Kapitel 2 – Hinein in den Schwarm
Es ist nicht so, dass wir immer automatisch Teil eines Schwarms sind. Ob am Arbeitsplatz oder im Freundeskreis: Manche von uns müssen sich regelrecht darum bemühen, hineinzukommen. Es ist ein Kampf um Anerkennung, Zuwendung und Respekt. Wenn wir die Augen aufmachen, dann können wir jeden Tag auf Menschen treffen, die ihre Kraft darauf verwenden, es vor allem anderen recht zu machen:
Sobald Holger Matuschek durch das Firmentor geht, den Pförtner grüßt, beginnt seine Transformation. Obwohl erst seit einem Monat in der Firma, nimmt es der Abteilungsleiter schon nicht mehr bewusst wahr, wenn er auf dem Weg zum Großraumbüro vorsorglich Rücken und Schultern aufrichtet und durchdrückt, wenn er dann am Arbeitsplatz seine Sachen auspackt und sogleich Witterung aufnimmt. Ein Blick nach rechts zu seinen Kolleginnen, die sich dem neuesten Tratsch hingeben. Dann schnell hinüber zu der Gruppe sportlicher Anfangdreißiger, die sich mit den persönlichen Bestleistungen bei ihrer letzten Kneipentour übertrumpfen. Und wie von Matuschek erwartet, fliegt aus einem vor lauter Lachen weit aufgerissenen Männermund auch schon eine Anzüglichkeit über alle Schreibtische hinweg und schlägt inmitten der Frauengruppe ein, die laut kichernd aufspringt.
»Volltreffer«, brummt der vorbeikommende Geschäftsführer und klatscht zufrieden in die Hände. So viel gute Stimmung am Morgen. Beim Weitergehen taxiert der Vorgesetzte Matuschek. Der spürt die unausgesprochene Frage: Wie ist der Neue eigentlich so drauf? Als drücke jemand einen Knopf, beginnt Matuschek zu grinsen. Obwohl der derbe, sexistische Humor so gar nicht seiner Art entspricht.
Darüber aber verschwendet er keinen Gedanken. Ihn plagt etwas anderes: »Jetzt sag endlich was«, schreit es in seinem Kopf, »oder willst du wieder nur zuschauen?« Und siehe da: Wenn auch etwas gehemmt, kommen die Worte aus seinem Mund. Zur Überraschung aller weist er plötzlich auf die etwas verantwortungslose Rocklänge seiner Kollegin hin, die noch immer im Zentrum des erhitzten Interesses steht. Dieser Anflug eines Witzes wird im weiten Rund des Büros vernommen. »Na, na, na«, summt ihm die gespielte weibliche Entrüstung entgegen. Die Jungs, vom Geschäftsführer sehr geschätzt, haben seine Bemühungen wohlwollend registriert. Matuschek atmet durch, lächelt verlegen und ein wenig stolz. Wie gut das tut. Er hebt die Hand und salutiert hinüber, spaßeshalber.
Man dreht sich wieder weg von ihm. Jetzt ist es ihm fast unangenehm, aber Matuschek ist sich sicher: Wenn das Team nach Feierabend mal wieder durchs Nachtleben zieht, dann wird man ihn, ihren neuen Chef, endlich mitnehmen – selbst wenn Kampftrinken noch nie seine Sache war.
Die Regeln der Mehrheit
Kaum befinden wir uns mit Kollegen in einem Raum, können wir uns den üblichen Gepflogenheiten in einem Unternehmen und den mit ihnen einhergehenden Emotionen nur schwer entziehen: etwa der Art, wie respektvoll oder herabsetzend man über andere spricht, gerade über die nicht Anwesenden. Dem Humor, der schwierige Situationen entkrampft oder zuspitzt. Der Intensität der Konflikte und wie man sie in geordnete Bahnen lenkt oder chaotisch, möglicherweise sogar verletzend, eskalieren lässt. Dem Maß an unausgesprochenem Vertrauen, das zwischen allen Beteiligten herrscht.
Der Unternehmensschwarm der vielen kleinen Fische – er richtet sich entlang dieser kulturellen Linien aus, die in jedem Unternehmen anders verlaufen können. An den offiziellen und inoffiziellen Regeln der Unternehmenskultur orientiert sich das Verhalten der Mehrheit der Mitarbeiter automatisch. Dafür braucht es nicht einmal Strafe und Belohnung. Wie eine Firma tickt, das spüren wir sofort, wenn uns einige der Kollegen umgeben. Wir fühlen, wie wir uns in den Augen der anderen verhalten sollen, wenn wir von ihnen wertgeschätzt werden möchten.
Ob wir es wollen oder nicht: Wir müssen uns entscheiden, auf welche Weise wir uns zu diesem Schwarm verhalten. Wenn wir Reibung und Konflikt vermeiden wollen, dann können wir einfach mitschwimmen, uns gedankenlos und bequem treiben lassen im Sog der Kollegen. Das tut nicht weh, zumindest eine Zeit lang nicht. Wir bekommen einen festen Platz in der Hierarchie und damit einen gewissen Status. Wenn wir schön brav mitziehen, gibt es vielleicht auch noch einen Bonus auf unser Gehalt.
Aber eines ist sicher: Niemand kann sich ewig verbiegen und letztendlich bis zur Unkenntlichkeit anpassen, ohne dass dies gravierende Folgen für das eigene Wohlbefinden, die Gesundheit und das eigene Leben hat. Je länger man in einem Unternehmensalltag einfach mitmacht, über viele Jahre den herrschenden Geist inhaliert, desto mehr wird das oft recht eigenartige Schwarmverhalten innerhalb der Firmenmauern als eine Selbstverständlichkeit betrachtet, zu der es keine Alternative gibt.
Kaum betreten wir ein Unternehmen, fallen uns dessen Besonderheiten auf. Da gibt es einen Wettstreit darüber, wer die meisten Überstunden anhäuft, bei dem sich Außenstehende nur an den Kopf fassen. Da tragen die Männer einer Abteilung Krawatten in einem ganz bestimmten Ton, als sei allen der Geschmack gleichzeitig abhandengekommen. Da schweigen sich in Meetings alle beharrlich an, als sei niemand für das Ergebnis verantwortlich, oder das Gegenteil ist der Fall, und auch der zarteste Spross einer Idee wird voller Leidenschaft zu Tode diskutiert. Die Frage, vor der jeder von uns steht, sobald er oder sie Teil einer solchen Unternehmenskultur wird, lautet: Können wir uns gegen die Kraft eines solchen Umfeldes behaupten und selbstbestimmt handeln?
Ich war einmal in einer Firma angestellt, in der es üblich war, den Freitagabend mit einem gemeinsamen Gang in eine Bar mit Tabledance zu beschließen. Für viele Mitarbeiter, mich eingeschlossen, war das nicht der ideale Zeitvertreib. Nur war ich erstaunlicherweise der Einzige, der sich nicht an diesem Ritual beteiligte. Entstanden dadurch Nachteile für mich? Nein!
Es gibt immer eine Alternative zum vorherrschenden Geist in einem Unternehmen. Jeder von uns hat eine Wahl, wie sehr er oder sie sich anpasst. Sie können sich selbst treu bleiben und die Witze machen, die zu Ihnen passen. Sie können freundlich sein, so wie Sie es selbst für richtig halten. Sie brauchen nicht bei Kneipentouren dabei zu sein, um Ihren Job ordentlich zu machen, dafür geschätzt zu werden und für sich und Ihr Unternehmen erfolgreich zu sein.
Aber zu viele von uns geben alles dafür, um mit Haut und Haar integriert zu werden. Keinen Zentimeter weit und kein Lachen lang wollen wir außen vor bleiben. Die Matuscheks dieser Welt fühlen sich ohne ihre Herde so hilf- und schutzlos wie das kleine Gnu.
Der Selbstverrat
Was uns in solchen Situationen umtreibt, ist nicht allein der Druck von außen. Es sind unsere Sehnsüchte. Wir wollen dazugehören, Lob bekommen, Unterstützung erfahren, einen guten Status erlangen. Dahinter verbergen sich oft vielerlei Ängste: die Angst vor Kritik, vor Zurückweisung, die Angst, sich vor den anderen zu blamieren. Wer von uns kennt nicht diese plagende Ungewissheit: Was der Teamleiter wohl über mich denkt? Hält man mich für langweilig? Und was hätte das für Folgen? Werde ich dann benachteiligt, vielleicht sogar gemobbt? Wie schnell nimmt dann das fiktive Drama in unserem Kopf schnell seinen Lauf. Die Vorstellung, wir würden auf Dauer außen vor bleiben, peinigt uns. Es ist diese Angst, der wir uns kämpferisch stellen müssen. Aber zu oft stehen wir zitternd und unsicher am Rand und wollen am liebsten nur eines: so schnell wie möglich mitten hinein in den Kern des Schwarms. Instinktiv wittern wir dort die größtmögliche Sicherheit vor den Zumutungen des beruflichen Alltags – aber die hat ihren Preis.
Wer keinen Stolz hat, kein Rückgrat zeigt, weil er sich über sich selbst nicht im Klaren ist, der zahlt dafür einen Preis. Dann verkaufen wir im Auftrag unseres Arbeitgebers Produkte, die wir selbst schlecht finden. Dann verkünden wir als Führungskraft Botschaften, an die wir selbst nicht glauben können. Dann ordnen wir uns in die Unkultur unseres Büroschwarms unter und ein, obwohl sie uns zutiefst fremd ist. Wir verraten uns dabei selbst, sind bereit, unseren Charakter zu deformieren. Das Schlimmste, was uns passieren kann: Wir nehmen es nicht einmal bewusst in Kauf – wir lassen es, aus Unbedarftheit und der Unfähigkeit, die eigene Situation zu überschauen, einfach mit uns geschehen.
Mein Eindruck ist: Das geringe Selbstvertrauen schränkt unseren Blick ein, lässt uns wie ein Herdentier nur auf unsere Umgebung und nicht auf uns selbst reagieren. Unentwegt versucht sich die große Mehrheit der Mitarbeiter in deutschen Unternehmen abzusichern. Befolgt Gruppenrituale, die sie selbst anwidern. Tut alles dafür, um nur nicht anzuecken. Bemüht sich verzweifelt um Anerkennung. Sammelt Sympathiepunkte, als sei es die einzig gültige Währung für die eigene Selbsteinschätzung.
Aber welchen Preis wollen Sie zahlen für diesen Glücksrausch an kurzfristiger Anerkennung auf Ihrem imaginären Lebenskonto? Lohnt sich das brave, oft feige und gleichzeitig dumme Einordnen in einen Unternehmensschwarm, selbst wenn uns vieles an diesem zuwider ist und wir es im Nachhinein bereuen? Wenn wir die Witze der Kollegen eigentlich schon lange nicht mehr hören können? Wenn wir uns fragen, ob unsere Manager noch richtig ticken? Wenn uns die gemeinsamen Mittagessen zu Tode langweilen? Wenn das, was im Team oder im Unternehmen passiert, unseren eigenen Vorstellungen viel zu oft zuwiderläuft? Die Frage ist: Sind wir...