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In den Wäldern Sibiriens

Tagebuch aus der Einsamkeit - Ausgezeichnet mit dem ITB BuchAward 2024

AutorSylvain Tesson
VerlagKnaus
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783641126001
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Einfach mal weg sein: Die Einladung, ein anderes Leben zu führen.
'Fünf Tagesmärsche vom nächsten Dorf entfernt, inmitten einer unendlich weiten Natur, habe ich mich sechs Monate lang bemüht, glücklich zu sein. Zwei Hunde, ein Holzofen, ein Fenster mit Blick auf den See genügen.' Sylvain Tessons Aufzeichnungen handeln vom Versuch, durch Weltabgeschiedenheit und Einsamkeit frei über die eigene Zeit verfügen zu können. 'Ein Buch von magnetischer Anziehungskraft' (Le Monde Des Livres), das in Frankreich Hunderttausende begeistert hat und international von Lesern und Kritik gefeiert wird.

Sylvain Tesson, geboren 1972 in Paris, ist Geograph, Schriftsteller, Filmemacher und ein großer Reisender. Er fuhr mit dem Fahrrad um die Welt und unternahm monatelange Expeditionen - zu Fuß durch den Himalaja und von Sibirien nach Indien, auf dem Pferd durch die Steppen Zentralasiens, auf dem Motorrad von Moskau nach Paris. Seine Erlebnisse in sechs Monaten allein in einer Hütte am Baikalsee schilderte er in seinem Buch »In den Wäldern Sibiriens«. Für seine Reisebeschreibungen und Essays wurde er mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Prix Goncourt de la nouvelle und dem Prix Medicis. Zuletzt erschien von ihm der Bestseller »Der Schneeleopard«.

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Leseprobe

Die Marke Heinz vermarktet etwa fünfzehn verschiedene Saucen. Der Supermarkt von Irkutsk führt sie alle, und ich kann mich nicht entscheiden. Ich habe schon sechs Einkaufswagen mit Nudeln und Tabasco beladen. Der blaue Lastwagen wartet auf mich. Mischa, der Fahrer, hat den Motor nicht abgestellt, draußen herrschen minus 32 Grad. Morgen verlassen wir Irkutsk. In drei Tagen werden wir die Blockhütte am Ostufer des Sees erreichen. Ich muss heute mit den Einkäufen fertig werden. Ich wähle die »Super Hot Tapas« aus dem Heinz-Sortiment. Ich nehme 18 Flaschen davon: pro Monat drei.

Fünfzehn Sorten Ketchup. Wegen solcher Dinge wollte ich dieser Welt den Rücken kehren.

9. Februar

Ich liege auf meinem Bett in Ninas Haus, in der Straße der Proletarier. Ich liebe die russischen Straßennamen. In den Dörfern findet man die »Straße der Arbeit«, die »Straße der Oktoberrevolution«, die »Straße der Partisanen« und manchmal eine »Straße des Enthusiasmus«, auf der graue alte Slawinnen träge ihrer Wege gehen.

Nina ist die beste Zimmerwirtin von Irkutsk. Früher war sie Pianistin und trat in den Konzertsälen der Sowjetunion auf. Jetzt führt sie eine Pension. Gestern hat sie mich gefragt: »Wer hätte gedacht, dass ich mich eines Tages in eine Pfannkuchenfabrik verwandeln würde?« Ninas Kater schnurrt auf meinem Bauch. Wenn ich ein Kater wäre, wüsste ich, auf welchem Bauch ich mich wärmen würde.

Ich stehe kurz vor der Erfüllung eines sieben Jahre alten Traumes. 2003 war ich zum ersten Mal am Baikalsee. Ich wanderte am Ufer entlang und entdeckte in regelmäßigen Abständen Blockhütten, bewohnt von seltsam glücklichen Einsiedlern. Die Vorstellung, mich unter dem Blätterdach der Hochwälder zu verkriechen, allein, in der Stille, setzte sich in mir fest. Sieben Jahre später bin ich nun hier.

Ich muss die Kraft finden, den Kater wegzustoßen. Aus dem Bett aufzustehen verlangt eine ungeheure Energie. Vor allem, um ein neues Leben zu beginnen. Dieser Drang kehrtzumachen, wenn das, was man ersehnt, zum Greifen nah ist. Manche Menschen machen im entscheidenden Moment eine Kehrtwende. Ich habe Angst, zu dieser Sorte zu gehören.

Mischas Lastwagen ist vollgepackt bis obenhin. Bis zum See sind es fünf Stunden Fahrt durch vereiste Steppen: eine Seefahrt durch Wellenberge und -täler einer versteinerten Dünung. Am Fuß der Hügel rauchen Dörfer, auf Untiefen gestrandete Schwaden. Angesichts solcher Bilder schrieb Malewitsch: »Wer je Sibirien durchquert hat, wird nie wieder nach Glück streben können.« Als wir die Kuppe eines Hügels erreichen, liegt der See plötzlich vor uns. Wir halten an, um zu trinken. Nach vier Gläsern Wodka die Frage: Durch welches Wunder schmiegt sich die Küstenlinie so vollkommen den Konturen des Wassers an?

Bringen wir die Zahlen hinter uns. Der Baikalsee, 700 Kilometer lang, 80 Kilometer breit und 1500 Meter tief. 25 Millionen Jahre alt. Im Winter eine Eisdicke von 110 Zentimetern. Der Sonne sind diese Zahlen egal. Sie ergießt ihre Liebe über die weiße Fläche. Die Wolken filtern die Strahlen, eine Herde Lichtflecken gleitet über den Schnee – die Wange der Leiche leuchtet auf.

Der Lastwagen fährt aufs Eis. Unter den Rädern, ein Kilometer Tiefe. Wenn wir in eine Spalte rutschen, wird das Fahrzeug in der Finsternis versinken. Die Körper werden still fallen. Langsamer Schnee der Ertrunkenen. Der See ist ein Traumgrab für jeden, der die Verwesung fürchtet. James Dean wollte sterben und eine »schöne Leiche« hinterlassen. Die winzigen Krebse, Epischura baikalensis, werden die Leichen binnen 24 Stunden säubern und auf dem Seegrund nichts als das Elfenbein der Knochen übrig lassen.

10. Februar

Wir haben im Dorf Chuschir auf der Insel Olchon (gesprochen Olkhraun, auf nordische Art) übernachtet und fahren Richtung Norden. Mischa spricht kein Wort. Ich bewundere schweigsame Menschen, ich stelle mir ihre Gedanken vor.

Ich bewege mich auf den Ort meiner Träume zu. Die Stimmung ist unheimlich. Die Kälte lässt ihr Haar im Wind wehen. Schneefäden fliehen vor den Reifen. Durch den Zwischenraum zwischen Himmel und Eis fegt der Sturm. Ich betrachte das Ufer, versuche nicht daran zu denken, dass ich sechs Monate in diesen Requiem-Wäldern leben werde. Es sind alle Elemente des Bilderbogens der sibirischen Straflager versammelt: die unermessliche Weite, das fahle Licht. Das Eis hat etwas von einem Leichentuch. 25 Jahre lang wurden Unschuldige in diesen Albtraum hineingeworfen. Ich bin freiwillig hier. Worüber sollte ich mich beklagen?

Mischa: »Es ist trostlos.«

Dann Schweigen bis zum nächsten Morgen.

Meine Blockhütte steht im Norden des Baikal-Lena-Naturreservats. Es ist eine ehemalige geologische Station aus den 1980er Jahren, verborgen in einer Zedernlichtung. Die Bäume haben dem Ort ihren Namen auf der Karte gegeben: Kap der nördlichen Zedern. Nördliche Zedern klingt wie der Name einer Seniorenwohnanlage. Aber schließlich handelt es sich ja auch um einen Ruhesitz.

Über den See zu fahren ist eine Grenzübertretung. Allein Götter und Spinnen wandeln übers Wasser. Drei Mal hatte ich bisher das Gefühl, ein Tabu zu brechen. Das erste Mal, als ich den Grund des Aralsees betrachtete, der von den Menschen geleert wurde. Das zweite Mal, als ich das Tagebuch einer Frau las. Das dritte Mal, als ich über die Wasser des Baikalsees fuhr. Jedes Mal das Gefühl, einen Schleier zu zerreißen. Das Auge blickt durch ein verbotenes Schlüsselloch.

Ich erkläre das Mischa. Er antwortet nichts darauf.

Am Abend machen wir in der wissenschaftlichen Station von Pokoiniki halt, im Herzen des Reservats.

Sergej und Natascha sind die Inspektoren. Sie sind schön wie griechische Götter, nur wärmer angezogen. Sie leben hier seit zwanzig Jahren und machen Jagd auf Wilderer. Meine Blockhütte liegt 50 Kilometer weiter im Norden. Ich bin glücklich, sie als Nachbarn zu haben. An sie zu denken wird mir angenehm sein. Ihre Liebe: eine Insel im sibirischen Winter.

Wir haben den Abend mit zwei Freunden von ihnen verbracht, Sascha und Jura, sibirische Fischer – zwei dostojewskische Typen. Sascha ist extrem angespannt, rosig, voller Lebenskraft. Sein harter Blick kommt aus der Tiefe zweier mongolischer Augen. Jura ist dunkel, rasputinesk, schlammfischgenährt. Seine Haut ist bleich wie die der Bewohner von Tolkiens Mordor. Der Erstere ist für Geniestreiche geschaffen, der Zweite für Verschwörungen. Jura war seit fünfzehn Jahren nicht mehr in der Stadt.

11. Februar

Am Morgen begeben wir uns wieder aufs Eis. Der Wald zieht vorüber. Als ich zwölf war, haben wir einmal das Museum des Ersten Weltkriegs in Verdun besichtigt. Ich erinnere mich an den Saal über die Schlacht am Chemin des Dames. Dort waren die Frontsoldaten im Schützengraben von einer Schlammlawine verschüttet worden. Heute Morgen ist der Wald eine versunkene Armee, von der nur die Bajonette herausragen.

Das Eis kracht. Von den Bewegungen des Eismantels zusammengepresste Platten bersten. Bruchlinien durchziehen die quecksilbrige Ebene, Kristallhaufen werfen sich auf. Aus einer gläsernen Wunde fließt blaues Blut.

»Schön«, sagt Mischa.

Dann nichts mehr bis zum Abend.

Um 19 Uhr kommt mein Kap in Sicht. Das Nördliche Zedernkap. Meine Blockhütte. Die GPS-Koordinaten lauten: N 54° 26´45,12" / E 108° 32´40,32".

Die dunklen Umrisse von ein paar kleinen Gestalten, von Hunden begleitet, nähern sich über den Strand, um uns zu begrüßen. So malte Brueghel die Menschen auf dem Lande. Der Winter verwandelt alles in ein flämisches Gemälde: präzis und lackglänzend.

Es schneit, dann kommt der Abend, und all das Weiß wird zu fürchterlicher Schwärze.

12. Februar

Wolodja T., Forstinspektor, ist um die fünfzig und lebt seit fünfzehn Jahren mit seiner Frau Ludmila in der Nördlichen Zedernhütte. Er trägt eine getönte Brille, sein Gesicht ist sanft. Manche Russen sehen aus wie brutale Schläger, doch ihm würde man ohne Weiteres ein Bärenjunges anvertrauen. Wolodja und Ludmila wollen zurück nach Irkutsk. Ludmila ist krank, eine Venenentzündung, sie muss sich behandeln lassen. Ihre Haut ist weiß wie ein Froschbauch, wie bei allen mit Tee getränkten russischen Frauen; die Blutadern bilden ein Suppennudelmuster unter dem Perlmutt. Sie warten mit ihrer Abreise auf mich.

Aus der Hütte im Zederngehölz steigt Rauch auf. Der Schnee hat das Dach mit Baiser überzogen, die Balken haben die Farbe von Pfefferkuchen. Ich habe Hunger.

Die Behausung steht am Fuß von 2000 Meter hohen Hängen. Die Taiga zieht sich in Richtung Gipfel hinauf und kapituliert bei 1000 Metern. Darüber beginnt das Reich des Steins, des Eises, des Himmels. Der Berg ragt gleich hinter der Hütte empor. Der See liegt 450 Meter über dem Meeresspiegel, aus meinen Fenstern sehe ich das Ufer.

Im Abstand von 30 Kilometern beherbergen Stationen des Naturschutzgebiets Inspektoren, die unter Sergejs Befehl stehen. Im Norden, am Kap Jelochin, heißt mein Nachbar Wolodja. Im Süden, im kleinen Dorf Saworotny, ebenfalls Wolodja....

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