian Westermeier und Markus Grabka (2015) vom DIW kommen in einer bemerkenswerten Studie, in der sie die sogenannten Forbes-Listen auswerten, zu dem Schluss, dass es tatsächlich sogar eher 74 Prozent sind.

Notwendig ist es allerdings, mit einigen Schauergeschichten aufzuräumen, mit denen Umverteilungsgegner so gern Angst erzeugen. Da ist zum Beispiel die Mär, eine höhere Besteuerung von Vermögen führe zu einem Exodus der Wohlhabenden, die alles tun würden, um ihr Eigentum in Sicherheit zu bringen. Wenn sie das wirklich tun...

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