1. Was Ihnen dieses Buch bringt
»Anja, kannst du mal kommen?«, rief mein Chef quer über den Flur, und der Tonfall verriet: Es gab etwas zu klären. Er saß hinter seinem Schreibtisch, zeigte auf den Computerbildschirm und fragte: »Was meinst du damit?« Ich trat hinter ihn, blickte über seine Schulter und erkannte die E-Mail, die ich an eine Mitarbeiterin geschrieben hatte. Es betraf eine Entscheidung, die ich nicht mit ihm abgestimmt hatte, eine Kleinigkeit, gemessen an dem, was sonst in meiner Entscheidungshoheit lag. Neben ihm stehend, erklärte ich ihm meine Beweggründe. Er hatte seine Einwände. Während er sprach, stand er auf, ging um den Schreibtisch herum, und dann endete unser Gespräch plötzlich in einer Weise, die sich mir tief ins Gedächtnis einbrannte: Zornig starrte er mich an und und rief aufgebracht: »Schließlich bin hier immer noch ich der Chef!« Da stand ich nun und verstand die Welt nicht mehr. Wieso war er so ausgerastet? Es ging doch nur um eine Kleinigkeit …
Ich brauchte eine ziemliche Weile, ehe ich die Situation entschlüsselt hatte – und meinen Anteil an seiner Wut verstand. Dies ist ein Beispiel für eine Vielzahl von Situationen aus dem Büroalltag, die wir nicht als Verhandlung erkennen, weil wir übersehen, was wir unausgesprochen immer noch alles mitverhandeln. Aber genau dieses Nichterkennen kann unseren Arbeitsalltag und die Beziehung zu Kollegen und Vorgesetzten nachhaltig trüben.
Konflikte sind die reichhaltigste Kommunikation, die wir Menschen miteinander haben. Und Verhandlungen sind Konflikte: Eine oder mehrere Personen haben gegensätzliche Interessen oder Standpunkte.
Ich habe in meinem vielfältigen Berufsleben in Hamburg, Berlin, Frankfurt, China und Hong Kong gelebt und gearbeitet, und ich hatte das »Glück«, noch weitere Verhandlungen zu erleben, die so daneben gingen wie die oben geschilderte. Verhandlungen, die wehtaten und mich ratlos zurückließen. Aus purem Überlebenswillen heraus begann ich, mich mit professionellen Verhandlungsstrategien zu beschäftigen. Ich wollte verstehen, woran meine Verhandlungen scheiterten und was ich tun könnte, damit sie besser laufen. Zudem wollte ich mich nicht mehr Gesprächspartnern ausgeliefert sehen, die mir »irrational« oder »unfair« vorkamen. Verhandlungspartner wie mein einstiger, oben erwähnter Chef zum Beispiel.
Was war der Grund für seine wütende Reaktion gewesen, die in meinen Augen in keinem Verhältnis stand zu der Kleinigkeit, die wir verhandelt hatten?
Ich hatte meinem Chef sein Territorium streitig gemacht. Ich hatte hinter seinem Schreibtisch gestanden, und damit hatte ich ihm sein Territorium und seinen Status streitig gemacht! Und das, nachdem ich zuvor eine Entscheidung getroffen hatte, ohne ihn zu konsultieren (die Wichtigkeit der Entscheidung spielte dabei keine Rolle). Es war also Statusbedrohung pur, die von mir – völlig ohne Absicht – ausgegangen war. (In Kapitel 5 und 26 erfahren Sie mehr darüber.)
Und warum hatte ich das nicht kapiert? Weil ich seinerzeit – unerfahren, flache Hierarchien gewohnt und sach- und beziehungsorientiert – keine Vorstellung davon hatte, wie es jemandem geht, der seinen Status bedroht sieht. Hätte ich damals schon gewusst, was ich heute weiß, hätte ich nach einem kurzen Blick über seine Schulter den Platz hinter seinem Schreibtisch sofort wieder verlassen, um ihn nicht auf territorialer Ebene zu provozieren.
Typisch Frau? Typisch Frau!
Wenn Sie ebenfalls ein eher gering ausgeprägtes Statusbedürfnis haben, so wie ich damals, haben Sie vielleicht schon ähnliche Situationen erlebt. Denn Verhandlungen werden keineswegs nur mit dem Denkhirn geführt, und es geht immer um mehr als nur um Forderungen, die wir in Worte fassen. Verhandlungen führen wir mit unserer ganzen Person, mit vielen tiefverwurzelten Bedürfnissen und archaischen Verhaltensweisen. »Ohne tiefes Verständnis der menschlichen Psychologie, ohne die Akzeptanz, dass wir alle verrückte, irrationale, impulsive und gefühlsgesteuerte Tiere sind, hilft uns bloße Intelligenz und mathematische Logik wenig im nervenaufreibenden Wechselspiel zweier Menschen, die verhandeln.«1 Eine Einsicht des erfahrenen FBI-Verhandlers Chris Voss, die sich uneingeschränkt mit meinen Erfahrungen deckt.
Wer sich in den Dschungel wagt, muss damit rechnen, gefressen zu werden, lautet die nüchterne Erkenntnis einer Freundin, die früher Geschäftsführerin der berühmten Filmstudios in Babelsberg war. Leider kümmern wir Frauen uns oft zu wenig um die Gesetze des Businessdschungels. Weil wir dem Irrtum aufsitzen, wir würden in einer Welt leben, in der das rationale Denken regiert und kooperatives Zusammenarbeiten zählt. Dem ist aber nicht so.
Ich lade Sie deshalb ein, liebe Leserin: Schaffen Sie sich in diesem Buch die Überlebenstricks drauf, die Sie brauchen, um bei Verhandlungen mit impulsgesteuerten und irrationalen Exemplaren der menschlichen Spezies nicht gefressen zu werden – Tricks, die Ihnen helfen, den Verhandlungsdschungel heil zu durchqueren und reiche Beute nach Hause zu tragen.
Werden Sie zu einer geschickten Verhandlerin, die weiß, was sie tut! Verhandeln Sie auch da noch geplant und mit kühlem Kopf, wo Ihr Verhandlungspartner schon im Dschungelmodus agiert. Damit Sie sich in Zukunft nicht von trommelnden Alphatierchen einschüchtern lassen, sondern Ihre Verhandlungen gut vorbereitet, klarsichtig und mit Einsatz des Denkhirns steuern. Dazu sollten Sie, kurz gefasst, Folgendes können:
Mit einer selbstbewussten Haltung in die Verhandlung gehen. Das erreichen Sie durch eine systematische Vorbereitung.
Fähig sein, die wahren Interessen Ihres Verhandlungspartners zu erkennen. Die geschärfte Wahrnehmung für unterschwellige Kommunikationen gewinnen Sie durch die Fallbeispiele in diesem Buch.
Ein Verständnis dafür entwickeln, was Verhandlungserfolge wirklich ausmacht. Dafür finden Sie in diesem Buch hilfreiche Fragen und Tipps, wie Sie Ihre mentale Haltung und Ihre eigenen Reaktionen steuern können – und die Ihrer Verhandlungspartner.
Dies alles sind Verhaltensweisen, die Sie genauso lernen können, wie ich sie gelernt habe – und die auch eher schüchternen oder introvertierten Persönlichkeiten (wie mir) helfen, sich durchzusetzen.
Meine Tipps eignen sich sowohl für Frauen, die mit geschicktem Verhandeln etwas für sich persönlich erreichen wollen – mehr Geld, andere Arbeitszeiten, einen günstigen Autokauf –, als auch für Frauen, die im Auftrag ihrer Firma große Deals einfädeln. Ob Sie angestellt, selbstständig oder Unternehmerin sind, spielt dabei keine Rolle: Jeder kann von diesen Tipps profitieren. Denn sie resultieren aus allgemeingültigem Praxiswissen aus dem realen Leben. Alle Geschichten, die ich erzähle, sind tatsächlich passiert: mir oder Kolleginnen und Kollegen. Zum Schutz der Personen und Institutionen wurden allerdings sämtliche Namen verändert. Das Gute daran ist: Sie können aus den Fehlern anderer lernen – Sie müssen sie nicht selbst machen.
Ich selbst bin keine gewiefte FBI-Verhandlerin oder eine jener Topmanagerinnen, die täglich um Millionen Euro oder Tausende Arbeitsplätze verhandeln. Meine Erfahrungen kommen aus der Welt von mittleren und leitenden Angestellten und aus der von Selbstständigen verschiedener Branchen – aus jenen Lebens- und Arbeitswelten also, in denen ich selbst im Laufe meines Lebens tätig war. Und auch wenn ich mittlerweile an zahlreichen Hochschulen, in Unternehmen und Organisationen Seminare gebe, ist dieses Buch kein wissenschaftliches Werk: Es ist aus der Praxis für die Praxis geschrieben – für Ihre Praxis!
Mein besonderes Interesse gilt dem Verhandlungsverhalten von Frauen. Dies ist dank diverser sogenannter Genderstudien mittlerweile recht gut erforscht. An den interessantesten Forschungsergebnissen werde ich Sie in diesem Buch teilhaben lassen – und auch an Erkenntnissen aus der zeitgenössischen Hirnforschung. Immer insoweit, wie sie zum tieferen Verständnis der Methoden beitragen, die ich Ihnen in diesem Buch vorstelle, Methoden, die ich und meine Kolleginnen und Kollegen in der Alltagsrealität erprobt haben. Sie bekommen in diesem Buch also geballtes Erfahrungswissen.
Dem Lesefluss...