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Demenz braucht Bindung

Wie man Biographiearbeit in der Altenpflege einsetzt

AutorWilhelm Stuhlmann
VerlagERNST REINHARDT VERLAG
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl157 Seiten
ISBN9783497610112
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis25,99 EUR
Wie kann man altersverwirrten Menschen Sicherheit geben? Indem man auf Ressourcen in ihrer Biographie zurückgreift. Dazu gehört vor allem Bindung, d.h. die innige Beziehung zu vertrauten Personen. Anschaulich erklärt der Autor, wie man Bindungserfahrungen in der Arbeit mit Menschen mit Demenz fruchtbar machen kann. Zahlreiche Fallbeispiele illustrieren, wie sich Bindungsstörungen auf die Krankheitsbewältigung auswirken und wie man schützende Faktoren in der Biographie des Betroffenen aufspürt. Gezeigt wird, wie sich das Konzept der Bindung in die Praxis von Pflegeansätzen wie Realitäts-Orientierungs-Training, Validation, Dementia-Care-Mapping, Selbst-Erhaltungs-Therapie u.a. integrieren lässt. Mit einem Glossar wichtiger Fachbegriffe und einem Leitfaden zur Ermittlung des Bindungsverhaltens.

Dr. med. Wilhelm Stuhlmann, Erkrath, Dipl.-Psych., Arzt für Neurologie und Psychiatrie, ist in eigener Praxis und in der Aus- und Weiterbildung, Supervision und Beratung in den Bereichen Altenhilfe, Geriatrie und Gerontopsychiatrie tätig; er ist Vorsitzender des Landesverbandes der Alzheimer Gesellschaften NRW e. V.

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Leseprobe

2

Ressourcen

2.1   Definition von Ressourcen

Im eigentlichen Wortsinn meint Ressource (lateinisch: resurgere = auferstehen), sich wieder erheben, Wiederherstellung oder Aufrichtung. Um dies zu können, müssen die Fähigkeiten dazu vorhanden sein und in der jeweiligen Situation verfügbar gemacht werden wollen und können. Ressourcen entstehen aus dem Zusammenwirken von Erfahrungen aus der Lebensgeschichte, dem Einsatz körperlicher und geistiger Fähigkeiten, der Motivation zur Bewältigung von Anforderungen, der persönlichen Bedeutung eines Problems, dem durch Krankheit veränderten Zugriff auf Ressourcen oder deren Verfügbarkeit und dem Vorhandensein sozialer Unterstützung. Damit wird deutlich, dass eine individuelle Definition von Ressourcen auf die jeweilige Person in ihrer jeweiligen Lebenssituation bezogen werden muss, was die Person für ihre Ziele nutzen kann oder was von ihr in einer bestimmten Situation Wert geschätzt wird (Schemmel/Schaller 2003).

Die Bestimmung von Ressourcen ist nicht einheitlich und ist im Hinblick auf das Erleben und die Bewältigung schwerer Krankheitsprozesse wie einer Demenzerkrankung und bei älteren Menschen bisher nur wenig beachtet worden.

In verschiedenen Definitionen werden jeweils abgegrenzte Aspekte von Ressourcen hervorgehoben. Dabei geht es immer um ein möglichst optimal abgestimmtes Erleben und Verhalten in einer bestimmten Situation mit dem Ziel der Bewältigung. Bewältigung ist dabei nicht nur Lösung eines Problems, Überwindung einer Krise oder Anpassung an bestimmte Gegebenheiten (Krankheit, Behinderung), sondern auch Selbstwertschutz und Reduzierung von innerer Anspannung, und im Idealfall auch Steigerung des Wohlbefindens und Verbesserung der Lebensqualität. Verschiedene Sichtweisen und Definitionen von Ressourcen werden in Tabelle 3 vorgestellt.

Tabelle 3: Verschiedene Zugänge zu Ressourcen

RessourcenzugangRessourceninhalt und Ressourcenumfang
Ressourcen als PotentialAls die Summe aller Möglichkeiten der Bewältigung.
Ressourcen als WurzelnFrüheste Erfahrungen in der Lebensgeschichte in ihrer Bedeutung und den Auswirkungen zu erkennen und sie im Laufe des Lebens nutzen zu können.
Ressourcen als QuelleAls immer wieder neu in jeder Situation zur Verfügung stehende Möglichkeiten und Kräfte.
Ressourcen als WerkzeugAls konkrete, in einer Situation verfügbare Fähigkeiten und die dazu erforderlichen körperlichen, materiellen und psychischen Voraussetzungen.
Ressourcen als CopingstrategieAls alle Formen des Umgangs und der Bewältigung von Belastungen (Stress) mit dem Ziel, die sich daraus ergebende (oft negativ erlebte) Anspannung zu reduzieren bzw. zu regulieren.
Ressourcen als Wiederherstellung oder AufrichtungAls sich wieder erheben, die eigenen Kräfte entdecken und nutzen, bei Krankheit auch Hilfen annehmen und nutzen können. Kompensatorische Hilfe nutzen – sich nur da helfen lassen, wo eigene Ressourcen nicht ausreichen.
Ressource als private LebensphilosophieAls allgemein formulierte Ressourcen, z. B. „kommt Zeit, kommt Rat“, als Ausdruck des Vertrauens in das, was kommt, und dass alles gut gehen wird. Oft sind Ressourcen verdichtet in gesellschaftlichen Stereotypen, Sprichwörtern oder Volksweisheiten – im positiven Sinn als Lebenshilfen – im negativen Sinn auch Defizit orientiert, z. B. „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“.

2.2   Bedeutung von Ressourcen

Ressourcen stehen immer im Zusammenhang mit einem persönlichen Ziel und der Motivation, dieses Ziel zu erreichen. Oft stehen verschiedene Ressourcen nebeneinander oder in Konkurrenz und Widerspruch miteinander. Neben Mangel und Versagen stehen oft auch Ausweg und Gelingen. Neben Erfolg steht Abwendung von Schaden, neben Schutz des Selbstwertgefühls steht das Risiko von Isolation und Zurückweisung. Ressourcen und Defizite sind also nicht unabhängig voneinander, sie bestehen oft gleichzeitig nebeneinander – sie sind wie zwei Seiten einer Medaille. Was aus der Außensicht als störendes, herausforderndes oder krankes Verhalten bezeichnet oder angesehen wird, kann z. B. für eine Person mit Demenz die einzige in der Situation noch verfügbare Möglichkeit sein, sich als kompetent, kontrollierend oder effektiv zu erleben. Im Kapitel über die Bewältigungsstrategien wird dies deutlicher.

Als Quelle persönlicher Motive, zu deren Erreichung und Absicherung Ressourcen notwendig sind und eingesetzt werden müssen, beschreibt Grawe (1998) vor allem vier menschliche Grundbedürfnisse. In diesem Zusammenhang wird auch das Bedürfnis nach Bindung als ein primäres und lebenserhaltendes Motiv herausgestellt. Jedes Konzept der Psychotherapie, der Betreuung und Pflege nimmt diese Motive auf, um positive Veränderungen im Erleben und Verhalten von Klienten, Patienten oder Bewohnern zu bewirken. Die menschlichen Grundbedürfnisse nach Grawe (1998) sind:

   Bedürfnis nach Orientierung, Kontrolle über das eigene Leben, Autonomie und Selbstbestimmung,

   nach Lustgewinn und Unlustvermeidung, Erleben von Freude, Vermeiden von Leid und Schmerz,

   Bindungsbedürfnis als Sehnsucht nach Geborgenheit, Schutz, Nähe und genährt werden,

   Bedürfnis nach Stärkung und Stabilisierung des Selbstwertgefühls (Selbstwerterhöhung) und Selbstwertschutz.

Unter dem Aspekt der personenorientierten Pflege wird später noch einmal auf die Sichtweise von Kitwood (2000) zu den Grundbedürfnissen bei Demenz speziell eingegangen.

Ressourcen sind aufgabenabhängig, sie werden in der entsprechenden Situation, bei entsprechenden Anforderungen oder Bewertungen sowie im Erleben und Verhalten einer Person erkennbar. Dabei können sie sich sowohl kompetenzverbessernd als erfolgreiche Bewältigungshilfe oder als bedrohlich und gefährlich erweisen. Dies wird an der Einschätzung eigener Möglichkeiten sichtbar, die sowohl angemessen als auch verzerrt oder ganz falsch sein kann. Dabei ist die „Einsichtsfähigkeit“ als die Fähigkeit der Abwägung von Vor- und Nachteilen einer Problembewältigung ein wichtiger Aspekt. Die Verleugnung und die Zuschreibung von Verantwortung auf Dritte (Projektion) schwächen diese Fähigkeiten. Ein Beispiel für die verzerrte Bewertung eigener Kompetenzen und Wirksamkeit findet sich bei der erlernten Hilflosigkeit. Seligmann (1999) nimmt an, dass die erlernte Hilflosigkeit ein entscheidender Faktor bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Depressionen ist. Eine verzerrte Sichtweise der eigenen Person führt dazu, dass die Person die Unwirksamkeit der eigenen Ressourcen erwartet, die zur Bewältigung erforderlich wären, und stattdessen Hilfe von außen erhofft.

2.3   Einteilung von Ressourcen

Bei der Einteilung der Ressourcen wird Wert auf die Ebene, auf der sie wirksam werden, sowie deren subjektiven und objektiven Anteil gelegt. Die folgende Übersicht zeigt eine Einteilung von Ressourcen im Alter, erweitert nach Perrig-Ciello (1996):

Sozio-biographische Ressourcen

Objektive Ressourcen:

   Alter, Zivilstand,

   Lebensereignisbiographie (Krieg, Vertreibung, Unglück, besondere Leistungen und Auszeichnungen, Erfolge),

   soziales (u. a. auch familiäres) Beziehungsnetz,

   Wohnverhältnisse,

   materielle Gegebenheiten (Armut – Wohlstand).

Subjektiv wahrgenommene Ressourcen:

   subjektiver Wert von Kontakten,

   Anzahl und Intensität sozialer Aktivitäten,

   Fähigkeit zu Helfen und Hilfe zu erlangen (und zu akzeptieren).

Psychische Ressourcen

Objektive Ressourcen:
(beschreibbare oder messbare psychische Leistungen)

   Gedächtnis,

   Intelligenz,

   Bildung,

   Freizeitverhalten.

Subjektive Ressourcen (Persönlichkeitsfaktoren):

   Überzeugung, Situationen selbst zu kontrollieren,

   Vertrauen in eigene Fähigkeiten,

   Fähigkeit, über Probleme zu sprechen,

   Religiosität als Lebenshilfen und Quelle von Hoffnung,

   Vergangenheitsbewältigung – Bilanzierung,

   durch psychische Störung veränderte Wahrnehmung und Interpretation von Situationen und Personen.

Körperliche Ressourcen...

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