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E-Book

Den Himmel im Herzen

AutorVreni Weber
Verlagriki Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl306 Seiten
ISBN9783907799512
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Die Lebensgeschichte einer körperlich schwer behinderten Frau. Ihr tiefer Glaube lässt sie alle Mühsal und schwerste Schicksalsschläge verkraften und ihr Leben als grosse Gnade empfinden. Eine Autobiographie, die berührt.

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Leseprobe

2

Primarschulzeit und Albtraum: Behinderung

Zu Weihnachten vor der Einschulung hatten mir meine Eltern Finkli gekauft, schwarz-weisse Zebrafinkli mit einem roten Pompom vorne drauf und einem Riemli zum Verschliessen – wunderschön waren sie –, aber sie passten nicht, sie waren mir zu klein. Das gab Tränen, ganz, ganz viele Tränen. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen. Enttäuschung und Traurigkeit erfüllten mich, es tat so weh. Wir brachten die Finkli ins Geschäft zurück und probierten andere, denn Zebrafinkli wollte ich keine mehr. Eine kleine Welt war damals zusammengebrochen, und ich zweifelte an der Liebe meiner Eltern, damit hatten sie – zum ersten, nicht aber zum letzten Mal – meine Seele verletzt. So richtig begreifen konnte ich das alles damals nicht, erst heute weiss ich, wie schrecklich Seelenschmerzen sein können und dass es einfach nur weh tut, ganz, ganz furchtbar weh.

Zum Geburtstag, dem siebenten, bekam ich einen Schulranzen aus Leder, hellbraun, und eine Bleistiftschachtel aus Holz – heute wäre es wohl ein Etui –, himmelblau angestrichen. Drin lagen zwei rote Bleistifte, ein Radiergummi und ein silberfarbener Spitzer. Jetzt war ich gerüstet für die Schule.

Unser Klassenzimmer lag im neuen, hellen Teil des Schulhauses. Meine Lehrerin war ein liebes, älteres Fräulein, Moser hiess sie. Sie zeigte uns die Garderobe und erklärte, wie sie es haben wollte: Jedes Kind hatte einen Haken für Jacke, Mantel und Mütze, und darunter mussten Schuhe und Finken akkurat hingestellt werden. Im Klassenzimmer gehörte der Schulsack neben das Pult, die Schreibschachtel oben in die Pultvertiefung und die Bücher und Hefte ins aufklappbare Fach. Alles musste seine Ordnung haben.

Fräulein Moser lehrte uns das Einmaleins, sie lehrte uns unsere Namen schreiben, und sie lehrte uns lesen – alles mit unermüdlicher Geduld und grosser Liebe. Und wenn ich ihr ein kleines farbiges Blumensträusschen mitbringen durfte, das meine Mutter aus unserem Garten zusammengestellt hatte, war ich unheimlich stolz, denn die Lehrerin freute sich wirklich und von ganzem Herzen.

In den Sommermonaten des ersten Schuljahres – ich war jetzt sieben Jahre alt – bekamen viele der Kinder Masern, diese «Tüpfli-Kinderkrankheit», ich auch. Als es dann bei allen vorbei war, wir wieder heil und gesund waren, kam der Schularzt zu uns, den Erstklässlern, um uns die Kinderlähmungs-Impfung – damals gab es die Schluckimpfung noch nicht – zu «verpassen» mit einer scheusslich langen, spitzigen Nadel, mit einer Spritze, für jedes Kind eine Ampulle. Die Lehrerin unterrichtete den Arzt, dass wir alle, fast alle, an Masern erkrankt gewesen seien, dass diese aber jetzt vorbei, gut ausgeheilt sei. Er meinte darauf, das sollte keine Probleme geben, es sei in Ordnung, diese Impfung jetzt zu machen. Diesen Schularzt habe ich als wenig liebevollen und herzlichen, aber als pflichtbewussten Arzt in Erinnerung. Er war alt, schmächtig und hatte eine Stirnglatze. Also wurden wir alle geimpft gegen diese schreckliche Kinderlähmung.

Meine Mutter hatte diese «Behinderung», schlimm war sie nicht, nur ihr rechtes Bein und der Fuss waren davon noch betroffen. Ihre Ärzte hatten damals, in Ermangelung besserer Erkenntnisse, dieses Bein bis oben eingegipst und auch den ganzen Fuss, an ein «Zehenloch» hatte niemand gedacht. Als der Gips dann entfernt wurde, war das Bein dünn und der Fuss zu einem Klumpfuss geworden. Sie konnte deswegen nur Massschuhe oder massgefertigte Sandalen tragen und hatte oft Schmerzen, was sie aber nie zugegeben hätte. Ein paar Minderwertigkeitskomplexe waren seitdem in ihrem Kopf und ihrem Herzen.

Uns Erstklässlern ging es gut, es gab keine Komplikationen wegen der Impfung – alles war in Ordnung. Eines Morgens, meine Mutter hatte mir gerade ein Honigbrötli gestrichen, fiel ich auf die Seite, klappte zusammen wie ein Sackmesser und schlug mit dem Kopf gegen die Eckbankkante. Eine kleine Unpässlichkeit wohl, denn es ging mir sofort wieder besser. Und so strichen meine Mutter und ich diesen Zwischenfall aus unseren Köpfen. Ob er etwas mit dem späteren Geschehen zu tun hatte, da habe ich keine Ahnung. Ich glaube, meine Mutter hat auch keinem Arzt oder Therapeuten von diesem Vorfall erzählt.

Drei Wochen nach der Kinderlähmungsimpfung, es war in der Handarbeitsstunde, wir mussten am «Stricklieseli» lange, farbige «Schlangen» stricken, merkte ich, dass es mir grosse Mühe machte, den linken Zeigefinger, um den ja die Wolle gelegt war, oben zu behalten, er knickte ein, er gehorchte mir irgendwie nicht mehr. Ich dachte mir nicht viel dabei, wie sollte ich auch, aber es störte mich schon. Und da ich sonst keine Probleme hatte, schwieg ich schön still – es würde sich schon geben…

Aber es gab sich nicht. In der nächsten Handarbeitsstunde war es wieder gleich: Der Finger blieb nur oben, wenn ich ihn mit der andern Hand hielt, aber so stricken konnte ich nicht. Daheim druckste ich herum. Meine Mutter wusste, wie ungern ich strickte und dass ich alles versuchte, um mich davor zu drücken. Und so war es, dass sie mir nicht glaubte, sie lachte mich aus. Mein Beharren, dass etwas nicht gut sei, ärgerte sie. Zuletzt einigten wir uns darauf, dass sie mir einen Wollknäuel machte und kleine Schokoladentäfeli und Bonbons darin versteckte, um mir so das Stricken zu «verschönern». Ich wollte ja gerne, vor allem wollte ich alle diese feinen Süssigkeiten haben, aber so sehr ich mich anstrengte – es ging nicht mehr, der Finger blieb einfach nicht mehr oben.

Als meine Mutter dies realisierte und endlich begriff, meldete sie mich beim Kinderarzt an, einem jungen, netten, krausgelockten Arzt. Der sah das Problem, aber eine Erklärung dafür hatte er nicht. Und so riet er uns, einfach zuzuwarten, diese «Schwäche» könne ja wieder vergehen und Schmerzen hatte ich keine. Also warteten wir, meine Mutter und ich. Aber als sich dann meine linke Hand zu einer Faust ballte, die sich nur mit grösster Willensanstrengung und mit Zuhilfenahme der rechten Hand öffnen liess, als ich anfing, mit den Beinen zu häkeln, einzufädeln, zu stolpern und hinzufallen, musste wirklich eine Erklärung, eine Diagnose her. Der Kinderarzt hatte keine Ahnung, was sich da entwickelte. Er hoffte wohl immer noch auf ein Wunder. Doch zuwarten konnte er auch nicht. So wurde ich – mein «Fall» – den Spezialisten im Berner Inselspital übergeben.

Als ich kleines Mädchen dieses Riesenspital, all die Gebäude, das «Hochhaus» zum ersten Mal sah, da wurde mir so angst. Ich hätte schreien, weglaufen mögen, aber stattdessen ging ich brav an der Hand meiner Mutter durch Gänge, betrat Zimmer, legte mich auf Untersuchungstische, sah Gesichter, hörte Ärzte und Schwestern, Studenten und Professoren reden und beraten – und hatte Angst. Meine Not war tief und ganz schwarz.

Dann, irgendwann, nach unendlichen Untersuchungen, die oft sehr schmerzhaft waren, einigten sich alle auf eine Diagnose: Es musste eine cerebrale Lähmung sein, ausgelöst wahrscheinlich durch eine Hirnhautentzündung.

Ich begriff nichts, aber ich sah die Tränen, die Verzweiflung und die grosse Not meiner Mutter, und ich sah die Wut, die Abscheu und Ablehnung meines Vaters. Eine behinderte Tochter – nein danke, das wollte, konnte er nicht haben. Sein Herz wurde hart wie Stein, kein liebes Wort, kein Kuss, keine Umarmung mehr, sein Sonnenschein war ich nicht mehr, er «tauchte ab», so empfand ich es, und der Schmerz darüber war so gross.

Als die Ärzte aus der Uniklinik in Zürich die Diagnose bestätigten, brach für alle eine Welt zusammen. Es hagelte gegenseitig Vorwürfe, Beschuldigungen. Jedes von uns versuchte auf seine eigene Weise mit dieser Situation fertig zu werden. Mein Vater schwieg einfach, meine Mutter versuchte Informationen über die Behinderungen zu bekommen, und ich, ich litt leise, ganz leise in meinem Herzen und wurde einsam.

Eine damals neuartige Therapie, die «krankengymnastische Methode zur Behandlung abnormer Haltungsreflexe bei Gehirnschäden» (Bobath nannte man sie, benannt nach dem Neurophysiologen Karel Bobath) wurde mir «verschrieben». Ich wurde einer Ärztin in der Insel zugewiesen, Frau Dr. Küng. Sie war ganz klein, zierlich und zart wie eine Elfe, aber ihre Kraft, die innere und äussere, war gewaltig und ihre Assistentin, eine Engländerin, Miss Quintten, war ein Drache, laut und resolut. Diese beiden Frauen zeigten meiner Mutter die Übungen, die wir fortan machen mussten – immer, immer wieder das gleiche. Es war schrecklich, ganz furchtbar, und ich wehrte mich dagegen mit allem, was ich hatte, lautstark, aber es half nichts. Meine Mutter blieb hart: GOTT sei Dank! Heute weiss ich, es war mir zum Besten. Ohne diese «Turnerei» damals ginge es mit heute nicht so gut.

In der dritten und vierten Klasse unterrichtete uns ein Lehrer, Herr Schwendener. Er war riesengross, stark, ähnlich einem Bären, und er förderte und fordete mich. Er wollte unbedingt, dass ich in die Sekundarschule aufgenommen wurde. Er...

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